Wer wen überlebt

9.000 Kirschbäume wurden ab 1990 mit Spenden aus Japan rund um Berlin gepflanzt, gut 1.000 davon auf oder am alten Mauerstreifen. In Treptow an der Kiefholzstraße findet sich so ein Stück Kirschblütenweg und es ist wirklich beeindruckend. Umittelbar vor den Osterfeiertagen brachen die Blüten auf.

Ich finde die Geste immer noch schön, ein Stück lebendiges Japan zu verschenken. So eine Art Freiheitsstatue, aber ohne die Fackel und den ganzen Bombast. Klar, das war damals die Promoaktion eines Fernsehsenders, wer weiß, was da die unmittelbare Marketinghoffnung war. Aber was bleibt, ist doch was ganz ansehnliches. Da picknicken Leute drunter und dann posten sie Bilder von Blüten in ihre Social-Media-Feeds. Schöne Nachhaltigkeit.

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Man hört dieser Tage mal wieder von JK Rowling. Einerseits wird ihre Buchreihe neu verfilmt. Andererseits ist sie Teil der medialen und juristischen Kampagne zur Delegitimierung von Transpersonen. Und diese Kampagne hatte grad was zu bejubeln mit dem Urteil des britischen Supreme Court, der Geschlecht per Beschluss biologistisch und somit als binäre Kategorie definiert.

Die Schriftstellerin, die durch die Bücher über eine Internatsschule für Zauberer und Zaubererinnen (auf keinen Fall Zauberer*innen oder Zauberer:innen, wie wir jetzt wissen) zur Multimillionärin wurde, feiert mit Zigarre und Spritz ihren Erfolg auf dem Weg, eine ohnehin marginalisierte Gruppe Menschen, mit aller Gewalt zurück in ihre prekären Nischen zu verdrängen. Ordnung muss schließlich sein. Wer hätte gedacht, dass die Autorin sich aus ihrem eigenen Werk ausgerechnet Dolores Umbridge zum Vorbild nehmen würde.

Achja, das Werk…

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Ursula K. Le Guin wurde 2005 vom Guardian zu Rowling befragt. Die Idee, dass auch in den Welten der Fantasyliteratur eine Art Ausbildung für Magie integriert werden sollte, kam ja schon recht ausführlich in der initialen Earthsea-Trilogie (rund um 1970) vor. Le Guin sieht nachvollziehbarerweise kein direktes Plagiat, wie einige ihrer Fans, zeigt aber deutliches Unbehagen mit Rowlings Schweigen, wenn es um Fragen literarischer Traditionen und Herkünfte geht.

Auch an anderer Stelle macht Le Guin den großen Abstand nochmals deutlich: “Her book, in fact, could hardly be more different from mine, in style, spirit, everything.” Sie kritisiert aber nochmals, dass Rowling so tut, als gäbe es keine Herkunft, keine Vorgänger(*innen, sry). Besonders hart im Guardian: “She has many virtues, but originality isn’t one of them.”

Allerdings frage ich mich seit ich dieses Zitat kenne und “A Wizard of Earthsea” gelesen habe, was wohl die virtues, die Tugenden also der JK Rowling jenseits nicht vorhandener Orginalität sein sollen. Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, Fantasie und Begabung zu Charakterentwicklung oder Storytelling scheinen nicht dazuzugehören. Jedenfalls nicht im Vergleich zu Le Guin.

Die Earthsea-Bücher tragen uns, soweit wir uns denn auf das Genre einlassen wollen, zum Kern des Menschseins. Sie zeigen, dass die größten Auseinandersetzungen in der Regel gar nicht mit äußeren Antagonist:innen, sondern im Inneren des Selbst stattfinden. Schon allein deshalb, weil der “Feind” viel schneller erkannt werden kann als das “Ich”. Le Guins Geschichten bieten Auswege an, die keine Siege sind, sondern ein Verstehen.

“I know that there is only one power that is real and worth the having. And that is the power, not to take, but to accept.” – Ich weiß, dass es nur eine Kraft gibt, die wirklich und es wert ist, sie zu haben. Und das ist die Kraft, nicht zu nehmen, sondern zu akzeptieren.

Bisschen viel Tao für einige vielleicht, aber tausendmal besser, als die Bonbon-Bürokratie der Potter-Bücher, wo am Ende alle Jungs ihre Mädchen bekommen und das bei Geburt zugesprochene Geschlecht nebst zugehöriger Organe artig durchs Leben tragen. Irgendwie lustig auch, dass man sich zwar einen Bahnsteig zwischen 9 und 10, aber kein Geschlecht jenseits von 0 und 1 vorstellen kann.

