„Cli-fi is a genre“

Meinetwegen hätte Cory Doctorow in seiner Buchempfehlung für „After World“ von Debbie Urbanski ruhig erwähnen dürfen, wie depressiv das Buch ist. Obwohl, „relentlessly bleak“ ist bei Tageslicht betrachtet dann doch deutlich genug. Vielleicht hatte ich das überlesen. Hat dann jedenfalls nicht lange gedauert, bis ich selber drauf gekommen bin. Depressiv.

Ich weiß gar nicht so recht, wovon das Buch handelt, wenn nicht vom Gefühl der inneren Katastrophe, die mit gnadenloser Härte in Form wie Inhalt des Textes angereicht wird. Repitition, Isolierung, Unverständnis, unendlicher Schmerz, der Untergang des Ich. Der Untergang der Welt ist dabei die einzig mögliche Kulisse, aber letztlich eben nicht nur das.

Die Grausamkeit des Menschen gegen alles und sich selbst wird als Kammerstück aufgeführt. Die Erzählperspektive des [storyworker] ad39-393a-7fbc demonstriert dabei beinahe mehr Humanismus als die Menschen selber. Diese Software muss sich vom übergeordneten Prozess emly denn auch fragen lassen: „Why would you want to think like a human being?“. Diese Frage ist wiederum selber eine Antwort. „…is it possible to tell a human story without human suffering, is it possible to tell a human story without the suffering of the world“

Gewiss, „After World“ ist auch Cli-fi. Der Weltuntergang per Klimakatastrophe ist eine ausgemachte Sache, die Apokalypse aber kommt in Form eines Virus über die Menschheit. Ist die Vernichtung Erlösung? Für wen? In gewisser Weise stemmt sich das ganze Buch gegen diese doppelte Zerstörung, einmal der natürlichen Umwelt und einmal der Menschheit selber. Dass kein plausibler Ausweg angeboten wird, ist einzusehen und wohl dem Genre eigen.

Die Beschreibung der inneren Katastrophe ist anscheinend der bislang beste Weg, den kommenden Untergang als die unausweichliche Auslöschung jeder Menschlichkeit zu erzählen und nicht als unterhaltsames Spektakel. Denn dafür haben wir ja schließlich die Tagesschau.

Bild oben: Ein Mural, gesehen im Sommer in einer Unterführung in Jelenia Góra

Welche Ordnung?

Die Textproduktion kennt kein Ende. Grad in Kriegszeiten wird ständig geschrieben. Dafür, dagegen, darüber. Alles in größter Eile, gerne auch in Liveblogs und Tickern, dieser Pestbeulen des Nachrichtenjournalismus, wo regelmäßig Neuigkeiten präsentiert werden müssen, um das Publikum bei der Stange zu halten. Es lohnt sich, nicht nur zum Wohle der eigenen psychischen Gesundheit, sondern auch fürs Erkenntnisinteresse, durchzuatmen und einen Schritt zurückzutreten. Texte lassen sich dann finden, deren Thesen, Beobachtungen und Prognosen mitten im Krieg auch nach ein-zwei Tagen oder gar Wochen und Monaten noch Bestand haben, mindestens interessant, vielleicht sogar dramatisch augenöffnend und nicht einfach nur Buchstabenmüll sind.

Zunächst interessieren mich vor allem, im weitesten Sinne, linke Sichtweisen und Erklärungsansätze. Versuche, sich nicht zu verheddern in den verschiedenen Erzählsträngen der allseits eingesetzten Propaganda. Volodymyr Artiukh, ukrainischer Anthropologe, hilft beim Entwirren in einem Beitrag, der unter anderem bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht wurde. In Richtung der westlichen Linken weist er auf die analytische Schwäche des auf die Nato als einzig agierender Instanz gerichteten Blicks hin. „Daher frappiert mich die verkürzte Weise, in der ihr das dramatische Geschehen in unserem Erdteil öffentlich darstellt, das ihr lediglich als Antwort auf die Umtriebe eurer eigenen Regierungen und Wirtschaftseliten begreift. […] Um Russland herum erwächst eine Realität, die ihren eigenen Gesetzen folgt, eine zerstörerische Realität brutaler Unterdrückung, in der ein Atomkrieg nicht länger außerhalb des Denkbaren liegt.“

