101

Octavia Butler, offenbar keine Anhängerin von Geniekult und göttlicher Inspiration gab jungen Autor*innen eine klare Richtung mit auf den Weg: „Schreib, jeden Tag, ob du es magst oder nicht. Scheiß auf Inspiration.“1 Sie ist gewiss nicht die einzige, die diesen Arbeitsethos anrät, aber ihre Formulierung knackt halt ganz ordentlich und wird also gerne zitiert.

Gewiss, ich habe streckenweise täglich Texte zu Papier gebracht. Das aber nur unter der ständigen Drohung von Deadlines. Das ist ein Druck, dem ich mich rückblickend betrachtet vielleicht nicht ganz zufällig ausgesetzt habe. Extrinsische Motivation. Die sanfte Peitsche der Schlussredaktion. Nicht nichts machen, stattfinden. So entstehen Gebrauchstexte, die selbstverständlich mehr Technik sind als Kunst. An wenigen guten Tagen Kunsthandwerk. Aber bis heute weiß ich nicht, wie das geht: jeden Tag schreiben. Wirklich schreiben.

Dabei wäre genau das doch nötig, um Möglichkeiten zu finden, nicht das immer Gleiche mit nur leicht variierenden Worten zu sagen. Wie so ein Journalismusbot. Nazis raus, Kapitalismus doof, Digitalisierung eine ausbeuterische Vollkatastrophe, KI für die Tonne. Da, 101 Anschläge, fertig.

In der Lesebühnenzeit, vor 20+ Jahren, da gab es so Momente. Auch nicht direkt jeden Tag, nein, aber immerhin manchmal. Und diese kurzen Blitze waren immer durch Kommunikation geprägt. Kurze Kommentare, Kritiken, überraschende Interpretationen anderer Autor*innen. Ebenfalls nicht zu unterschätzen ist ein anregender, wenn auch bisweilen nur heimlich ausgetragener Wettbewerb. Qualitativ nicht abgehängt werden zu wollen ist kein schlechter Antrieb.

Reibung erzeugt Funken. Mangelnder Austausch ist eines der größeren Probleme des solitären Arbeitens. Und solitär war das, bei allem Krawall, auch in der Redaktion. Da hat kaum jemand mal die Zeit, sich der Alltagshektik selbst für Augenblicke zu entziehen. Es wird im wesentlichen gedruckt, wie’s kommt. Da rede ich übrigens nur von den Gutwilligen. Am unverlangten Textgemetzel mit dem einige andere sich dann wiederum über die Arbeit ihrer Kolleg*innen erheben, übt man eventuell die Konfliktbefähigung, aber nicht grad das Schreiben.

Jetzt, im Hobbysegment angekommen, ist der frühere Druck raus. Neben ein bisschen Befriedigung der Eitelkeit sind da keine tieferen Zwänge, existenzieller Art zumal, dabei. Zurück zu denen will ich sowieso nicht. Aber wie dann weiter und warum? 101 Anschläge… puh.

Der andere dringende Hinweis, den Butler in dem viel zitierten Interview noch gab, war der, dass Schreiben vor allem Lesen heiße. Das stimmt unbedingt. Ich bemerke da einen sowohl langfristigen Effekt, als auch einen unmittelbaren Zusammenhang. Je genauer und bewusster ich lese, umso dialogischer und damit produktiver wird der Prozess.

Vielleicht ist genau das ja der Anfang: Jeden Tag lesen. Richtig lesen. Und das bekomme ich inzwischen sogar schon ganz gut hin, glaube ich. 🙂

im Bild oben: Welche Stadt?

1 – „…write, every day, whether you like it or not. Screw inspiration.“ Octavia Butler, Interview by Randall Kenan, Callaloo, 1991)

Die Rechnung bitte

Die Erinnerungen an den 40. Jahrestag sind etwas verwaschen, wahrscheinlich eine Melange aus mehreren als Schüler in der DDR erlebten Jubiläen. Es gab da gewisse Überlappungen zwischen den Anlässen, Reden, Fahnen, Gesang, Applaus. Eine Art vereinheitlichter Liturgie aus Kyrie, Credo und so weiter. Also versuchte ich mir das konkreter werden zu lassen in der Vergegenwärtigung der Friedensfahrt.

Dieses Fahrrad-Etappenrennen war in jedem Mai ein mit Spannung erwartetes Ereignis. Die Junge Welt druckte zum Beginn, ich glaube doppelseitig, den Tourplan und dann jeden Tag ein auszuschneidendes Passfoto des Gewinners, das in einen dafür vorgesehen Rahmen in diesen Plan eingeklebt werden konnte. Ich habe Olaf Ludwig und Uwe Ampler recht oft und enthusiastisch geleimt. Panini dall’oriente.

Ich dachte, die Friedensfahrt von 1985 sei die mit Etappen in der Ukraine gewesen, aber nein, das war erst ein Jahr später, wie mich die Wikipedia erinnert. Wenige Tage nach Tschernobyl ausgerechnet, weswegen die meisten westlichen Teams auf den Start verzichteten. Der Witz vom strahlenden Sieger bot sich an und wurde auch ad infinitum gerissen.

