Lichtenhagen und ich – Episode IV

Im Moment krieg ich jede Geschichte auf Fascho gedreht. Das liegt nicht nur daran, dass die halt auch überall sind, wenn man genauer hinschaut. Nein was mich umtreibt, ist etwas anderes. Jahrzehntelang habe ich es vermieden, über Nazis im allgemeinen und die sogenannten Baseballschlägerjahre im besonderen zu schreiben. Hie und da eher widerwillig was kleines, aber nach Möglichkeit nix. Dieser Tage jedoch kann ich kaum einen Gedanken formulieren, in dem es nicht irgendwo rumhitlert. Also, what’s up?

Schon immer bin ich fasziniert von Menschen, die sich an alles mögliche aus ihrer, auch frühen, Kindheit erinnern. Die kennen sogar noch die vollen Namen ihrer Spielgefährt*innen im Kindergarten. Völlig unklar. Ich bekomme aus dem Vorschulalter bis auf ein-zwei Fetzen gar nichts zusammen. Aber auch aus späterer Kindheit/früher Jugend ragen nur extrem wenige Inseln aus einem Nebelmeer des Vergessens.

Die Kindheit in jenem unmöglichen Land zugebracht zu haben, verdunkelt ja sowieso einiges. Erinnerung an die DDR ist recht häufig Klischee und Langeweile. Das ist es vielleicht, was mich an Mehlis, Hauswald oder auch Klöppel zunehmend interessiert. Wie über deren Bilder doch noch einmal eine andere Geschichte erzählt wird, als die von Stasi, Spreewaldgurken und FKK.

Meine Geschichte sehe ich da noch nicht unbedingt, aber immerhin. Neben dieser ganzen abgeschmackten Super-Illu-Sentimentalität die das DDR-Bild der Leute, die ja selber dabei gewesen waren, zu dominieren scheinen, steht aber noch etwas anderes schier unüberwindlich in der Sicht, zumindest in meiner: das brennende Sonnenblumenhaus.

Jede Erzählung der DDR (und damit meiner Kindheit) aus heutiger Sicht funktioniert nur in Kenntnis ihres unrühmlichen Endes und ihrer Nachspielzeit, der Pogrome der frühen 1990er. Die ostdeutschen Baseballschläger sind narrativ (you gotta love your vocabulary) untrennbar verwoben mit den vierzig Jahren davor. Wie sollte es auch anders sein. Neben den Verbrechen jener Zeit und der Zerstörung so vieler Leben, nicht nur der Ermordeten, haben die Faschos so aber noch etwas kaputt gemacht, die Erzählung vom Leben selber nämlich.

Die Ungeheuerlichkeit des damaligen Geschehens, die beiden Guerickeschen Halbkugeln aus Schmerzen und Angst haben den ganzen anderen Erinnerungen auf Jahrzehnte den Sauerstoff geraubt, sie vollständig in ihrem dunklen Vakuum erstickt. Vielleicht bin ich den Raritäten der DDR-dissidenten Literatur ja auch deshalb ein paar Jahre lang so nachgejagt, weil ich Botschaften aus einer Welt lesen wollte, in der eine andere Zukunft vorstellbar war als die mit der verwesungssüßen „Wir-hattens-doch-so-schön“-Klebrigkeit auf der einen und den Prügelnazis auf derselben Seite. Irgendwas wo ich glücklich sein könnte. Irgendwas ohne Brandgeruch.

Das machen Nazis, ob real oder metaphorisch: alles immerzu in Brand setzen. Wie banal werden die gewöhnlichen Erlebnisse einer gewöhnlichen Jugend vor dem Hintergrund der ständigen Bedrohung. An die Namen der Schläger erinnere ich mich übrigens noch recht gut (und nicht nur ich, wie ich beim 30-jährigen Klassentreffen in vergangenem Sommer feststellen durfte). Die haben den evolutionär geschulten Panikbutton aktiviert. Das Gesicht der Gefahr war anscheinend die wichtigste Information und die hat schon damals alles verdrängt. Die Namen und Gesichter der Sitznachbar*innen im Grundschulalter zum Beispiel.