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Ein Text von Nelli Tügel befasst sich in der ak mit der nervig-naiven Fixierung einiger Linker auf Völkerrecht und Diplomatie als Allheilmittel (Auge, Gysi). In einem instruktiven Abriss historischer Entwicklungslinien seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird hier Rosa Luxemburg als Kronzeugin für eine politische Analyse und Handlungsfähigkeit jenseits imperialistisch geprägter Gepflogenheiten und Verträge ins Feld geführt. Find ich alles sehr informativ und unbedingt bedenkenswert.

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Was mir ansonsten oft fehlt, sind irgendwie plausible Einschätzungen, was überhaupt das strategische Interesse Putins/Russlands sein könnte. Die meisten Erkläransätze (wenn man sich die Mühe überhaupt macht) lassen sich salopp als „Der Typ ist durchgeknallt“ übersetzen. Das mag letztlich ja sogar stimmen, nur können wir uns dann jede weitere Diskussion sparen und besser eiligst schauen, ob wir nicht doch noch rechtzeitig die alten Atomschutzbunker reaktiviert kriegen.

Es will mir nicht in den Kopf, dass das Handeln einer Person, die sich so lange in so einer Position hält, und des sie tragenden Umfeldes nicht doch einer gewissen Rationalität folgt. Die sollen keine klare Vorstellung einer „win-Situation“ haben und zu Pragmatismus unfähig sein? Zwei Stücke, die sich der Frage aus entgegengesetzten Richtungen annähern und auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, sind bei der WOZ und The New Statesman zu lesen.

Während die russische Dichterin Maria Stepanova mit großer Empathie von der bedrohten, sich selbst behaupten müssenden Seite her spricht, denkt der portugiesische Politiker Bruno Maçães bereits im November letzten Jahres vom Zentrum der Macht her. Stepanova ist der Überzeugung, dass Putins strategisches Ziel die konkrete Unterwerfung der Peripherie unter seine heilsbringende Ordnung ist. Maçães hingegen kommt zu dem Ergebnis, dass Chaos das Ziel der ganzen Operation ist. Chaos zum Zwecke der Stabilisierung der eigenen Macht.

Auf der einen Seite also ein moralischer Kampf „Gut gegen Böse“ der auf ein definitives Finale zuläuft, auf der anderen ein pragmatischer zwischen „Chaos und Ordnung“, der quasi ununterbrochen fortgesetzt werden muss. Ich fände es gut, wenn es mehr Diskussionsbeiträge gäbe, die ebenso informiert und empathisch genau dieses Spannungsfeld beleuchten. Die aus solchen Gesprächen entstehenden Prognosen und Handlungsvorschläge ließen sich jedenfalls ernster nehmen, als diese ganzen Schnellschüsse der hyperventilierenden Liveticker-Westentaschenstrategen.

Nachrichten aus der DRM-Hölle und anderen Abgründen

In der Kurzgeschichte „Unauthorized Bread“ (erschienen 2019 im Band „Radicalized“) beschreibt Cory Doctorow das Elend von Digital Rights Management (DRM) anhand eines Toasters, der nur Brot eines bestimmten Herstellers toastet. Seine Protagonistin hackt das Ding aus unmittelbarer Notwendigkeit und wird so zur Kriminellen. So weit hergeholt ist das nicht, Doctorow weiß natürlich wovon er spricht. „The war on general computing“ ist sein Leib- und Magenthema.

Und in der Realität wird praktische jede seiner Analysen immer wieder bestätigt, und das auf Wegen, die sich der Schriftsteller im Prediger und Aktivisten kaum besser hätte ausdenken können. So hat Doctorow grad die Gelegenheit, sich bei der Electronic Frontier Foundation über den nächsten Gipfel der DRM-Unverschämtheit auszulassen. Nach der ohnehin schon reichlich frechen aber inzwischen achselzuckend als Normalität akzeptierten Herstellerbindung bei Druckertinte versucht ein Produzent von Labeldruckern nun die Benutzung von Papier aus nicht autorisierten (oft deutlich preisgünstigeren) Quellen zu unterbinden. Kann also nicht mehr lange dauern mit den Toastern.