Nein, ‘85 gab es nur einen kurzen Ausflug nach Moskau, ansonsten die Traditionsroute durch die Tschechoslowakei, Polen und die DDR. Olaf Ludwig, der aus heute nicht mehr rekonstruierbaren Gründen mein Idol war (wahrscheinlich einfach der Sog des Erfolgs), konnte wegen Krankheit leider nicht teilnehmen. ‘86 dann wieder strahlender usw.

Jedenfalls, das Ende des zweiten Weltkrieges war 1985 genauso weit weg, wie in die andere Richtung das aktuelle Jahr. Der direkte Kontakt zu Zeitzeug:innen, Widerstandskämpfer:innen beispielsweise und KZ-Überlebenden war schon allein über Vorträge in der Schule und andere Aktivitäten die der Festigung unserer sozialistischen Persönlichkeit dienen sollten, noch regelmäßig gegeben. Der seltsame erinnerungspolitische Spagat, gleichzeitig besiegt und befreit zu sein, funktionierte ganz reibungsarm für mich. Wir waren die Guten, eine Nation aus Jung- und Thälmannpionieren. Selbstverständlich waren wir befreit worden.

Anders als Gleichaltrige in vielen anderen Familien, war ich außerdem nicht mit Altvorderen konfrontiert, die der offiziellen Linie zum Beispiel mit eigenen Heldengeschichten aus dem Krieg widersprachen. Die Verwandten, mit denen ich näher zu tun hatte, waren ziemlich linientreu und außerdem schlicht zu jung, um selber Täter oder überhaupt irgendetwas aktives gewesen zu sein. Auf dem Nachttisch der einen Urgroßmutter ein Foto von einem Mann in Uniform. Die einzige direkte Verbindung zu – ja, wozu eigentlich? Das war so fremd, dass sich dieser kurze Moment bis heute eingeprägt hat. Ein gerahmtes Bild in der Wohnung der mir ansonsten unvertrauten, vielleicht zweimal überhaupt nur getroffenen Person.

Die Beschäftigung mit deutscher Schuld und Verantwortung verließ bald darauf wegen bekannter historischer Umstände den offiziellen Pfad, oder besser: der Pfad war weg. Der Bogen zurück kam dann vor allem über Shoa-Erinnerung. Ohne Wertung gesprochen, als Beobachtung eher, habe ich das Gefühl, dass der Krieg darüber in den Hintergrund trat. In der DDR also hauptsächlich heldenhafte Sowjetarmee und kommunistischer Widerstand. Danach Fokus auf Genozid und Gerechte unter den Völkern. Immer auf der guten Seite, immer bereit.

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„Auf unserem Boden“ – das ist die vielleicht am häufigsten in den Interviews auftauchende Wendung in Swetlana Alexijewitschs „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“. Da klingt das Entsetzen über und ein Quell der Widerstandskraft gegen den Aggressor durch. In den Protokollen der Soldatinnen, Krankenpflegerinnen, Fliegerinnen, Partisaninnen … wird vieles sichtbar gemacht. Verbitterung, Liebe, Ungerechtigkeit, (zum Teil bestialische) Gewalt, tiefe Verletzungen körperlicher wie seelischer Art, Heldinnenmut. Es gibt Spuren von Kritik an blinder Gefolgschaft, schlechter Versorgung, schwacher militärischer Führung.

Wie ein roter Faden zieht sich aber die Bindung zum eigenen Land, auch im ganz physischen Sinn, durch die Erzählungen. Aus Nebenbemerkungen wird deutlich, dass das schon vor 40 Jahren (das Buch erschien 1985) ein der Generation eigenes Phänomen, zumindest in dieser starken Ausprägung, zu sein scheint. Kleine Entschuldigungsfloskeln, im Sinne von, „so sind wir erzogen worden“, „haben geglaubt“, „anders als die jungen Leute heute“ deuten da Veränderungen in Haltung und Wahrnehmung an.

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„Ich erinnere mich, wie ein verwundeter deutscher Soldat die Hände in die Erde krallte, er hatte Schmerzen, doch ein russischer Soldat sagte zu ihm: ‚Hände weg, das ist meine Erde! Deine ist da, wo du hergekommen bist …‘“ Maria Wassiljewna Pawlowez, Partisanenärztin (aus S. Alexijewitsch, „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“)

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Auf unserem Boden.

Kein Zweifel bleibt bei den Interviewten an der Alternativlosigkeit. Sie wollten und mussten aktiv teilnehmen. Sozusagen Teil der Geschichte werden, sie nicht einfach nur geschehen lassen, sie nicht einfach anderen überlassen. Der darin schwelende Widerspruch zum tradierten Geschlechterbild wird dann wieder in der Nachkriegszeit problematisch. Die da beschriebenen Szenen von Zurückweisung und Verachtung lasen sich für mich fast schwerer als die Berichte von den Kriegsgräueln.