Als Leser jedenfalls gestatte ich mir davon auszugehen, dass Le Guins Ged aus Earthsea nicht nur seine Schöpferin lange überleben wird, sondern auch Harry Potter und JK Rowling. Letztere verkauft halt ein Buch über einen Jungen, der auf eine Zauberschule geht.

Ursula K. le Guin aber hat vom wirklichen Leben geschrieben. Das ist doch auch was schön Nachhaltiges.

im Bild oben: Hanami in Treptow

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Sozialistischer Realismus

Chemnitz ist keine sonderlich schöne Stadt. Das „sächsische Manchester“ muss ja schon in seiner Blütezeit mehr nach Industriearbeit, denn nach Lustwandelei ausgesehen haben und das soll jetzt keine unberufene Romantisierung proletarischer Lebenswelten einleiten. Grönemeyer mochte, wie wir wissen, sein Bochum ganz besonders „vor Arbeit ganz grau“. So warm sind meine Gefühle hier nicht, auch wenn Chemnitz ein Ort meiner Kindheit ist, wahrscheinlich aber kein entschieden prägender.

Meine Erinnerung ist die an eine Brache in der Mitte der Stadt. Das war eine auch in den 1980ern noch unübersehbare Kriegswunde, die nach der Wiedervereinigung denkbar hässlich überbaut wurde durch ein riesiges Parkhaus nebst Einkaufzentrum. Der früher etwas verloren herumstehende, von der fast völligen Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg verschont gebliebene Rote Turm, ist nun zweiseitig von höher aufragenden Wänden der neu erbauten Shopping-Mall umschlossen.

Stehen geblieben nach 1990 ist noch der zentrale Bau aus der DDR, der Stadhallenkomplex und gegenüber der Nischel, wie die Einheimischen den riesigen kupfernen Kopf des zwischenzeitlichen Namenspatrons der Stadt, Karl Marx, auch schon in meiner Kindheit nannten. Die Stadthalle zeigt derweil außen wie innen recht kühne Modernität. Ganz schön monumental, aber durchaus einladend dabei. Das rötliche, aus der Gegend stammende Gestein der Verkleidungen (für Geologieinteressierte: Rochlitzer Porphyr) gibt einen freundlichen rötlichen Grundton. In und um den Bau finden sich einige Kunstwerke, die auch in meinen Schulbüchern besprochen wurden. Das vielleicht bekanntest davon ist Fritz Cremers Galilei.


Bockwurstgeruch begrüßte mich im Foyer, als ich nach einem langen und sehr lehrreichen Tag bei den Chemnitzer Linuxtagen zum Kulturprogramm mit der Familie eilte: Konzert des Sächsischen Sinfonieorchesters Chemnitz e.V. Für mich war das eine Premiere, hatte ich bis zu diesem Abend doch noch kein Amateurorchester spielen hören. Das Programm: Gassenhauer. Rossinis Tell-Ouvertüre (die ganze, nicht nur der Schunkelteil am Ende) rummste ordentlich, dann Klavierkonzert Nr. 1 von Tschaikowsky. Das getragen vor allem von der zugebuchten Solistin. Dann Pause und etwas Angst vor Beethoven 5 im zweiten Teil des Konzerts.

Tatsächlich war der Kopfsatz recht breiig dahingemetzelt, aber irgendwie wurde es ab dem zweiten dann doch besser. Mit drittem und viertem Satz schien das Zusammenspiel dann schließlich wieder erbaulich zu sein. Und während der ganzen Zeit und noch lange danach versuchte ich zu verstehen, warum. Offenbar habe ich da eine kognitive Dissonanz. Beethoven, die Sinfonien zumal, ist nichts für Amateure? Dabei sollte ich genau das doch großartig finden, was ich da gesehen habe, den Zugang zur hohen Kunst vorbei an Geniekult und Perfektionismus.

Schon während des Konzerts der Gedanke, dass die auf der Bühne den Beethoven erleben, wie ich es gar nicht könnte. Nicht einfach nur konsumieren, selber heranwagen, im Zweifelsfall scheitern. Auf jeden Fall mittendrin. Später dann, weil es mich nicht loslässt, erweitert sich das um die Überlegung, dass Aneignung eben auch delegiert erfolgen kann. Das geschieht aber nur dann überzeugend, wenn die Proxies nahbar sind; mir ebenbürtig.