Lichtenhagen ist nicht der Schlüssel zu meiner Erinnerung, Lichtenhagen ist das in schweren Ketten liegende Schloss davor. Schreiben ist eventuell ein Schlüssel. Einer, dem ich mich lange verweigert habe, weil es nicht sonderlich schön ist, sich einzugestehen, dass das eigene Leben, Fühlen und Denken so massiv beeinflusst ist von denen. Bloß kein Opfer sein.

Es ist ja schon unter normalen Umständen ein immer wieder empörender Zustand, welche Impulse aus tiefster Vergangenheit in ein erwachsenes Dasein hineinwirken. Wie schwer es ist, das erstens zu sehen und sich zweitens davon zumindest in Teilen frei zu machen, ist bekannt. Millionen an irgendwelchen blöden Eltern abgearbeitete Therapiestunden senden Urlaubsgrüße aus der Hölle. Kindheitsmuster, Ödipus und was nicht alles, ok, heilen sie mich, Frau Doktor. Aber Faschos? Echt jetzt? Ich will nicht drüber reden.

… to be continued (ganz offensichtlich)

oben im Bild: Mecklenburger Allee 19 in Rostock-Lichtenhagen

Packpapier

Was Seesslen in der taz zum Verschwinden der der gedruckten Zeitung schreibt, beschäftigt mich jetzt schon ein paar Tage. Ich möchte die ganze Zeit widersprechen, bin aber unschlüssig, worauf eigentlich. Entweder durchdringe ich den Text nicht so richtig oder er ist für Seesslens Verhältnisse einfach ungewöhnlich argumentiert. Üblichererweise ist das bei ihm doch immer ziemlich deutlich. Mäandernd bisweilen, ja, aber am Ende doch recht unmissverständlich durchgetaktet. Stoff zum drüber nachdenken, dran reiben. Klar und nüchtern hergeleitete Gedanken eben.

Hier aber lese ich eine ungewohnte Sentimentalität raus, die sich, wie es in ihrer Natur liegt, aus sich selbst heraus begründet und deshalb keiner weiteren Erläuterung bedarf. Oder übersehe ich was? Vielleicht fehlt mir aber auch einfach der Bezug zur Zeitung als papiernes Objekt. Ich hatte früher Abos, fand es auch ein ganz erhebend, das erste Mal so eine Zeitung mit einem Text von mir drin in der Hand zu haben. Aber, dass ich die Kulturtechnik vermissen würde, die „Rituale des Alltagslebens“, die Beobachtung „wie einer faltet, die andere hinlegt“ usw, kann ich nicht sagen.

Funny enough, ich halte die Einstellung gedruckter Zeitung ganz generell trotzdem für einen Fehler, aber nicht, weil die Nachrichten beim Übergang in ein anderes medium „ihr Wesen verändern“ (eine Charakterisierung des Prozesses die ich, nebenbei, nachvollziehen kann). Es scheint mir nur eher eine Fortsetzung des verlegerischen Missverständnisses in der Einordnung des eigenen Geschäfts. Eine Art Trotz fast. „Nee, jetzt nicht mehr gedruckt. Ätsch“. Während die Verlage nämlich den digitalen Bereich zunächst nur auf sein Marketingpotential hin abgeklopft haben und dabei über Jahre, Jahrzehnte, nichts von den journalistischen Möglichkeiten im Netz begriffen, scheinen sie nun das Marketingpotential der Printausgaben zu unterschätzen.