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Proprietäre Systeme können dabei noch viel existenziellere Probleme verursachen. Ebenfalls wie aus einer dystopischen Doctorow-Geschichte kommt ein Bericht bei IEEE Spectrum daher (deutschsprachige Zusammenfassung bei futurezone.at). Ein künstliches Auge hört auf zu funktionieren, weil die Herstellerfirma pleite gegangen ist und es keinen Support und keine Updates mehr gibt. „Hört auf zu funktionieren“ bedeutet tatsächlich, dass die Menschen, die für ihr Augenlicht auf das Implantat angewiesen sind, erneut erblinden. Was der Markt halt so regelt.

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Außerdem interessant: Ein bisschen nerdiges Stück bei Mozilla im Blog über die Frage, warum Links standardgemäß blau daherkommen. Die Screenshots in dem Beitrag haben tatsächlich was nostalgisches für mich. Vermisse ein wenig die Neugier und das Erstaunen die ich in den frühen 90ern mit Computern verband. Achja, Spoiler: Die Frage, „Warum ausgerechnet blau?“ kann bislang nicht abschließend geklärt werden.

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Apropos nerdig, ein Tweet, der mE. recht treffend die unfassbare Repression gegen sexuelle Minderheiten in Texas kommentierte, brachte mich auf den Youtubekanal des Autors. Dort dann mit allergrößter Begeisterung dessen fast 22-minütige Eloge auf einen Dosenöffner und die Lehren fürs Leben, die sich aus dem Gerät und Kontext ziehen ließen, geschaut. Das ist ist nicht für alle Stimmungslagen geeignet, aber wenn man sich drauf einlassen kann, ist es wirklich wundervoll.

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Disclaimer: Selbstverständlich lese ich auch das eine oder andere zum Krieg in der Ukraine. Das jedoch auch nur für mich zu ordnen und vielleicht noch Empfehlungen auszusprechen – soweit bin ich nicht. Und ehrlich gesagt gehen mir die ganzen Bescheidwisser mit ihren geopolitischen think pieces, deren Thesen teilweise schon am Erscheinungstag an den Realitäten zerschellen, mächtig auf die Nerven. Am ehesten kann ich im Moment was anfangen mit Berichten von mir vertrauten Journalist*innen über zB. NGOs, die vor Ort der Zivilbevölkerung zu helfen suchen*. Denn, dass die als erste und am stärksten leidet, ist wohl das einzige was sicher ist.

*(wie zB dieses von Dinah Riese für die taz geführte Interview mit einer Organisation namens Libereco)

Privatstädte, Füh- und Passmann (Bonus Kürbisgulasch)

Dieser Tage nachholend so einiges gelesen. Bitteschön:

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In der Frankfurter Rundschau findet sich eine interessante Recherche von Andreas Kemper zu den Bestrebungen, „Private Städte“, also urbane Räume jenseits demokratisch Übersicht/staatlicher Kontrolle zu schaffen. Kemper geht es dabei vor allem um eine Degussa-Connection und deren Bestrebungen in „politisch vergleichsweise schwachen Staaten“ mit viel Geld entsprechende Gated Communites der besonderen Art einzurichten. Die Rede in diesem Falle ist von Honduras sowie São Tomé und Príncipe.

Das erinnert an ähnliche Pläne ein wenig weiter nördlich. Im Bundesstaat Nevada könnte es demnächst möglich sein, mit genug Geld und Grundbesitz quasi exterritoriale Städte zu bauen, schön mit eigenen Gesetzen und Steuern. Wenn man‘s genau bedenkt ist das eine nur logische Entwicklung. Sich immer wieder aufs neue Politiker*innen kaufen zu müssen, um ein gewisses Maß an Kontrolle über die Stadtentwicklung in bestehenden Metropolen zu haben, ist schließlich ein ziemlich langwieriges Glücksspiel. Die Eigentumsverhältnisse von Anfang klar zu haben, ist da irgendwie ehrlicher.