Wenn das glaubwürdig gelingt, wird Spezialisierung oder Arbeitsteilung vom Trennenden zum Verbindenden. Die da oben sitzen, tun das nicht, weil sie etwas besseres sind, sondern weil sie das Beste unseres Gemeinsamen präsentieren. Dann bin ich nicht mehr einfach nur passives Publikum, sondern Teil der Aufführung. Mag sein, dass das Orchester in der Chemnitzer Stadthalle gar nicht „besser“ wurde im zweiten Satz der 5. Sinfonie. Eventuell habe ich nur einfach besser zugehört. Anders. Teilnehmend. „Wer wohnt schon in Düsseldorf…“ Ja, danke Herbert.

im Bild oben: Blick auf die Bühne der Stadthalle Chemnitz

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Wir sind alle nur menschlich

Nach Durchsicht alter Lesebühnentexte habe ich immerhin einen gefunden, der die wenig glorreiche Rostocker Jugend zum Thema hatte. Circa 2003 also, mit vielleicht zehn Jahren Abstand (plus die knapp 250 km zwischen Lichtenhagen und Friedrichshain), habe ich da auf ein paar Lacher kalkuliert. Warum auch nicht. Nachfolgend dokumentiert der Versuch, eine (in der Sache tatsächlich komplett wahre) eher traurige Geschichte bühnentauglich zu machen.

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Erich Honecker schaute mir auf den Teller. Erich Honecker. Mit seinen gütigen Augen, die Lippen umspielt von einem milden Lächeln, schaute er mir auf den Teller. Es gab Milchreis. Das war nichts besonderes, in der Schulspeisung gab es oft Milchreis. An der Essensausgabe stellten sie dir den Teller hin, du gingst zu deiner Hortgruppe und setztest dich. Auf dem Tisch standen zwei Schüsseln, in denen je ein Löffel steckte. Einmal Zimt, einmal Zucker.

Zucker sollten wir schön viel nehmen auf den Milchreis. Überall sollte man sparen, bloß nicht beim Zucker. Der kam aus Kuba. Davon mussten wir ganz viel essen, um den Weltmarktpreis zu stabilisieren und so dem kleinen Bruderland kameradschaftlich unter die Arme zu greifen. Obwohl Zucker ja gar nicht gut ist für die Zähne.

Das war immer ein munterer Schlagabtausch im Politbüro, wenn die Ökonomen mit den Verantwortlichen für die Volksgesundheit diskutierten:
„Unsere Menschen müssen mehr Zucker essen, um dem Klassenfeind die Zähne zu zeigen!“
„Der Genosse Ökonom meint wohl die von Karies zerfressenen Restposten in den fauligen Mäulern unserer Menschen?“
„Ah, da hört man doch gleich wieder den Zynismus des Genossen Volksgesundheitlers. Es mangelt ihm anscheinend an der Fähigkeit, die Prioritätensetzung der Partei zu erkennen.“
„Und dem Genossen fehlt es anscheinend an Respekt vor der großen Aufgabe, die Volksgesundheit zu gewährleisten.“
„Der Genosse hat wohl schon die Zeit seines Urlaubs in Sibirien vergessen?“

Jener Genosse schwieg daraufhin und so aßen wir jede Menge Zucker. Mit Erfolg, wie ich sagen darf, zehrt Fidel Castro doch noch immer von unserem damaligen Zuckerverbrauch. Und selbst noch das kapitalistische westdeutsche Gesundheitssystem haben wir mit unseren kranken Zähnen inzwischen an den Rand des Kollaps‘ gebracht.

Gütig lächelt Erich Honecker zu allem. obwohl er bestimmt nicht mehr in meiner alten Schulspeisung hängt, wie er es damals tat, als er noch darauf zu achten hatte, dass ich mein Essen nicht gegen Matchboxautos an Sören Wagner verschacherte. Sören war der unbegabte Sproß einer Stasi-Familie und hatte vor allem einen Hang zu Hunger und Fettleibigkeit geerbt. Eigentlich ein ganz netter Kerl, den ich im Rahmen einer Pionierpatenschaft betreute. Wir machten zusammen Hausaufgaben.

Zumindest daran, dass er den Wechsel von der fünften in die sechste Klasse schaffte, war ich mitschuldig. Sören hat mir das nie vergessen. Auch nicht als herausragender Nazischläger, der er später war. In der Betonburg, die mir den größten Teil meiner Kindheit und Jugend Heimat war, galt ich dann als sein persönliches Haustier und das kam so:

Eines gar nicht so schönen Tages, ich war gerade auf dem Weg zur elterlichen Wohnung, trat mir so ein Lümmel, samt seiner 12 (in Worten: zwölf) Kumpanen in den Weg und informierte mich, dass er gehört habe, es gebe hier noch einen Linken. Ich heuchelte Entsetzen und brabbelte irgendwas von wegen, dass das ja wohl nicht die Möglichkeit wäre, und wo der wohl herkäme, dieser Linke.