Selbstverständlich bringt eine gedruckte Zeitung ab einem bestimmten Punkt (Rückgang Abos, Werbung / Anstieg Druck-, Papier- und Vertriebskosten) keinen unmittelbaren Gewinn mehr. Das konnten sich selbst mäßig begabte Verleger schon vor einer ganzen Weile selber ausrechnen. In der Öffentlichkeit sichtbar zu sein, sei es an Kioskauslagen, sei es an diesen unpraktischen Zeitungshaltern in Cafés, kommuniziert aber die Marke in eine Sphäre, die sowohl von digital natives, als auch von den sentimentalen Kulturtechnikern gelegentlich betreten wird. Das spannende an so einem Marketing ist, dass die Maßnahme zur Steigerung der Wahrnehmung sich immerhin zum Teil direkt selber finanziert: durch Abos und Verkauf. Und es ist eine Form der Werbung, die mE nicht ganz so gehasst wird, wie blinkende Banner auf Webseiten oder über den unmittelbaren Werbezweck hinaus so nutzlos ist wie Plakate an Litfaßsäulen. Aber egal.

Anlass für den Seesslens Text war ja eventuell die Ankündigung der taz, im Oktober 2025 das tägliche Print einzustellen. Die Wochenendausgabe und der Onlinebetrieb sollen bleiben. Ich weiß, die Sprachregelung bei dieser „Seitenwende“ (ich hoffe, das ist selbst ausgedacht und nicht zu viel Geld für ne Agentur bei drauf gegangen) ist, dass man damit ganz vorne dran sei an der Entwicklung der Branche. Was Quatsch ist. Eine Wochenzeitung mit angeschlossenem aktuellem Onlinebetrieb ist schließlich schon ein etwas älteres Konzept. Ich glaube ich hab davon das erste Mal vor bald 30 Jahren gehört. Aber auch das ist egal.

Nicht egal ist Seesslens These, dass eine bestimmte Form ziviler und demokratischer Debatte und Öffentlichkeit an ein bestimmtes Medium, die papierne Zeitung, gebunden ist. „Behauptung“ sage ich deshalb, weil die Hauptaussage „Die Zeitungen sterben, der Demokratie geht es auch nicht besonders. Vielleicht hat das eine doch etwas mit dem anderen zu tun.“ eine Koinzidenz vielleicht ganz richtig beobachtet. Die Kausalität aber wird mir nicht hinreichend begründet. Und ich glaube, das ist es auch was mich stört. Dass das, was der Ausgangspunkt einer Überlegung sein könnte, zumindest bei diesem Text ihr Abschluss ist. Vielleicht will ich ja gar nicht widersprechen, sondern würde nur gerne mehr erfahren.

Muskelgedächtnis

Das Gespräch war erbaulich gewesen. Ein Wiedersehen nach langer Zeit. Abgleich und Austausch. Erwachsene Routine beim Füllen der Lücken. Samtene Übereinkunft darin, welche Fragen offen bleiben können. Es gibt so Vieles, das im Vagen bleiben muss mit den Vielen, die wir viel zu selten treffen. Wie geht’s denn sonst so? Ach, muss ja.

Also lieber in die Zukunft geschaut. Wir vergleichen die Erwartung an das kommende Jahr. Die politischen Erwartungen, ohje. Was will man denn noch wissen von diesem Land? Welche Geschichten sollen uns noch was erzählen, das nicht längst bekannt wäre? Es ist doch allen klar, was und wer da kommt. Chronistenpflicht, schön und gut, aber darüber hinaus?

Und dann werden wir zügig einig, was wir doch noch hören möchten. Lernen wollen wir von denen, die sich weiterhin dagegen stemmen. Von jenen, die die Verhältnisse nicht als unveränderbar hinzunehmen bereit sind. Eines vor allem will man wissen: Woher zieht ihr eure Kraft?

Eine gute Fragestellung, nicht wahr.

Da träume ich gleich von bewegenden, ermutigenden, und mitreißenden Antworten. Bin ganz beseelt von meiner Fantasie. Allein das powert mich ganz schön hoch.

Erzähle überall gerührt davon. Auch J., schon lange tätig im zivilgesellschaftlichen Bereich, mit guten Kontakten in die Fläche. „Jaja, wir haben die Einrichtungen vor Ort befragt. Einmal, was so auf sie zukommt, angesichts der neuen Mehrheiten, dann woher sie noch ihre Kraft schöpfen, und zuletzt was sie konkret an Hilfe gebrauchen könnten. Die zweite Frage wurde von den meisten übergangen. Einfach nicht beantwortet.“

Einfach nicht beantwortet.