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Debattenbeiträge zu Sondervermögen, Waffenlieferungen, Wehrpflicht und so weiter gibt es ja im Überschuss. Die Unmittelbarkeit der Kriegsdrohung wird da sehr unterschiedlich empfunden, die potentielle eigene Betroffenheit ebenso. Ich finde gut, dass es dabei auch hörbare Wortmeldungen aus der Generation derer gibt, die am ehesten einberufen würden. Trotzdem kommt mir da einiges schief vor. Häufig wird der individuelle Entscheidungsspielraum überschätzt, denke ich. Wenn das Faktische mit Panzern vor dem Hoftor steht, entwickelt es doch noch einmal eine ganz eigene Macht, und die wirkt nicht unbedingt in vorhersehbarer Weise. Egal, geschenkt.

Zu sagen, dass man nicht bereit sei, für irgendwelche abstrakten Ideen, einen ohnehin abgelehnten status quo gar, zu sterben oder zu töten, ist individuell eine völlig ehrenwerte und zu respektierende (im Sinne von: niemand sollte zu gegenteiligem Handeln gezwungen werden) Einstellung. Als politisch über die einzelne Person hinausweisende Idee, wird das aber ein bisschen dünn.

Ein Problem entsteht in meinem Verständnis nämlich, wenn organisierter Antimilitarismus oder Pazifismus so unterkomplex argumentiert, wie es leider immer wieder vorkommt. Waffen ganz allgemein, oder meinetwegen auch nur bestimmte Waffen abzulehnen ist ok. Nicht darüber nachzudenken (oder aktiv darüber zu schweigen) aber, welche Folgen so ein Programm hat, kommt mir entweder politisch naiv oder intellektuell unredlich vor.

Jede Handlung hat ihren Preis. Wie hoch er ist und wer ihn bezahlt, das sollte schon Teil der Überlegung sein. Das gilt selbstverständlich auch für die Frage danach, warum die Gewährleistung der Verteidigungsfähigkeit eines Landes sich automatisch in Kapitalgewinnen privater Anleger widerspiegeln muss und in letzter Konsequenz immer nur als Zwangsmaßnahme vorstellbar zu sein scheint.

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Vor einigen Tagen ein zufälliges Gespräch mit einer jungen Frau aus der Ukraine. Sie lebt und arbeitet in Kiew. Grad war sie auf Urlaub, eine Freundin besuchen, mal durchatmen. Sonst mache sie das gelegentlich bei der Familie ganz im Westen des Landes. Da sei die Lage etwas entspannter.

Eingeprägt hat sich mir die Schilderung ihrer Einkaufsroutine unter Angriffsbedingungen. Je nachdem, wie weit die in der Warnapp angezeigten russischen Drohnengeschwader noch von der Stadt entfernt sind, falle die Entscheidung für den eiligen Weg zum teureren Laden oder den etwas weiter entfernten für günstigere Besorgungen.

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Zur Aussetzung der Wehrpflicht (auch schon wieder fast 15 Jahre her, meine Güte…) hatte ich ein gewisses Unbehagen. Nicht, weil ich es den jungen Männern nicht gönnte, dass ihnen der Zwangsdienst erspart bleibt. Ich nehme diesem Staat das gestohlene Jahr bis heute übel. Auch nicht, weil ich eine irgendwie ausgereifte verteidigungspolitische Position gehabt hätte oder habe, die eine allgemeine Wehrpflicht erfordert. Oder überhaupt irgendeine verteidigungspolitische Position. Bin ja kein stellvertetender Bezirkskassier irgendeines SPD-Ortsverbands.

Nur die, die gerne in den Krieg ziehen wollen, die „Soldat“ für einen erstrebenswerten Beruf halten, denen traue ich bis heute nicht so recht über den Weg. Die alleine zu lassen mit den ganzen Knarren – nunja.

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„Das war wie gesagt Stalingrad … Die schlimmsten Tage des Krieges … Aber ich konnte trotzdem nicht töten. Einen Menschen einfach sterben lassen … Mein Brillantstück du … Man kann nicht ein Herz für den Hass haben und eins für die Liebe. Der Mensch hat nur ein Herz, und ich dachte immer daran, mein Herz zu bewahren.“ Tamara Stepanowna Umnjagina, Garde-Unteroffizier, Sanitätsinstrukteurin (aus S. Alexijewitsch, „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“)

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Tatsächlich würde ich gerne, zumindest solange es noch Armeen und Gewehre gibt, zuallererst die, die glaubwürdig nicht töten wollen, bewaffnen. Stärker sind sie sowieso, aber dann könnten sie auch einmal den andren zügiger die Rechnung präsentieren.

im Bild oben: Statue im sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow

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Wer wen überlebt

9.000 Kirschbäume wurden ab 1990 mit Spenden aus Japan rund um Berlin gepflanzt, gut 1.000 davon auf oder am alten Mauerstreifen. In Treptow an der Kiefholzstraße findet sich so ein Stück Kirschblütenweg und es ist wirklich beeindruckend. Umittelbar vor den Osterfeiertagen brachen die Blüten auf.