Mit einem reichen Erfahrungsschatz versehen, wusste ich natürlich, worauf das alles hinauslaufen würde. Und, wie konnte es anders sein, unterbrach mich der Wegelagerer unwirsch und meinte, dass er gehört habe, dass ich dieser Linke sein soll.

Tja, wie soll man sich da rauswinden, vor allem wenn dafür angesichts der ersten schon niedersausenden Schläge, gar keine Zeit bleibt. Weglaufen wird auch ungemein erschwert, wenn man erst einmal am Boden festgehalten wird. Nun, ich will gar nicht groß auf die Einzelheiten eingehen. Schon allein deshalb, weil ich mich noch am selben Tag kaum an irgendetwas erinnern konnte.

Die Sache hatte aber ein ungewöhnliches Nachspiel. Sören Wagner, zu der Zeit schon mit einem recht gefestigten Ruf als Anführer einer üblen Nazibande versehen, bekam von meiner Abreibung Wind und beschloss darauf hin, dass so etwas in seinem Revier aber nicht ginge. Er erkundete also, wer da über die Stränge geschlagen hatte und klärte den Rädelsführer auf gewissermaßen familiäre Weise über die informelle Ordnungsstruktur des Stadtteils auf.

Die Blutspur auf der Straße war noch Tage später zu sehen. Auch im Haus. Meinem Haus. Dahin schleifte der gute Sören sein Opfer, also meinen Täter, nämlich, um uns einander vorzustellen. Ich weiß nicht, für wen die Situation unangenehmer war. Also, rein körperlich natürlich für den anderen. Aber auch ich fühlte mich ein wenig gedemütigt, als Sören uns, na, ich sag mal: bat, einander die Hände zu geben.

„Und du, Tobias, du entschuldigst dich jetzt, danach reden wir weiter.“ Mit Panik in den Augen entschuldigte sich Tobias bei mir. Das wäre wahrscheinlich ein guter Moment gewesen, um Gnade für ihn zu bitten. Und manchmal denke ich, dass ich das im Interesse meines Seelenheils auch hätte tun sollen.

Aber was soll ich sagen – wir sind alle nur menschlich.

im Bild oben: Erich Honecker, wie er überlebensgroß in meiner Schulspeisung hing (Bild rechtefrei aus dem Bundesarchiv)

Schulden

Auf der Berlinale den Film „Die Möllner Briefe“ gesehen. Es geht dabei um die Geschichte von hunderten Beileids- und Solidaritätsbekundungen für die Opfer und Hinterbliebenen der Anschläge vom 23. November 1992. Mehr als 27 Jahre lagen die Briefe bei der Stadt Mölln und nur durch einen Zufall erfuhr die Familie Arslan von deren Existenz. Der Film begleitet vor allem Ibrahim Arslan, der als 7-jähriger von seiner Großmutter Bahide Arslan in ein nasses Handtuch gewickelt unter dem Küchentisch überlebte, dabei, wie er ausgewählte Absender*innen besucht, wie er die Verbindung hält zu den Familien die im Haus Ratzburger Straße ihre Existenzen und Wohnungen verloren hatten und wie er mit der Ignoranz deutscher Behörden umzugehen gelernt hat.

Zu sehen, wie präsent das Trauma mehr als 30 Jahre nach dem Verbrechen für die Familie ist, für die überlebenden Geschwister, die Mutter – das ist kein einfacher Stoff. Der Film ist dabei nicht voyeristisch, vermeidet auch die Ästhetisierung des Leids. Aber er ist schon sehr dicht dran.

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Ebenfalls mit den Hinterbliebenen rechtsextrem motivierter Morde beschäftigt sich „Das deutsche Volk“, der auch auf der Berlinale Premiere hatte. Darin gibt es eine Szene, in der Emiş Gürbüz, Mutter des am 19. Februar 2020 ermordeten Sedat Gürbüz, während einer ermüdenden Diskussionen mit Offiziellen aus Hanau, irgendwann abwinkend meint, dass man die Stadt ja vergessen könne. Daraus strickt einer der Verantwortlichen ihr gegenüber den Vorwurf, sie hätte gesagt, dass sie Hanau hasse, wie sie ja auch Deutschland hasse.

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„Sie müssen doch auch sehen…“

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„… auch nicht einfach für uns …“

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Als das in Hanau passiert ist, hat mich die Stadt Hanau angerufen und gesagt: »Wie können wir denn solidarisch und respektvoll mit den Betroffenen in Hanau eine Gedenkveranstaltung organisieren?« Ich habe gesagt: »Wieso fragen Sie da nicht die Betroffenen aus Hanau?« Ibrahim Arslan im Interview mit ak, 15.11.2022

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Die taz berichtet, dass die Hanauer Stadtregierung unzufrieden mit der Führung der Hinterbliebenen, insbesondere von Emiş Gürbüz, sei. Die hatte auf der diesjährigen Gedenkveranstaltung die Kritik an der Stadt Hanau erneuert. Außerdem soll sie auf der Premiere von „Das deutsche Volk“ gesagt haben, sie hasse Deutschland, Hanau und den Hanauer Oberbürgermeister.