Lassen wir das sacken. Wie so viele nur noch Phantomstrom auf den Batterien haben. Und wenn auch der verflackert ist, geht es trotzdem weiter. Nur nicht denken an den Abgrund, der an jeder Faser, jedem Muskel zieht.

Das wäre vielleicht das zeitgemäße Held*innenepos: eine Geschichte dauerhafter Erschöpfung im Kampf gegen ein Monster, das gierig Unzählige verschlingt. Obwohl das ja in gewisser Weise auch Teil des traditionellen Epos ist. Nur, dass wir für gewöhnlich nicht mit den Verlierern und Verlorenen, sondern auf dem Rücken der Recken reisen, die am Ende strahlen.

Klar, die gute Nachricht ist: Das Monster wird zum Schluß immer besiegt. Das lehren uns die Geschichten. Die Frage ist, zu welchem Preis und wer den Preis bezahlt. Die Knochen der unterwegs Geschlagenen sind zwar häufig präsent in der Erzählung. Aber mehr als Kulisse am Wegesrand, Warnung vor Unvorsicht und Überheblichkeit zum Beispiel.

Was aber, wenn die vielen früh Gefallenen gar nicht hochmütig waren. Sondern einfach nicht mehr wussten, woher sie noch Kraft ziehen sollten und schließlich der Gewalt der Gravitation erlagen. „Es ist die alte Geschichte von Dornröschen: Hunderte Ritter mußten elend im Gestrüpp krepieren, und vor dem einen, dem letzten dann öffnete sich das Tor“, schreibt Franz Fühmann (22 Tage). Aber mussten sie wirklich? Und viel wichtiger, müssen sie immer und immer wieder?

Woher also nehmen wir die Kraft? Aus dem Wissen, dass nicht alles naturgesetzliche Unabänderlichkeit ist, auch wenn es sich bisweilen so anfühlt. Geschichte wird schließlich immer noch gemacht. Das ist keine Drohung. Ganz im Gegenteil.

Reicht diese Erkenntnis aber für die Energiezufuhr? Ach, muss ja. Für den Anfang zumindest. Und für den Fortgang weniger Vagheiten vielleicht; dafür mehr Treffen, Gespräche, Austausch und Abgleich.

Im Bild oben: Das letzte was hundert Ritter sahen.

Baby, erklär mir den Osten

Das Schlimmste an Brandenburg ist doch, dass es keine Pilze gibt. Jedenfalls bisher in diesem Jahr nicht. Dabei hat es geregnet, mehr als genug sogar. Warm ist es ebenfalls. Und doch. Mit feindseliger Kargheit verweigert sich der Forst. Hier und da eine Krause Glucke, ok, eine Spezialität für ganz Spezielle. Aber sonst ist da nichts, was in vergangnen Jahren um diese Zeit dort schoss. Nicht einmal Fliegenpilze für die Optik. Ein paar altersfleckige Boviste hier und da. Klar, auch irgendwie Pilze, aber worüber reden wir hier eigentlich.

So gibt es am Abend also Vollkornspaghetti mit einer Sauce aus Zucchini und Gorgonzola, letzterer erworben in einem Berliner Bioladen. Eine invasive Art gewissermaßen, aber man kann doch nicht ständig Kartoffeln mit Leinölquark essen, nur weil die Zutaten von hier sind.

Wir sind auch invasiv, aber nur minimal. Ossis eben. Die Eingesessenen schütteln trotzdem den Kopf über das etwas unordentliche Gartengrundstück in Ortsrandlage. Zur Beflaggung beim Bäcker sagen wir nichts, freuen uns nur still, dass der Lappen mit dem Ausscheiden der Fußballherrennationalmannschaft gleich wieder abgehängt wurde. Seit bald 10 Jahren vermeiden wir tunlichst die Osterfeuer, Feuerwehrfeste und sonstigen Dorfbums in der näheren Umgebung. Geteiltes Bier würde nur die höfliche Distanz erschweren.