Ich frag mich nur die ganze Zeit, wo dann eigentlich die Dienstboten der Luxusretreats wohnen werden. Wahrscheinlich in Trailer-Slums vor den Stadttoren. Vielleicht weiß Andreas Kemper ja mehr darüber, immerhin hat er ein Buch zur Sache geschrieben das im März bei Unrast erscheint. Ich bin jedenfalls gespannt.

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Gunnar Decker noch mit einem im Freitag nachgereichten Stück zu Fühmann. Decker geht auf die Hermetik FFs ein, seine Unverkäuflichkeit im goldnen Westen, die Suche nach dem „Eigentlichen“ in der Literatur. Tatsächlich fand ich den bis ins Extreme sich steigernde Kunstbegriff und Anspruch Fühmanns nicht durchweg richtig oder gar einladend. Andererseits muss der Antrieb, immer weiter zu forschen und zu schaffen ja von etwas herkommen, und woher soll ich amplitudenarmer Schlumpf das schon wissen.

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Bei Zeit Online hat Sophie Passmann Tocotronic gewürdigt. Wenn auch weniger die Band, als das ganze Phänomen rundherum. Als entschiedener Nicht-Fan war ich trotzdem sehr angesprochen von dieser humor- wie liebevollen und klug beobachteten Erläuterung. Zum Text meinte K., dass der schon sehr „passmannisch“ sei. Versäumt zu fragen, ob das jetzt was schlechtes ist. Tja.

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Gekocht hab ich auch die Tage, einer Empfehlung aus einem Newsletter folgend. Robin Detjes erbauliche Serie „Lasst uns gemeinsam einen besseren Weltuntergang bauen!“ endete im 5. Teil, versandt am vergangenen Montag, mit dem Link auf ein Kürbisgulaschrezept. Da alle Zutaten* hier vorhanden waren und es eine fixe Angelegenheit ist, gleich mal gekocht. Ich würde beim nächsten Mal gewiss etwas großzügiger salzen gleich am Anfang und die Menge Linsen um vielleicht ein Drittel reduzieren, aber geschmeckt hat‘s ansonsten prima.

*(naja, fast alle, statt Rotweinessig Balsamico genommen und statt Gemüsesuppe Kalbsfond und weil der Majoran hier jahrelang stiefmütterlich vor sich hindiffundierte, lieber noch etwas Rosmarin nachgelegt)

Kunstmarkt, Eigenverantwortung und das Ende des Schiffbaus

Drei Texte, gelesen in den letzten Tagen, einmal Erläuterungen zum sich wandelnden Kunsthandel, ein schöner Rant über die Individualisierung der Pandemiehölle und ein guter Überblick zur Deindustrialisierung in den osteuropäischen Transformationsgesellschaften.

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Ingo Arend in der Süddeutschen Zeitung mit einem instruktiven Überblick über den Kunstmarkt (nicht im übertragenen, sondern genau im ökonomischen Sinne) und dessen pandemiebedingt beschleunigten Wandel hin zu einer digitalen, plattformbasierten, reichlich intransparenten Angelegenheit. Bei der setzen sich wenige big players gegen die kleinen Galerien, aber auch gegen traditionsreiche, aber unbeweglichere und letztlich auch kapitalschwächere Messen durch. Klingt irgendwie bekannt, oder? Eine vergleichende Untersuchung zu den Transformationsprozessen anderer Branchen mit denen „in der elegantesten Spielhölle des Kapitalismus“ würde ich, zB von Arend, auch als Buch lesen.

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Apropos Buch, „Die schlechteste Hausfrau der Welt“ habe ich immer noch nicht gelesen, was unter anderem daran liegt, dass ich das Werk noch nicht mal gekauft hab. Das wird aber noch, versprochen. Jedenfalls hat Jacinta Nandi in der ak den Blick auf Versagen und Vorwurf als mögliche Ausdrucksformen des deutschen Nationalcharakters geworfen, in der Pandemie zumal. Ich fühle mich abgeholt von dem Text, vielleicht auch ein bisschen erwischt, auf jeden Fall aber gut unterhalten. Und das ist mir wichtig, auch in den Flugschriften des Klassenkampfes. Denn wenn ich nicht lachen kann, ist es nicht meine Revolution. Basta.