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„…bei allem Verständnis für die Trauer…“

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Ibrahim Arslan hat über die Jahre wiederholt darauf bestanden, dass im Zentrum der Erinnerung an Mölln die Opfer und deren Angehörige stehen müssten, dass sie nicht Statisten einer offiziellen Inszenierung sein könnten. (siehe auch: Möllner Rede im Exil)

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Die [Hanauer] SPD-Fraktionsvorsitzende Ute Schwarzenberger erklärte zudem, sie wünsche „Frau Gürbüz die Kraft, ihren Hass zu überwinden, um sich künftig respektvoll zu äußern“. aus dem taz-Beitrag.

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Respekt

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Teil der Ausstellung „Three Doors“, 2022 im Frankfurter Kunstverein, die sich unter anderem mit den rassistischen Morden von Hanau befasste, der unmittelbaren Verantwortung von Polizei und Stadt, den Ermittlungsfehlern und Nachlässigkeiten, den Folgen des alltäglichen Rassimus, waren Videostatements der Hinterbliebenen im Raum der Initative 19. Februar Hanau. Emiş Gürbüz sagt dort: „Ich will mein Kind zurück.“ Das darf die Mutter wohl. Trauern. Der Satz davor ist es, der ausdrückt, was so viele nicht hören wollen: „Deutschland schuldet mir ein Leben.“

im Bild oben: Aufkleber, so gesehen 2022 in Frankfurt/Main. Peter Beuth war von 2014-2024 hessischer Innenminister.

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Smalltown Croatia

Keine Texte mehr, keine Threads. „Einfach nur eine unzusammenhängende Abfolge einzelner Seufzer, Schreie und Tobsuchtsanfälle.“ So ist es mir in einem frustrierten Moment die Tage rausgerutscht. Was soll man auch machen mit dem Trommelfeuer der schlechten Nachrichten. Schnell abgeschossene Meinungen gibt es im Dutzend an jeder Ecke und für eine ausgeruhte Motivationsrede habe ich schon vor zwei Wochen viel zu viel Kraft aufgewandt.

Tatsächlich bin ich deshalb nicht unglücklich, grad von den taz-Kolumnen eine kurze Auszeit nehmen zu können. Durchatmen. Dort kriegen die ihre Seiten auch ohne mich voll mit den ganzen Wahl- und Berlinale-Berichten. Und das Filmfestival kann ich auch an dieser Stelle hinzuziehen. Ich wohne ja in der Nähe.

„Zečji nasip“, ein kroatischer Jugendfilm hat es mir angetan. Die Geschichte ist jetzt nichts dramatisch neues. Eine Art „Smalltown Boy“, als Film halt. Die Exposition alleine macht in den ersten fünf Minuten völlig unmissverständlich klar, wo wir da sind. Diese furchtbare Männlichkeitsperformance der Dorfjugend muss gar nicht groß vertieft werden. Ein paar Andeutungen und das Gesamtbild kann vom Publikum problemlos vervollständigt werden. Wir leben ja alle auf dem selben Planeten. Zwischendurch fällt es sogar ein bisschen schwer, die Hauptfigur Marko, der wirklich sehr dringend dazugehören will, zu mögen. Aber allein schon seine zärtliche Zuneigung zum jüngeren behinderten Bruder Fićo gibt den Blick auf einen richtigen Menschen frei.

Und dann ist es eben eine Geschichte vom Drama des Andersseins in einer feindseligen Umwelt, von Eltern, die ihre Überforderung hinter grausamer Ablehnung verstecken usw usf. Alles ist sehr traurig – und sehr gut gespielt. Die Metaphern (Überschwemmung als wachsende Bedrohung, Armdrücken als durchschaubare Maske usw) sind fast ein bisschen zu abgegriffen. Aber an sich ist es auch diese Geschichte. Ich dachte beim schauen irgendwann, dass der Film gut in die 1990er gepasst hätte, als ich ungefähr so alt war, wie die Protagonisten hier.

Ich fühlte mich damals als einer Art Zwischengeneration zugehörig. Die letzte, noch verbunden mit der Zeit von Bronski Beat in der Vergangenheit und die erste, die schon Teil haben durfte an einer Art goldenen, freien Zukunft.