Wir folgen aber der Einladung von Freund*innen zu einem Dorffest eine halbe Autostunde entfernt. Das ist hinreichend Sicherheitsabstand. Strandbad, Feuerwerk und „es sind auch nicht mehr so offene Nazis dabei, wie früher“. Und tatsächlich sind keine auffälligen Tattoos oder Shirts zu sehen. Allerdings auch kein einziger offensichtlich nichtweißer Mensch. Man weiß gar nicht, wen die hier eigentlich abschieben wollen. „Die“. Es ist ganz bequem, diese Armlänge Abstand mit zugehaltener Nase. Keine Sorge, beruht auf Gegenseitigkeit.

Oder denke ich das nur? Ich kann das platte Land, den Osten, nicht erklären. Mir fehlen für Erkenntnis nicht die Worte, sondern schlicht das Interesse an diesen Menschen, zu denen ich doch, zumindest theoretisch, gehöre. Das hilft überhaupt niemandem und ich bin auch nicht stolz drauf. Alles bleibt Klischee, wird es nicht erst in der Beschreibung, in diesem Text, nein, das Geschehen selbst ist schon reines Abziehbild. “Die” kartoffeln so vor sich her. “Wir” bewegen uns dazwischen undercover, gelangweilte Geheimagenten ohne Auftrag.

Bin ich zu lange weg von allem? Oder gerade lange genug?

Es gibt überhaupt keine Brücke zurück (und ich weigere mich entschieden, die Schuld dafür anzunehmen). Der Osten ist das Ding, das nicht verstanden werden will. Wie so ein Fleck auf der Haut, von dem man nicht weiß, ob er gutartig ist oder doch schlimmeres ankündigt. Nein, lieber nicht hinsehen! Oder doch gerade. Krebs, Terror, Apokalypse. Genau wie Kreuzberg, Neukölln oder gleich ganz Berlin als (im Regelfall rassistisch aufgeladene) Chiffre andersherum.

Das Feuerwerk ist ne Wucht, die Bratwurst ok, der DJ scheint Liebeskummer zu haben. Alles könnte schlimmer sein. Irgendwann dröhnt so eine Babytechno-Version von „Sound of Silence“ durch die Dunkelheit über den See.

Boviste. Sonst nichts.

oben im Bild: Inzwischen werden Kornkreise sogar als Bausatz zum selber ausrollen verkauft.

Feuer

Wann haben Sie das letzte Mal im Theater gesessen und mit den Tränen gekämpft? Und verloren? Mir ist das vor zwei Jahren passiert und da musste ich grad wieder dran denken.

Aber von vorne.

„Ableismus“ – das klingt schon sehr nach akademischem Jargon. Es ist eben schwer, die Dichte solcher Vokabeln in verständlichere Übertragungen zu transportieren. Und wenn, dann werden das auch gerne mal Wortungetüme, die einfach nicht praktikabel und letzlich genauso unverständlich sind. „Fähigkeitsideologie“ befindet sich für mich grad noch diesseits der Grenze zum unbenutzbaren und stellt mE in dieser Übersetzung die Kritik am Ableismus gleich ganz gut mit aus.

Kennengelernt habe ich dieses Wort beim Blättern durch die halbwegs neu erschienene Geschichte des inklusiven Theaters Hora aus Zürich (dort zitiert nach Jana Zöll). Aufmerksam geworden war ich auf das Buch mit dem schönen Titel „Je langsamer, desto schneller“ durch eine Rezension in der taz. Das Theater aber hatte ich vorher schon erlebt. Leider erst einmal, vor zwei Jahren eben, in Frankfurt/Main zum Festival Politik im Freien Theater. Dabei bringt Hora seit mehr als dreißig Jahren Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen auf die Bühne, gilt als Musterbeispiel des postdramatischen Theaters, tourt immer wieder um die halbe Welt, sahnt Preise ab und so weiter, und so weiter. Hätte man auch eher schonmal anschauen können.