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„Von Anerkennung und Respekt kann man bekanntlich keinen Lebensunterhalt bestreiten.“ – Schön gesagt, und zwar in einem Stück zum Ende der Werften in Mecklenburg-Vorpommern von Philipp Ther bei Zeit Online. Der Historiker schlägt einen weiten Bogen, der die kulturelle, wirtschaftliche und politische Bedeutung des Schiffbaus im Ostblock ganz interessant zusammenfasst. Auf so engem Raum einen solchen Überblick anzubieten, das muss man erstmal hinbekommen.

Für mich waren die entsprechenden aktuellen Nachrichten ein wenig déjà-vu. Anfang der Neunziger war die Deindustrialisierung des Ostens schließlich das lebensbestimmende Thema, wenn man da aufwuchs, nicht wahr. Die Symbolkraft der Werften (und des industriell betriebenen Fischfangs) lässt sich gar nicht überschätzen für den Nordosten. Gingen mit der wirtschaftlichen Einebnung der Kerne, ihrer Zulieferer und Weiterverarbeiter ja nicht nur ganz materiell Arbeitsplätze, also Einkommensoptionen für unglaublich viele Menschen verloren, sondern auch deren Lebensperspektive neben der Maloche. Auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, macht eben ganz schnell nicht nur ökonomisch arm.

Es ist drei Jahrzehnte später vielleicht schwer vorstellbar, wie unfassbar trostlos das alles war damals. Selbst der Protest von Belegschaften, mit ihren Betriebsbesetzungen und allem, war am Ende dann doch immer nur vorhersehbar aussichtslose Folklore. Das kommt in so nem Text wie dem von Ther ein bisschen knapp und unterkühlt rüber (was ich jetzt überhaupt nicht als Vorwurf meine, nebenbei).

Mittelschicht und Meckerei ohne Links

Zwei Texte, gelesen in den letzten Tagen. Einer über die geile, actionreiche Debatte um die Mittelschicht als etwas verschwommen definiertes Ideal. Und einer über die ach so böse, böse Technik, die uns alle zu Zombies macht.

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Nils C. Kumkar und Uwe Schimank reflektieren beim Merkur den großen Erfolg der Gesellschaftsanalyse von Andreas Reckwitz in „Das Ende der Illusionen“ und lassen es gleich am Anfang ordentlich knallen: „Reckwitz prägt also nicht deshalb die Debatte, weil seine Diagnose »stimmt«, sondern weil sie »passt«.“ Es wird von den beiden statt dessen nämlich eine erhebliche Differenz zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und gesellschaftlicher Selbstbeobachtung angenommen.

Kumkar und Schimank kritisieren die Beschreibung der Mittelstandsgesellschaft als dominantes nicht nur von Reckwitz idealisiertes Selbstbild, weil sie empirisch so gar nicht (mehr) existiere. Die beschriebenen gesellschaftlichen Bruchlinien gäbe es nicht, weil die von Reckwitz vorausgesetzte Sortierung in „alte“ und „neue“ Mittelklasse allein schon die Differenzen innerhalb der als weitestgehend homogen angenommenen Blöcke völlig außer acht lasse. Die durch so viele politische Lager rezipierte Analyse könne demnach überhaupt nicht zur soziologischen Durchdringung möglicher gesellschaftlicher Spaltung herangezogen werden. Jedenfalls nicht, wenn man an faktischer Realität bleiben wolle.

Nun hab ich den Reckwitz gar nicht gelesen (er liegt hier irgendwo rum, auf einem virtuellem Turm des vernachlässigten Wissens), die Kritik ist mir aber lustigerweise sofort plausibel, zugegebenermaßen sicher auch deshalb, weil sie im wesentlichen dem Hassblock gegen die vermeintliche Identitätspolitik das eine oder andere Argument zu entziehen scheint. Ob sie nun aber mehr auf die Gläubigen als den Propheten zielt, oder gar beide gleichermaßen trifft, überlasse ich zunächst den Beleseneren.