Ich finde die Geste immer noch schön, ein Stück lebendiges Japan zu verschenken. So eine Art Freiheitsstatue, aber ohne die Fackel und den ganzen Bombast. Klar, das war damals die Promoaktion eines Fernsehsenders, wer weiß, was da die unmittelbare Marketinghoffnung war. Aber was bleibt, ist doch was ganz ansehnliches. Da picknicken Leute drunter und dann posten sie Bilder von Blüten in ihre Social-Media-Feeds. Schöne Nachhaltigkeit.

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Man hört dieser Tage mal wieder von JK Rowling. Einerseits wird ihre Buchreihe neu verfilmt. Andererseits ist sie Teil der medialen und juristischen Kampagne zur Delegitimierung von Transpersonen. Und diese Kampagne hatte grad was zu bejubeln mit dem Urteil des britischen Supreme Court, der Geschlecht per Beschluss biologistisch und somit als binäre Kategorie definiert.

Die Schriftstellerin, die durch die Bücher über eine Internatsschule für Zauberer und Zaubererinnen (auf keinen Fall Zauberer*innen oder Zauberer:innen, wie wir jetzt wissen) zur Multimillionärin wurde, feiert mit Zigarre und Spritz ihren Erfolg auf dem Weg, eine ohnehin marginalisierte Gruppe Menschen, mit aller Gewalt zurück in ihre prekären Nischen zu verdrängen. Ordnung muss schließlich sein. Wer hätte gedacht, dass die Autorin sich aus ihrem eigenen Werk ausgerechnet Dolores Umbridge zum Vorbild nehmen würde.

Achja, das Werk…

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Ursula K. Le Guin wurde 2005 vom Guardian zu Rowling befragt. Die Idee, dass auch in den Welten der Fantasyliteratur eine Art Ausbildung für Magie integriert werden sollte, kam ja schon recht ausführlich in der initialen Earthsea-Trilogie (rund um 1970) vor. Le Guin sieht nachvollziehbarerweise kein direktes Plagiat, wie einige ihrer Fans, zeigt aber deutliches Unbehagen mit Rowlings Schweigen, wenn es um Fragen literarischer Traditionen und Herkünfte geht.

Auch an anderer Stelle macht Le Guin den großen Abstand nochmals deutlich: “Her book, in fact, could hardly be more different from mine, in style, spirit, everything.” Sie kritisiert aber nochmals, dass Rowling so tut, als gäbe es keine Herkunft, keine Vorgänger(*innen, sry). Besonders hart im Guardian: “She has many virtues, but originality isn’t one of them.”

Allerdings frage ich mich seit ich dieses Zitat kenne und “A Wizard of Earthsea” gelesen habe, was wohl die virtues, die Tugenden also der JK Rowling jenseits nicht vorhandener Orginalität sein sollen. Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, Fantasie und Begabung zu Charakterentwicklung oder Storytelling scheinen nicht dazuzugehören. Jedenfalls nicht im Vergleich zu Le Guin.

Die Earthsea-Bücher tragen uns, soweit wir uns denn auf das Genre einlassen wollen, zum Kern des Menschseins. Sie zeigen, dass die größten Auseinandersetzungen in der Regel gar nicht mit äußeren Antagonist:innen, sondern im Inneren des Selbst stattfinden. Schon allein deshalb, weil der “Feind” viel schneller erkannt werden kann als das “Ich”. Le Guins Geschichten bieten Auswege an, die keine Siege sind, sondern ein Verstehen.

“I know that there is only one power that is real and worth the having. And that is the power, not to take, but to accept.” – Ich weiß, dass es nur eine Kraft gibt, die wirklich und es wert ist, sie zu haben. Und das ist die Kraft, nicht zu nehmen, sondern zu akzeptieren.

Bisschen viel Tao für einige vielleicht, aber tausendmal besser, als die Bonbon-Bürokratie der Potter-Bücher, wo am Ende alle Jungs ihre Mädchen bekommen und das bei Geburt zugesprochene Geschlecht nebst zugehöriger Organe artig durchs Leben tragen. Irgendwie lustig auch, dass man sich zwar einen Bahnsteig zwischen 9 und 10, aber kein Geschlecht jenseits von 0 und 1 vorstellen kann.

Als Leser jedenfalls gestatte ich mir davon auszugehen, dass Le Guins Ged aus Earthsea nicht nur seine Schöpferin lange überleben wird, sondern auch Harry Potter und JK Rowling. Letztere verkauft halt ein Buch über einen Jungen, der auf eine Zauberschule geht.