Na jedenfalls: Das Hora Theater auf der großen Bühne im Frankfurter Schauspielhaus zu erleben, war für mich ein großer Glücksfall, unglaublich spannend und berührend.

„Es war keinmal oder das Märchen von der Normalität“ heißt das Stück, eine Kooperation mit dem feministischen Performancekollektiv Henrike Iglesias. Die Schauspieler*innen erzählen darin von der Welt, wie sie ist und wie sie sein könnte, oder auch sein sollte. Es geht um Zurücksetzung und Selbstbehauptung, verliebt sein, Erwartungen, Enttäuschungen, Tanzen, Traurigkeit, Lebensfreude. Einmal quer durch die ganze Bandbreite menschlicher Erfahrung.

Und an einer Stelle erzählt eine Darstellerin vom angegafft und angefeindet werden im Bus oder in der Tram. Sie steht da, allein, vorne auf dieser riesigen, ziemlich spartanisch ausgestatteten Bühne und erzählt, wie sie das alles nervt und verletzt, beschreibt so eine hässliche Szene und schließt (ungefähr in diesem Wortlaut und jenem Schweizer Sound): „Und dann hab ich Feuer gespuckt und bin nach Hause geflogen.“

Dieser Satz hat mich über Monate verfolgt. Bis heute hallt der nach. Dieser gewaltige Traum von Autonomie, von Souveränität, wie immer man das nennen will, hatte mich kalt erwischt und wie eine Kanonenkugel umgehauen. Da stemmte sich jemand mit aller Kraft gegen die Wände um sich herum. Für einen Moment konnte ich mich da wiedererkennen in der jungen Frau auf der Bühne. Seitdem ist mir wieder klarer, was ich mir von Kunst wünsche, Theater zumal. Egal, ob post-diesdas oder klassisches deutsches Sprechtheater: Da stehen lebende Menschen, tun und erzählen irgendwas. Ich möchte die spüren können. Alles andere ist Netflix.

Das liegt selbstverständlich nicht nur an denen da oben. Ich glaube, an jenem herbstlichen Nachmittag in Frankfurt ist mir nochmal sehr bewusst geworden, bewusster vielleicht als je zuvor, dass das eine gegenseitige Abmachung, eine Verschwörung ist, über die Rampe hinaus zwischen Bühne und Parkett. Beide Seiten müssen das wollen und können (und meine Fresse, können und wollen die Horas das). Selbst dann wird es nicht immer funktionieren, aber ohne den Versuch scheint es mir gänzlich sinnlos zu sein.

Vielleicht ist das auch die eine Fähigkeitsideologie, die man gelten lassen könnte: das Vermögen zu berühren und sich berühren zu lassen. Das immer wieder aufs neue angehen können, nicht aufgeben, Feuer spucken.

im Bild oben: Ein Schnappschuss, getätigt beim Auftauchen aus dem Frankfurter Untergrund.

Zeitreisen

Kein Vergeben, kein Vergessen? Jetzt sind es schon wieder zwei Jahre, seit ich das letzte Mal beruflich mit Lichtenhagen beschäftigt war. Die großen Aufschläge, Reden und Demonstrationen sind halt den runden Jubiläen vorbehalten. Alle fünf oder 10 Jahre wird gewogen und präsentiert. Dazwischen aber liegen die kleinen Stiche, die bewussten und unbewussten Verschiebungen der Einschätzung, die Änderung der Umstände, im besten Falle neue Erkenntnisse und Ideen, die in der Summe wieder neue Reden und Aufsätze ergeben.

Insofern sind die Ereignisse derer gedacht wird, nie vorbei. Sie werden durch die Beschäftigung Teil der jeweiligen Gegenwart, beeinflussen sie in die eine oder andere Richtung und verändern damit mögliche Zukünfte. Das täten sie aber auch dann, wenn man sich der Konfrontation verweigert. So hat das ganze Erinnern und Aufarbeiten bekanntermaßen noch einen weiteren Sinn: als Schlüssel zur vorgefundenen Gegenwart nämlich.