Gewiss, zwischendurch hatte ich gar nicht so selten das Gefühl, dass das Eis recht dünn war. All die Toleranz fühlte sich nicht so hundertprozentig gefestigt an. Dazu war die Gefahr zu nah. Ein wichtiger Autor zur Sache war zum Beispiel Gudmund Vindland („Sternschnuppen“, „Der Irrläufer“), der die schwule Emanzipation in „Chlorwegen“ in den 1970ern zum Thema hatte. Dieses ganze bigotte Pack das er da beschrieb war ja nicht weg. Dort nicht und hier nicht. Aber bald in der absoluten Minderheit. So war zumindest die Hoffnung.

Aber nein. Smalltown ist immer noch genau das. Davon handelt der Film.

Was mir sehr gut gefallen hat, ist, dass er dabei noch mit mehreren Klischees bricht. Es gibt ja immer wieder so pseudolinke Argumentationsketten, wo behauptet wird, dass der Blick auf irgendwelche skurrilen Minderheiten vom Klassenkampf und dergleichen ablenke. Als gäbe es keine queeren Arbeiter*innen oder Prekäre. „Zečji nasip“ kickt Haupt- und Nebenwidersprüche ganz beiläufig vom Tisch und zeigt den Preis, den alle zahlen für die Performance ihrer Normalität. Die ist nämlich so fragil, dass sie jeder Abweichung, Irritation oder Störung nur mit Hass und Entfernung aus der Gemeinschaft begegnen kann.

Dieses Beharren auf einem Naturzustand, den es mit allen Mitteln zu verteidigen gilt, ist billiges politisches Pulver, das derzeit fassweise verschossen wird. Das vernebelt einerseits tatsächlich die Sicht auf beispielsweise den Klassenkampf. Andererseits werden Menschen dabei getroffen. Schutzlos ausgeliefert. Und deshalb ist so ein Film wie „Zečji nasip“ leider kein Blick in die traurige Vergangenheit, sondern hochaktuell.

oben im Bild: Den Film würde ich mir auch ansehen. Wenn ich nicht schon drin leben tät.

Maßgeblich

Bald acht Jahre hab ich’s vor mir hergeschoben, jetzt dann doch endlich gelesen. „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ von Manja Präkels. Viel gepriesen und bepreist, völlig zu Recht selbstverständlich. Ich hatte ja auch nicht so lange gewartet, weil ich mit einem schlechten Buch gerechnet hätte. Zumal ich bis hierher alles von ihr mit größtem Gewinn gelesen hatte. Oder genauer: Für mich ist Manja Präkels die maßgebliche Stimme aus meiner Generation Ostdeutschland. Von niemand sonst fühle ich mich so genau gesehen, beschrieben und verstanden.

Was mir beim Lesen von Schnapskirschen noch deutlicher als bei den kürzeren Texten von Präkels auffällt, ist das entschiedene Beobachten. Die einfach gehaltenen Satzkonstruktionen, die verständliche Sprache ist meinem Eindruck nach nicht einfach nur zielgruppengerecht (Genre „Jugendroman“). Die Form hilft außerdem, der Versuchung zur Interpretation zu widerstehen. Vielleicht ist das auch das Problem, das ich mit so vielen Texten zu den sogenannten Baseballschlagerjahren habe. Dass sie schon seit Jahren immerzu einordnen, bewerten, herleiten usw, während das konkrete Geschehen und Erleben jener Zeit noch nicht einmal im Ansatz erzählt ist. Es wird immer eine Gemeinsamkeit der Erfahrung vorausgesetzt, ohne eine Verständigung darüber in Gang gesetzt zu haben, was eigentlich passiert ist.

Das mag vielleicht etwas seltsam klingen, aber tatsächlich fehlt es an allen Ecken und Enden an einer Dokumentation jener Zeit voller Gewalt und Angst. Die bekannten (und tatsächlich von so vielen schon wieder vergessenen) Bilder aus Lichtenhagen, Hoyerswerda usw haben „wir“ in der Regel auch nur im Fernsehen gesehen. Die gaben aber nicht die Alltäglichkeit der Bedrohung wieder. So wie Präkels es beschreibt: „Dann heulten alle. Für uns war nichts mehr drin. Sie waren überall. Und nun sogar im Fernsehen.“

Das was jeden Tag geschehen ist – oder jeden Tag geschehen konnte – davon gibt es keine spektakulären Fernsehbilder. Das wollten schon damals viele lieber nicht sehen. Nochmal Schnapskirschen:

„Sie haben Michael Müller zusammengeschlagen.“
„Schon wieder? Warum denn nur?“
„Ohne Grund.“
„Es gibt immer einen Grund.“
„Weil er lange Haare hat?“
„Das ist doch kein Grund.“
„Sag ich doch.“
„Jetzt hör aber auf!“
„Ich soll aufhören?“
„Na, ihr dürft nicht immer provozieren.“

Dieser Unglaube im Angesicht der rohen, im engeren Sinne „grundlosen“ Gewalt ist einer der wichtigen taktischen Vorteile der Faschos. Denn dieser Unglaube verlangsamt die dringend nötige Reaktion erheblich. Es ist dazu für jene, die die Gewalt erfahren, eine zusätzliche Demütigung, dass mindestens implizit ihr Erleben in Zweifel gezogen wird. Und das sogar noch, wenn die sichtbaren Spuren kaum zu leugnen sind.