Ursula K. le Guin aber hat vom wirklichen Leben geschrieben. Das ist doch auch was schön Nachhaltiges.

im Bild oben: Hanami in Treptow

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Sozialistischer Realismus

Chemnitz ist keine sonderlich schöne Stadt. Das „sächsische Manchester“ muss ja schon in seiner Blütezeit mehr nach Industriearbeit, denn nach Lustwandelei ausgesehen haben und das soll jetzt keine unberufene Romantisierung proletarischer Lebenswelten einleiten. Grönemeyer mochte, wie wir wissen, sein Bochum ganz besonders „vor Arbeit ganz grau“. So warm sind meine Gefühle hier nicht, auch wenn Chemnitz ein Ort meiner Kindheit ist, wahrscheinlich aber kein entschieden prägender.

Meine Erinnerung ist die an eine Brache in der Mitte der Stadt. Das war eine auch in den 1980ern noch unübersehbare Kriegswunde, die nach der Wiedervereinigung denkbar hässlich überbaut wurde durch ein riesiges Parkhaus nebst Einkaufzentrum. Der früher etwas verloren herumstehende, von der fast völligen Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg verschont gebliebene Rote Turm, ist nun zweiseitig von höher aufragenden Wänden der neu erbauten Shopping-Mall umschlossen.

Stehen geblieben nach 1990 ist noch der zentrale Bau aus der DDR, der Stadhallenkomplex und gegenüber der Nischel, wie die Einheimischen den riesigen kupfernen Kopf des zwischenzeitlichen Namenspatrons der Stadt, Karl Marx, auch schon in meiner Kindheit nannten. Die Stadthalle zeigt derweil außen wie innen recht kühne Modernität. Ganz schön monumental, aber durchaus einladend dabei. Das rötliche, aus der Gegend stammende Gestein der Verkleidungen (für Geologieinteressierte: Rochlitzer Porphyr) gibt einen freundlichen rötlichen Grundton. In und um den Bau finden sich einige Kunstwerke, die auch in meinen Schulbüchern besprochen wurden. Das vielleicht bekanntest davon ist Fritz Cremers Galilei.


Bockwurstgeruch begrüßte mich im Foyer, als ich nach einem langen und sehr lehrreichen Tag bei den Chemnitzer Linuxtagen zum Kulturprogramm mit der Familie eilte: Konzert des Sächsischen Sinfonieorchesters Chemnitz e.V. Für mich war das eine Premiere, hatte ich bis zu diesem Abend doch noch kein Amateurorchester spielen hören. Das Programm: Gassenhauer. Rossinis Tell-Ouvertüre (die ganze, nicht nur der Schunkelteil am Ende) rummste ordentlich, dann Klavierkonzert Nr. 1 von Tschaikowsky. Das getragen vor allem von der zugebuchten Solistin. Dann Pause und etwas Angst vor Beethoven 5 im zweiten Teil des Konzerts.

Tatsächlich war der Kopfsatz recht breiig dahingemetzelt, aber irgendwie wurde es ab dem zweiten dann doch besser. Mit drittem und viertem Satz schien das Zusammenspiel dann schließlich wieder erbaulich zu sein. Und während der ganzen Zeit und noch lange danach versuchte ich zu verstehen, warum. Offenbar habe ich da eine kognitive Dissonanz. Beethoven, die Sinfonien zumal, ist nichts für Amateure? Dabei sollte ich genau das doch großartig finden, was ich da gesehen habe, den Zugang zur hohen Kunst vorbei an Geniekult und Perfektionismus.

Schon während des Konzerts der Gedanke, dass die auf der Bühne den Beethoven erleben, wie ich es gar nicht könnte. Nicht einfach nur konsumieren, selber heranwagen, im Zweifelsfall scheitern. Auf jeden Fall mittendrin. Später dann, weil es mich nicht loslässt, erweitert sich das um die Überlegung, dass Aneignung eben auch delegiert erfolgen kann. Das geschieht aber nur dann überzeugend, wenn die Proxies nahbar sind; mir ebenbürtig.

Wenn das glaubwürdig gelingt, wird Spezialisierung oder Arbeitsteilung vom Trennenden zum Verbindenden. Die da oben sitzen, tun das nicht, weil sie etwas besseres sind, sondern weil sie das Beste unseres Gemeinsamen präsentieren. Dann bin ich nicht mehr einfach nur passives Publikum, sondern Teil der Aufführung. Mag sein, dass das Orchester in der Chemnitzer Stadthalle gar nicht „besser“ wurde im zweiten Satz der 5. Sinfonie. Eventuell habe ich nur einfach besser zugehört. Anders. Teilnehmend. „Wer wohnt schon in Düsseldorf…“ Ja, danke Herbert.

im Bild oben: Blick auf die Bühne der Stadthalle Chemnitz

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Wir sind alle nur menschlich

Nach Durchsicht alter Lesebühnentexte habe ich immerhin einen gefunden, der die wenig glorreiche Rostocker Jugend zum Thema hatte. Circa 2003 also, mit vielleicht zehn Jahren Abstand (plus die knapp 250 km zwischen Lichtenhagen und Friedrichshain), habe ich da auf ein paar Lacher kalkuliert. Warum auch nicht. Nachfolgend dokumentiert der Versuch, eine (in der Sache tatsächlich komplett wahre) eher traurige Geschichte bühnentauglich zu machen.