Es gibt diesen Satz bei Ursula K. Le Guin. In „The Dispossessed“ (eine Auswahl der deutschen Verleihtitel: „Planet der Habenichtse“, „Die Enteigneten“, „Freie Geister“) heißt es: „But when Shevek took her metaphor and recast it in his terms, explaining that, unless the past and the future were made part of the present by memory and intention, there was, in human terms, no road, nowhere to go, she nodded before he was half done.“*

Shevek, die Hauptfigur des Buches, beschäftigt sich mit einer Theorie der Zeit, die in der Geschichte des Hainish-Universums ein noch fehlendes Element hin zur Möglichkeit des Reisens in Überlichtgeschwindigkeit darstellt. Besonders wichtig ist dabei das Konzept der Simultaneity, der Gleichzeitigkeit (ungefähr). Le Guins Gedankenexperiment einer anarchistischen Gesellschaft erhält dadurch zusätzliche Tiefe in philosophischen (die missgünstigen Antagonisten Sheveks würden sagen: „esoterischen“) Betrachtungen zu Zeit, die wiederum auf den Sinn des Lebens und dessen Verlauf angewendet werden. Fragen von Schicksal und Selbstbestimmtheit, Ungewissheit und Kontrolle die sowieso immer wieder auftauchen im Hainish-Zyklus, werden ohne große Bemäntelung direkt verhandelt. Solche Science Fiction bedarf eventuell keiner weiterer Verschlüsselungen, vor allem dann nicht, wenn sie sich schon plausibel auf fremden Planeten bewegt und mit der Technologie zur Überbrückung des unendlichen Raumes zwischen den Welten befasst.

Dass die Gegenwart -jetzt- ist, erschließt sich dabei von selbst. Dass Vergangenheit und Zukunft aber gleichzeitig in dieser Gegenwart sind, als Bedingungen und Teil untrennbar mit ihr verbunden, ist eben keine esoterische Metaphorik, sondern von drängender politischer Aktualität. Das gilt für den Planeten der Habenichtse genauso wie für diesen. Antifaschismus ist die Verkörperung dieser Gedanken, da er wie kaum eine andere politische Idee, zwangsläufig Zeit transzendiert, sowohl in der Theorie, als auch in der Praxis. Antifaschismus ist der feste Punkt im Heute, an dem sich Vergangenheit und Zukunft als Warnung und Versprechen treffen.

Wer hingegen den Schlussstrich ziehen will, schneidet sich nicht nur von der Vergangenheit ab, sondern auch und vor allem vom Heute. Die Zukunft kann unter diesen Bedingungen nur als unabwendbare Apokalypse gedacht werden. Wenn du sagst: „Das ist doch alles lange her jetzt.“, weiß ich, wie unleugbar gegenwärtig es ist. Wenn du sagst: „Nach mir die Sintflut“, weiß ich, dass du längst ertrunken bist. Die Erinnerung, an die Verbrechen des Faschismus zum Beispiel, oder an Lichtenhagen, an Hanau, ist der Rettungsring. Wer den ausschlägt, stellt sich absichtlich auf die Seite derer, denen nie vergeben werden kann. Nicht gestern, nicht heute, nicht morgen.


*In der deutschen Übersetzung von Gisela Stege: „Als Shevek jedoch ihre Metapher nahm und sie ein wenig umformte, ihr erklärte, wenn man Vergangenheit und Zukunft nicht durch Erinnerung und Planung zum Bestandteil der Gegenwart mache, gebe es im menschlichen Sinne keinen Weg, kein Ziel, nickte sie, bevor er ausgesprochen hatte.“ [Ich würde „memory and intention“ an dieser Stelle statt mit „Erinnerung und Planung“ eher mit „Erinnerung und Absicht“ oder „Erinnerung und Streben“ übersetzen.]

oben im Bild: Das Dresdner Staatsschauspiel, ebenfalls mit einer Meditation über Zeit.