Erinnert hat mich das ganze jedenfalls an die einzige Veranstaltung, der ich in meiner Freizeit, wenn die Erinnerung mir keinen Streich spielt, in den letzten 12 Monaten live in einem geschlossenen Raum beiwohnte. „Mythos Mittelschicht“. hieß die (die Aufzeichnung hat leider in der ersten Stunde einen ganz beschissenen Ton). Dort versuchten die Gäste Volkan Ağar, Julia Friedrichs und Mareice Kaiser das Problem mit dem Selbst- und Idealbild der gesellschaftlichen Mitte einzukreisen.

Die Kombination aus den dreien war an sich ganz konstruktiv, wenn auch durch schwache Moderation nicht so richtig zusammengeführt. Friedrichs zB mit dem sehr nützlichen Beharren auf einer sauberen Empirie, besonders hilfreich dabei der Hinweis darauf, dass die Einkommensmittelschicht messbar an Bedeutung verliere und vererbbares Vermögen immer entscheidender für nachhaltige Mittelklassenzugehörigkeit werde. Kaiser und Ağar dagegen mit dem auch in vielen ihrer Texte herausklingenden Balanceakt, die eigene Ausgeschlossenheitserfahrung nicht einfach nur als erbauliche Geschichte individueller Auseinandersetzungen und Aufstiege, sondern im größeren Zusammenhang der allgegenwärtigen ökonomischen Unterdrückung zu erzählen.

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Eine Sache die mich ein wenig genervt hat während und dann auch noch nach dem Lesen war ein Vorabauszug aus einem Buch beim Guardian. Um gestohlene Aufmerksamkeit geht es da, wie die Internetkonzerne unseren Fokus zerstören und welche schlimmen neurologischen und kognitiven Folgen das hat. So weit so schnarch. Normalerweise lese ich derartiges gar nicht erst vertieft, weil solche Aufsätze einfach zu oft von Unkenntnis und Ressentiments und einem furchtbar langweiligen Kulturkonservatismus geprägt sind. Jedoch war der Icherzähler schon beim Einstieg ein so unterträgliches Arschloch, das zB den Versuch beschreibt, seinem unaufmerksamen Neffen das Telefon aus der Hand zu schlagen und zwar einsieht, dass das Kind keine Schuld trage, aber der Autor sich überhaupt nicht für den eigenen autoritären Impuls zu schämen scheint, also so ein unglaubliches Arschloch, dass ich nicht so recht aufhören konnte, weil ich einfach wissen musste, was der noch für einen Mist fabriziert.

Dann wird das ganze aber sogar ganz interessant, mit Bezügen zu wissenschaftlichen Studien und insgesamt nicht unklugen Beobachtungen, allerdings, und sowas ärgert mich wirklich, ohne Links im Text zu irgendwelchen Quellen. Dafür lauter Angebereien, wohin der Autor nicht alles geflogen war, um mit irgendwelchen Koryphäen zum Thema zu plaudern. Ich mein, auch wenn es ein Buchauszug ist: Es ist 2022, und es steht auf einer Webseite. Wo ist das Problem, verdammtnochmal Links zu setzen? Oder stört das den Fokus auf den Text?

Egal, denn als ich dann mehr über den Autor erfahren wollte, musste ich lernen, dass der, Johann Hari, schon mehrfach wegen schwerer Verfehlungen gegen journalistische Berufsethik auffällig geworden ist. (Plagiate, noch mehr Plagiate, hinterhältige Kampagnen) So jemand hätte die Links zu seinen Quellen mit dem Text bei mir in der Redaktion gleich mitliefern müssen, wenn ich schon die etwas seltsame Entscheidung treffe, Werbung für ihn zu machen.

Aber was soll‘s, so wird der Turm noch zu lesender Bücher mit diesem nicht höher gemacht, bleibt mehr Zeit für Andreas Reckwitz, nicht wahr.