Das Hinschauen zu lernen, die Wahrnehmung der Bedrohung zu schärfen, auch wenn die unmittelbare Betroffenheit noch nicht realisiert ist, dürfte angesichts der Konjunktur rechtsradikaler Menschenfeindlichkeit auf allen Ebenen, auch weiterhin sehr wichtig sein. Mit Manja Präkels lässt sich das im Blick auf die letzten gut 30 Jahre hervorragend einüben.

Apropos nicht realisierter unmittelbarer Betroffenheit sollte erwähnt werden, dass wer nichts sieht, trotzdem keineswegs entkommen wird: „Anfangs war es mir vorgekommen, als sei das Leben in der Kreisstadt trotz allem ein besseres. Langsam begriff ich, dass ich mich nur weniger auskannte und darum weniger sah.“ Wie gesagt, maßgebliche Stimme.

im Bild oben: Sonnenuntergang in Plötzensee.

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Lässig bleiben

In den letzten Monaten hab ich hier ja immer mal wieder ein paar Gedanken zu dem ganzen Lichtenhagen/Baseballschlägerjahre-Komplex, zu Erinnerung und Angst notiert. In der nachfolgenden Geschichte verlässt das ein bisschen die abstrakte Ebene und wird etwas konkreter. Das nur als Triggerwarnung vorneweg.

Die Plattenbauviertel des Rostocker Nordwestens liegen beidseitig der S-Bahntrasse aufgereiht wie Burgen, mit ihren Wällen und Türmen aus Beton. Von Süden geschaut zeigen sich links erst die Hochhäuser von Evershagen und Lütten-Klein. Danach kommt Lichtenhagen, bevor unattraktive Leere bis an den Badeort Warnemünde reicht. Rechts versetzt gegenüber liegen Schmarl und Groß-Klein. Die Haltepunkt der S-Bahn sind durchgängig auf links benannt. Das ist der früheren Fertigstellung jener Viertel geschuldet. Ortsfremde auf der Durchfahrt denken aber sowieso zumeist, dass das alles eins sei.

Die Straßen hier waren in den frühen 1990ern recht sicher. Im Vergleich mit Dierkow und Toitenwinkel jedenfalls. Die jüngsten Neubauviertel der DDR waren das, im Nordosten der Stadt gelegen, auf der anderen Seite der Warnow. Zumindest hielt sich westseitig hartnäckig das Gerücht, dass es da drüben besonders gefährlich sei. Aber vielleicht war das auch ein wenig so, dass die einen den Splitter im Auge der anderen lediglich eher als den Baseballschläger im eigenen bemerkten. Wer will das heute schon noch nachvollziehen.

Der Bewegungsradius war so oder so beschränkt. Lieber in der eigenen Gegend bleiben, wo die lokalen Schläger schon von Weitem ausgemacht und mögliche Fluchtwege bekannt und erprobt waren. Gelegenheiten, sich in unvertrauteren Betonburgen aufzuhalten, waren nie sonderlich willkommen. Besser die Hölle, die man kennt.

Nun kam es aber vor, nicht zuletzt nachdem dann endlich die Schultypen von POS auf westdeutsches Selektionspuzzle umgestellt waren, dass Bekannt- und Freundschaften sich bildeten über die engen Grenzen der geläufigen Hinterhöfe hinaus. Die Notwendigkeit einer gewissen Mobilität stellte sich ein. Öffentliche Verkehrsmittel waren dabei keine einladende Option: während der Fahrt abgeschlossene Räume ohne Ausgang. Das Fahrrad bot sich an. Das hier ist übrigens nicht die Geschichte, wie du auf dem alten Verbindungsweg wie ein Irrer in die Pedalen getreten bist. Kraftübertragung wie nie zuvor. Und wahrscheinlich nie danach. Du ahntest: Um dein Leben. Als ein paar Wochen später von einem berichtet wurde, der genau an der Stelle ins Koma … da wusstest du.

Hauptsache nicht Toitenwinkel.