***

Erich Honecker schaute mir auf den Teller. Erich Honecker. Mit seinen gütigen Augen, die Lippen umspielt von einem milden Lächeln, schaute er mir auf den Teller. Es gab Milchreis. Das war nichts besonderes, in der Schulspeisung gab es oft Milchreis. An der Essensausgabe stellten sie dir den Teller hin, du gingst zu deiner Hortgruppe und setztest dich. Auf dem Tisch standen zwei Schüsseln, in denen je ein Löffel steckte. Einmal Zimt, einmal Zucker.

Zucker sollten wir schön viel nehmen auf den Milchreis. Überall sollte man sparen, bloß nicht beim Zucker. Der kam aus Kuba. Davon mussten wir ganz viel essen, um den Weltmarktpreis zu stabilisieren und so dem kleinen Bruderland kameradschaftlich unter die Arme zu greifen. Obwohl Zucker ja gar nicht gut ist für die Zähne.

Das war immer ein munterer Schlagabtausch im Politbüro, wenn die Ökonomen mit den Verantwortlichen für die Volksgesundheit diskutierten:
„Unsere Menschen müssen mehr Zucker essen, um dem Klassenfeind die Zähne zu zeigen!“
„Der Genosse Ökonom meint wohl die von Karies zerfressenen Restposten in den fauligen Mäulern unserer Menschen?“
„Ah, da hört man doch gleich wieder den Zynismus des Genossen Volksgesundheitlers. Es mangelt ihm anscheinend an der Fähigkeit, die Prioritätensetzung der Partei zu erkennen.“
„Und dem Genossen fehlt es anscheinend an Respekt vor der großen Aufgabe, die Volksgesundheit zu gewährleisten.“
„Der Genosse hat wohl schon die Zeit seines Urlaubs in Sibirien vergessen?“

Jener Genosse schwieg daraufhin und so aßen wir jede Menge Zucker. Mit Erfolg, wie ich sagen darf, zehrt Fidel Castro doch noch immer von unserem damaligen Zuckerverbrauch. Und selbst noch das kapitalistische westdeutsche Gesundheitssystem haben wir mit unseren kranken Zähnen inzwischen an den Rand des Kollaps‘ gebracht.

Gütig lächelt Erich Honecker zu allem. obwohl er bestimmt nicht mehr in meiner alten Schulspeisung hängt, wie er es damals tat, als er noch darauf zu achten hatte, dass ich mein Essen nicht gegen Matchboxautos an Sören Wagner verschacherte. Sören war der unbegabte Sproß einer Stasi-Familie und hatte vor allem einen Hang zu Hunger und Fettleibigkeit geerbt. Eigentlich ein ganz netter Kerl, den ich im Rahmen einer Pionierpatenschaft betreute. Wir machten zusammen Hausaufgaben.

Zumindest daran, dass er den Wechsel von der fünften in die sechste Klasse schaffte, war ich mitschuldig. Sören hat mir das nie vergessen. Auch nicht als herausragender Nazischläger, der er später war. In der Betonburg, die mir den größten Teil meiner Kindheit und Jugend Heimat war, galt ich dann als sein persönliches Haustier und das kam so:

Eines gar nicht so schönen Tages, ich war gerade auf dem Weg zur elterlichen Wohnung, trat mir so ein Lümmel, samt seiner 12 (in Worten: zwölf) Kumpanen in den Weg und informierte mich, dass er gehört habe, es gebe hier noch einen Linken. Ich heuchelte Entsetzen und brabbelte irgendwas von wegen, dass das ja wohl nicht die Möglichkeit wäre, und wo der wohl herkäme, dieser Linke.

Mit einem reichen Erfahrungsschatz versehen, wusste ich natürlich, worauf das alles hinauslaufen würde. Und, wie konnte es anders sein, unterbrach mich der Wegelagerer unwirsch und meinte, dass er gehört habe, dass ich dieser Linke sein soll.

Tja, wie soll man sich da rauswinden, vor allem wenn dafür angesichts der ersten schon niedersausenden Schläge, gar keine Zeit bleibt. Weglaufen wird auch ungemein erschwert, wenn man erst einmal am Boden festgehalten wird. Nun, ich will gar nicht groß auf die Einzelheiten eingehen. Schon allein deshalb, weil ich mich noch am selben Tag kaum an irgendetwas erinnern konnte.

Die Sache hatte aber ein ungewöhnliches Nachspiel. Sören Wagner, zu der Zeit schon mit einem recht gefestigten Ruf als Anführer einer üblen Nazibande versehen, bekam von meiner Abreibung Wind und beschloss darauf hin, dass so etwas in seinem Revier aber nicht ginge. Er erkundete also, wer da über die Stränge geschlagen hatte und klärte den Rädelsführer auf gewissermaßen familiäre Weise über die informelle Ordnungsstruktur des Stadtteils auf.