Drei #rc3-Talks, die ich besonders informativ fand (und die mich fachlich nicht total überfordert haben)

Ein paar Sachen stehen noch auf meiner Liste. Bei denen die ich bisher sah, hab ich zu den folgenden tatsächlich Notizen gemacht, weil ichs so spannend fand. Einmal Pandemie-Management, einmal bissel Cyborg-Grusel und einmal digitale Souveränität (nicht das mit dem Nationalstaat, sondern das mit dem Individuum :).

Diagramm einer Versuchsanordnung mit verschiedenen Digitalen Stationen, in deren mitte ein stilisierter Hacker
Liebe diese Darstellung eines Hackers in den slides von „Listen to your heart“

Bianca Kastls Vortrag „Digitalisierung. In einer Pandemie. Im Gesundheitsamt!“ ist allerorten zitiert, der am häufigsten gestreamte Beitrag und mir auch zigmal auf Twitter in die Timeline gespült worden. Die Vortragende kam in der Diskussion um die Luca-App schon im Laufe des vergangenen Jahres zu einiger Prominenz über die Techbubble hinaus. Das Thema brennt einfach.

Neben auch für interessierte Laien verdaulichen konkreten technischen Erläuterungen, inklusive einiger vernichtender Anmerkungen zur Luca-App, finde ich vor allem den abstrakten Rahmen des Talks sehr instruktiv. Kastl steigt nicht zufällig mit dem Hinweis ein, dass es sich um einen „Meta-Talk“ handele. Denn tatsächlich lassen sich aus den Erfahrungen der Zusammenarbeit zwischen Verwaltung und digitalen Expert*innen, wie sie hier geschildert werden, eine Menge wichtiger Lehren ziehen.

Allein die rhetorisch gestellte Frage, ob es im Prozess der Digitalisierung der Datenerfassung von Gesundheitsämtern bis RKI nun darum gehe, einen möglichst schnellen aktuellen Überblick zu bekommen oder die bestehende Verwaltungsstruktur digital nachzubauen, verweist überdeutlich auf eines der grundsätzlichsten Verständigungsprobleme zwischen analoger und digitaler Welt. Ein befreundeter Journalist nannte diesen Effekt der „Elektrifizierung des Bestehenden“ für seinen Bereich gelegentlich „Printernet“.

Dabei ist diese Unbeweglichkeit gegenüber dem Rationalisierungspotential der Digitalisierung üblicherweise nicht einmal böswilliger Natur, sondern einfach nur Ausdruck von Unkenntnis und einer gewissen Lernträgheit, die anscheinend wenigstens teilweise überwunden werden konnte angesichts der besonderen Herausforderungen der letzten zwei Jahre. Letztlich nicht einmal so lange, diese Zeit. Die geschilderten Erfahrungen sind zum größten Teil nicht einmal 12 Monate alt und doch klingt es völlig angemessen, wenn Kastl den März 2021 „damals“ nennt.

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Sehr viel technischer, zumindest im ersten Teil, ist der Vortrag „Listen to Your Heart“ über die Sicherheit moderner Herzschrittmacher und anderer per Funk gesteuerter und ausgelesener Implantate von Endres Puschner und Christoph Saatjohann. Knapp gesagt gibt/gab es hackbare Lücken an den Geräten und Kommunikationswegen. Inwieweit realistischerweise hier Manipulationen stattfinden werden, bleibt unserer Phantasie überlassen. So halb beruhigend stellt Puschner fest, dass veränderte Daten im Zweifelsfall einer zwischengeschalteten medizinischen Fachkraft auffallen müssten. Na, bon chance. Im zweiten Teil des Talks berichtet Saatjohann von testweisen DSGVO-Abfragen für Daten, die in rauen Mengen bei diesen Geräten anfallen, und es ist, kurzgesagt, ein Trauerspiel. Ganz offensichtlich ist der Aufholbedarf bei den Patient*innenrechten gewaltig.