Die jugendlichen Kosmopoliten aus unterschiedlichen Ortsteilen trafen sich gerne auf neutralem Boden. Neutral nicht wegen eines übertriebenen Lokalpatriotismus, sie wussten schließlich ganz gut voneinander, was sie jeweils für einen Mist vor der Tür hatten. Neutral eher im Sinne der Distanz zu allem gewohnten, mit dem Wunsch nach einer gewissen Normalität. Tourismus zum Beispiel konnte ein ganz gutes Grundrauschen anbieten, worin einzutauchen prekären Schutz bot. So spielten sie Billard in einer Spielhalle neben dem Kurhaus im Schatten des Hotel Neptun in Warnemünde. Das kam zwar etwas teurer, aber mit dem Fahrrad war ja schon mal das Geld für die S-Bahn gespart. Eine der Aufseherinnen mochte außerdem die drei Jungs und sagte auch nichts, wenn die bei Treffern die Kugeln an den Taschen festhielten und beiseite legten. So reichten die 5 Mark für nominell drei Matches doch länger, als bei ihrem schlechten Spiel ohnehin zu erwarten war.

Diese Geschichte spielt übrigens gar nicht in Warnemünde. Tut mir leid. Das tut mir wirklich sehr leid. Vielleicht hilft es dir ja zu wissen, dass kein Blut fließen wird. Es geht nämlich nicht um die Male, wo sie dich gekriegt haben. Und auch da, seien wir ehrlich, war es keine fernsehtaugliche Splatter-Show. Geschlagen zu werden ist ziemlich unspektakulär. Paar blaue Flecken, bisschen dicke Lippe, verletzter Stolz vielleicht. Vor allem verletzter Stolz.

Nein, diese Geschichte trägt sich in Groß-Klein zu. Das war nie deine Homezone, nicht wahr. Lütten-Klein, Schmarl, mit Abstrichen Lichtenhagen. Deine beiden Freunde aber kamen aus Groß-Klein.

Vielleicht hundert Meter vor möglichen Zielen, des einen oder anderen zu Hause, in Sichtweite des S-Bahn-Haltepunktes Lichtenhagen, steht da dieser leicht angetrunkene Fascho. Den beiden bekannt, dir nicht. Sie grüßen, er will reden. Sie lassen sich drauf ein. Die Hölle, die sie kennen. Die sie jeden Tag navigieren müssen. Was willst du machen? Stehst daneben, während deine Freunde mit dem Nazi plaudern. Man hat dich höflich nuschelnd vorgestellt. Handschlag.

Deine Begleiter gelten als unpolitisch. Das wärst du auch gern gewesen, aber seit du gleich 1990 mit Pali-Tuch durch Schmarl stolziert bist (jaja, nicht sehr klug, auf so vielen Ebenen), ist dieser Zug abgefahren. Dein Ruf als Zecke ist jedoch nicht bis Groß-Klein vorgedrungen. Anderes Viertel halt. Du lenkst schon wieder ab. Worüber plaudern sie denn, deine Freunde und der Nazi?

Es redet vor allem er. Erzählt, wie er kürzlich erst einen Schwulen verprügelt habe. Vielleicht mit anderen zusammen, du registrierst die Details in dem Moment nicht so genau. Aber machen wir uns nichts vor: Ganz sicher mit anderen zusammen. Er ist unzufrieden mit der Prügelei, da der Schwule sich gar nicht gewehrt habe. Und gegrinst habe der die ganze Zeit. Auch als er schon am Boden lag. „Ich hab dem immer wieder in die Fresse getreten und das Drecksgrinsen ging da nicht raus.“ Achte auf deine Körperhaltung. „Immer und immer wieder. Die schwule Sau hat nicht aufgehört zu grinsen.“ Lässig bleiben. Unbeteiligt.

Was du in den Augen von diesem Bekannten deiner Freunde siehst, ist übrigens Mordlust. Nicht mal Hass, einfach nur Spaß an der Sache. Du hast gar keine Zeit, das genau so zu benennen und zu verarbeiten, so sehr bist du mit deiner Angst beschäftigt. Denn du fühlst die Bedrohung durch ihn sehr deutlich. Immerhin eins hast du ihm aber voraus. Anders als er weißt du in dem Moment, dass er dich meint.

Er darf nur die Angst nicht bemerken. Niemand durfte die Angst je bemerken.

Als ihr, deine beiden Freunde und du danach weitergegangen seid, spracht ihr nicht darüber. Worüber auch? Das war ja ein ganz gewöhnlicher, nachbarschaftlicher Plausch, 1992 in Groß-Klein. Die Angst ist dann aber doch eine sehr lange Zeit bei dir geblieben. Tief drinnen vergraben; unter der Angst vor der Angst.

oben im Bild: war nicht alles schlecht in Rostock.

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