Die Blutspur auf der Straße war noch Tage später zu sehen. Auch im Haus. Meinem Haus. Dahin schleifte der gute Sören sein Opfer, also meinen Täter, nämlich, um uns einander vorzustellen. Ich weiß nicht, für wen die Situation unangenehmer war. Also, rein körperlich natürlich für den anderen. Aber auch ich fühlte mich ein wenig gedemütigt, als Sören uns, na, ich sag mal: bat, einander die Hände zu geben.

„Und du, Tobias, du entschuldigst dich jetzt, danach reden wir weiter.“ Mit Panik in den Augen entschuldigte sich Tobias bei mir. Das wäre wahrscheinlich ein guter Moment gewesen, um Gnade für ihn zu bitten. Und manchmal denke ich, dass ich das im Interesse meines Seelenheils auch hätte tun sollen.

Aber was soll ich sagen – wir sind alle nur menschlich.

im Bild oben: Erich Honecker, wie er überlebensgroß in meiner Schulspeisung hing (Bild rechtefrei aus dem Bundesarchiv)

Schulden

Auf der Berlinale den Film „Die Möllner Briefe“ gesehen. Es geht dabei um die Geschichte von hunderten Beileids- und Solidaritätsbekundungen für die Opfer und Hinterbliebenen der Anschläge vom 23. November 1992. Mehr als 27 Jahre lagen die Briefe bei der Stadt Mölln und nur durch einen Zufall erfuhr die Familie Arslan von deren Existenz. Der Film begleitet vor allem Ibrahim Arslan, der als 7-jähriger von seiner Großmutter Bahide Arslan in ein nasses Handtuch gewickelt unter dem Küchentisch überlebte, dabei, wie er ausgewählte Absender*innen besucht, wie er die Verbindung hält zu den Familien die im Haus Ratzburger Straße ihre Existenzen und Wohnungen verloren hatten und wie er mit der Ignoranz deutscher Behörden umzugehen gelernt hat.

Zu sehen, wie präsent das Trauma mehr als 30 Jahre nach dem Verbrechen für die Familie ist, für die überlebenden Geschwister, die Mutter – das ist kein einfacher Stoff. Der Film ist dabei nicht voyeristisch, vermeidet auch die Ästhetisierung des Leids. Aber er ist schon sehr dicht dran.

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Ebenfalls mit den Hinterbliebenen rechtsextrem motivierter Morde beschäftigt sich „Das deutsche Volk“, der auch auf der Berlinale Premiere hatte. Darin gibt es eine Szene, in der Emiş Gürbüz, Mutter des am 19. Februar 2020 ermordeten Sedat Gürbüz, während einer ermüdenden Diskussionen mit Offiziellen aus Hanau, irgendwann abwinkend meint, dass man die Stadt ja vergessen könne. Daraus strickt einer der Verantwortlichen ihr gegenüber den Vorwurf, sie hätte gesagt, dass sie Hanau hasse, wie sie ja auch Deutschland hasse.

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„Sie müssen doch auch sehen…“

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„… auch nicht einfach für uns …“

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Als das in Hanau passiert ist, hat mich die Stadt Hanau angerufen und gesagt: »Wie können wir denn solidarisch und respektvoll mit den Betroffenen in Hanau eine Gedenkveranstaltung organisieren?« Ich habe gesagt: »Wieso fragen Sie da nicht die Betroffenen aus Hanau?« Ibrahim Arslan im Interview mit ak, 15.11.2022

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Die taz berichtet, dass die Hanauer Stadtregierung unzufrieden mit der Führung der Hinterbliebenen, insbesondere von Emiş Gürbüz, sei. Die hatte auf der diesjährigen Gedenkveranstaltung die Kritik an der Stadt Hanau erneuert. Außerdem soll sie auf der Premiere von „Das deutsche Volk“ gesagt haben, sie hasse Deutschland, Hanau und den Hanauer Oberbürgermeister.

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„…bei allem Verständnis für die Trauer…“

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Ibrahim Arslan hat über die Jahre wiederholt darauf bestanden, dass im Zentrum der Erinnerung an Mölln die Opfer und deren Angehörige stehen müssten, dass sie nicht Statisten einer offiziellen Inszenierung sein könnten. (siehe auch: Möllner Rede im Exil)

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Die [Hanauer] SPD-Fraktionsvorsitzende Ute Schwarzenberger erklärte zudem, sie wünsche „Frau Gürbüz die Kraft, ihren Hass zu überwinden, um sich künftig respektvoll zu äußern“. aus dem taz-Beitrag.