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Nicht uninteressant auch das Podium „System Change mit Instagram?? Social Media und die Zivilgesellschaft“ wo Vertreter*innen der üblichen Verdächtigen aus der Klimabewegung mit Netzaktiven in einer Art konstruktiver Ratlosigkeit über das Dilemma der großen Reichweiten auf Scheißplattformen reden. Schön fand ich padeluuns (Digitalcourage) gewissermaßen selbstkritischen Verweis auf jahrzehntelanges „Nerdversagen“, die Unfähigkeit also, alternative, hinreichend attraktive Plattformen zur Kommunikation im Netz zu etablieren. Obwohl man da wahrscheinlich nicht den gewaltigen Sog außer Acht lassen darf, den Venture Kapital auf das quafilizierte Personal nunmal hat. Wer eine Idee hat die funktioniert, kann die halt auch teuer verkaufen. And why wouldn‘t you, dachten sicher viele unterwegs.

Die Verantwortung der reichweitenstarken Klimaorganisationen für einen system change auch in der digitalen Welt wurde betont, also Leute gezielt zu den Alternativen ziehen. Mir erschien der vorsichtige Einwand von Pauline Brünger (FFF) ganz bedenkenswert, dass es da vielleicht eine Analogie zwischen der (in die Irre führenden) Individualisierung der Verantwortung für die Klimakrise (iss vegan, flieg nicht usw) und der für eine Bewältigung des Problems mit den Großkonzernen im Netz (mach Facebook aus und Google auch usw.) gibt.

Mir war das zu kurz, aber zum Glück kümmert sich Bits und Bäume ja weiter um das Thema. Der eigenverantwortlichen Vertiefung steht also nichts im Wege. Wenn ich mich jetzt nur an mein Mastodon-Login erinnern könnte. Bin mir ziemlich sicher, mal eins gehabt zu haben… Naja.

Update: Mastodon-Login gefunden! https://mastodon.social/@abgelegt

Kunst, Kabale, Katholizismus

Georg Seeßlen bei Zeit Online mit einem sehr erbaulichen (und sehr ausführlichen) Text zur Wirklichkeitsproduktion im Film unter besonderer Beachtung der technischen Entwicklung und Digitalisierung und die bislang gerade der perfekten CGI gesetzten Grenzen. Veränderte Sehgewohnheiten, die technologische Dehn- und Beugbarkeit von Raum und Zeit nimmt S. zum Ausgangspunkt, um über die mögliche Zukunft des Mediums zu spekulieren. Den ökonomischen Rahmen im Bewusstsein ist dieser prophetische Blick recht pessimistisch geraten.

Besonders faszinierend für mich (cineastisch ziemlich ungebildet) war beim Lesen übrigens ein Nebenaspekt relativ am Anfang, die Erläuterung eines Unterschieds zwischen dem „ich sehe“ und „wir sehen“ nämlich, eines Glaubensgefälles das entsteht zwischen Filmkonsum allein daheim und dem im Kino. Frage mich nun, ob in der unbewussten Wahrnehmung dieses Unterschieds einer der Gründe liegt, dass ich, obwohl gerne und oft Filme schauend, nie ein sonderlich enthusiastischer Kinogänger war.

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Auch sehr lesenswert ein langes Stück von Dirk Ludigs bei queer.de, zum Scheitern eines queeren Kulturhauses in Berlin. Selbst ohne persönliche Bekanntschaft mit Beteiligten an diesem Desaster ist das ganz interessanter Stoff über transfeindliche Kabale, hartleibige Arroganz, Spekulation auf Fördergelder und überhaupt die berühmte Berliner Mischung aus Planlosigkeit, Unfähigkeit und Selbstzufriedenheit.

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Ganz toll Stefan Hunglinger in der taz mit einer Reportage über das erzreaktionäre, rechtskatholische Milieu in Berlin, „fernab von chaotisch-bunten Familiengottesdiensten, von zeitgenössischer Theologie und der allgegenwärtigen Naturwissenschaft“. Die gute alte Zeit, die jene sich zurückwünschen ist schon etwas länger her und es gruselt einen nur daran zu denken, dass es nicht nur gänzlich abseitige und einflusslose Spinner sind, die sich da Oblaten auf die Zunge legen lassen.