Spaziergang zwischen gestern und morgen

Mit P. über diese eigenartige Romantisierung des Begriffs Manufaktur ausgetauscht. Beim Spaziergang durch Neukölln waren wir an der Blutwurst-M. vorbeigekommen die mein Unbehagen gleich doppelt verkörpert. Sicher, Leute die Blutwurst mögen, schwören auf diesen Hersteller, mir aber sagt das überhaupt nicht zu. Das ist schon so seit meiner ersten Bekanntschaft mit dem rotgrauen Brei in der DDR-Schulspeisung. Verkehrsunfall war noch einer der freundlicheren Namen für die widerliche Hämoglobingrütze.

Im Unterricht hatte ich derweil gelernt, dass die Manufaktur der durchaus kritisch zu bewertende Anfang der Industrialisierung war. Durch die zunehmende Ausdifferenzierung der einzelnen Arbeitsschritte im Produktionsprozess war das eine wichtige Triebkraft in der Entfremdung der Produzent*innen von den Produkten ihrer Arbeit und eine Vorbedingung der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse. Statt Blut, Schweiß und Tränen scheint die Manufaktur heute aber eine Puppenstuben-Heile-Welt-Assoziation zu wecken, die sich ganz wunderbar zur Vermarktung dieser ganzen Fake-Landhaus-Ramschigkeit eignet. Echtholzmöbel von Zwangsarbeitern aus sibirischen Urwäldern geschlagen und am Ende dann doch ganz schnöde industriell verarbeitet, mit Blutwurst verschmiert gewissermaßen. Aber ich schweife ab.

Es soll ja um Spaziergänge gehen.

Ein Spaziergang durch den Treptower Park, hin zur Spree. Am Rosengarten Familien mit Kindern, die im Springbrunnen planschen. Je näher der Fluß kommt, umso voller wird es. Frisbees fliegen, Sonnenbäder werden genommen, ein Hauch von Strand, wenn auch ohne Badestelle. Dort, ein Paar mit echten Weingläsern. Bestimmt Grauburgunder. Alle sehen so glücklich aus. Über den Sommer bin ich zumeist im eignen Garten und nicht hier. So überrascht es mich dann doch immer wieder, wie viele Menschen es in den Park, an den Fluss zieht. War ja nicht mit zu rechnen…

Die Massen stören mich diesmal gar nicht. Die über Jahre fleißig gepflegte Misanthropie verfliegt in der Sonne, zerfließt am Wasser. Darauf ziehen Boote aller Größen ihre Runden. Obwohl, hier zwischen Stralau und Treptow bewegen sie sich recht gradlinig, streben einem Ziel zu, das mir verborgen bleibt. Am eigenartigsten sind die Stehpaddler*innen. Besonders die Solisten unter ihnen strahlen extreme Einsamkeit aus. Dabei weiß ich gar nicht zu sagen, was mir an deren Erscheinung so unglaublich disparat vorkommt.

Dabei geht es doch genau darum, dafür Worte zu finden. Für das Verborgene, das schwer zu Erklärende. Wozu sonst schreiben? Das Offensichtliche ist schon tausendfach gesagt. Ich habe keine Lust mehr. Ich will das nicht mehr lesen, ich will es auch nicht wiederholen. Deklamieren und Recht haben. Es sind beileibe genug Leitartikel geschrieben worden, vielleicht braucht es eher eine Umarmung. Eine Umarmung für die, die nicht von irgendeinem falschen Weg abgebracht werden müssen, sondern auf dem richtigen Weg angelegentlich verzweifeln.

Ein Gruß geht also hinaus an den einsamen Spaziergänger und ein Winken an die aufrechte Stehpaddlerin. Irgendwo die Spree entlang, gleich hinterm Plänterwald, ganz in der Nähe des Fährterminals Baumschulenstraße, fängt die Zukunft an. Ich warte dort auf euch.

oben im Bild: Am Neuköllner Richardplatz wird die Frage der Zukunft schon lebhaft an öffentlichen Wandzeitungen diskutiert

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