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Respekt

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Teil der Ausstellung „Three Doors“, 2022 im Frankfurter Kunstverein, die sich unter anderem mit den rassistischen Morden von Hanau befasste, der unmittelbaren Verantwortung von Polizei und Stadt, den Ermittlungsfehlern und Nachlässigkeiten, den Folgen des alltäglichen Rassimus, waren Videostatements der Hinterbliebenen im Raum der Initative 19. Februar Hanau. Emiş Gürbüz sagt dort: „Ich will mein Kind zurück.“ Das darf die Mutter wohl. Trauern. Der Satz davor ist es, der ausdrückt, was so viele nicht hören wollen: „Deutschland schuldet mir ein Leben.“

im Bild oben: Aufkleber, so gesehen 2022 in Frankfurt/Main. Peter Beuth war von 2014-2024 hessischer Innenminister.

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Smalltown Croatia

Keine Texte mehr, keine Threads. „Einfach nur eine unzusammenhängende Abfolge einzelner Seufzer, Schreie und Tobsuchtsanfälle.“ So ist es mir in einem frustrierten Moment die Tage rausgerutscht. Was soll man auch machen mit dem Trommelfeuer der schlechten Nachrichten. Schnell abgeschossene Meinungen gibt es im Dutzend an jeder Ecke und für eine ausgeruhte Motivationsrede habe ich schon vor zwei Wochen viel zu viel Kraft aufgewandt.

Tatsächlich bin ich deshalb nicht unglücklich, grad von den taz-Kolumnen eine kurze Auszeit nehmen zu können. Durchatmen. Dort kriegen die ihre Seiten auch ohne mich voll mit den ganzen Wahl- und Berlinale-Berichten. Und das Filmfestival kann ich auch an dieser Stelle hinzuziehen. Ich wohne ja in der Nähe.

„Zečji nasip“, ein kroatischer Jugendfilm hat es mir angetan. Die Geschichte ist jetzt nichts dramatisch neues. Eine Art „Smalltown Boy“, als Film halt. Die Exposition alleine macht in den ersten fünf Minuten völlig unmissverständlich klar, wo wir da sind. Diese furchtbare Männlichkeitsperformance der Dorfjugend muss gar nicht groß vertieft werden. Ein paar Andeutungen und das Gesamtbild kann vom Publikum problemlos vervollständigt werden. Wir leben ja alle auf dem selben Planeten. Zwischendurch fällt es sogar ein bisschen schwer, die Hauptfigur Marko, der wirklich sehr dringend dazugehören will, zu mögen. Aber allein schon seine zärtliche Zuneigung zum jüngeren behinderten Bruder Fićo gibt den Blick auf einen richtigen Menschen frei.

Und dann ist es eben eine Geschichte vom Drama des Andersseins in einer feindseligen Umwelt, von Eltern, die ihre Überforderung hinter grausamer Ablehnung verstecken usw usf. Alles ist sehr traurig – und sehr gut gespielt. Die Metaphern (Überschwemmung als wachsende Bedrohung, Armdrücken als durchschaubare Maske usw) sind fast ein bisschen zu abgegriffen. Aber an sich ist es auch diese Geschichte. Ich dachte beim schauen irgendwann, dass der Film gut in die 1990er gepasst hätte, als ich ungefähr so alt war, wie die Protagonisten hier.

Ich fühlte mich damals als einer Art Zwischengeneration zugehörig. Die letzte, noch verbunden mit der Zeit von Bronski Beat in der Vergangenheit und die erste, die schon Teil haben durfte an einer Art goldenen, freien Zukunft.

Gewiss, zwischendurch hatte ich gar nicht so selten das Gefühl, dass das Eis recht dünn war. All die Toleranz fühlte sich nicht so hundertprozentig gefestigt an. Dazu war die Gefahr zu nah. Ein wichtiger Autor zur Sache war zum Beispiel Gudmund Vindland („Sternschnuppen“, „Der Irrläufer“), der die schwule Emanzipation in „Chlorwegen“ in den 1970ern zum Thema hatte. Dieses ganze bigotte Pack das er da beschrieb war ja nicht weg. Dort nicht und hier nicht. Aber bald in der absoluten Minderheit. So war zumindest die Hoffnung.

Aber nein. Smalltown ist immer noch genau das. Davon handelt der Film.

Was mir sehr gut gefallen hat, ist, dass er dabei noch mit mehreren Klischees bricht. Es gibt ja immer wieder so pseudolinke Argumentationsketten, wo behauptet wird, dass der Blick auf irgendwelche skurrilen Minderheiten vom Klassenkampf und dergleichen ablenke. Als gäbe es keine queeren Arbeiter*innen oder Prekäre. „Zečji nasip“ kickt Haupt- und Nebenwidersprüche ganz beiläufig vom Tisch und zeigt den Preis, den alle zahlen für die Performance ihrer Normalität. Die ist nämlich so fragil, dass sie jeder Abweichung, Irritation oder Störung nur mit Hass und Entfernung aus der Gemeinschaft begegnen kann.

Dieses Beharren auf einem Naturzustand, den es mit allen Mitteln zu verteidigen gilt, ist billiges politisches Pulver, das derzeit fassweise verschossen wird. Das vernebelt einerseits tatsächlich die Sicht auf beispielsweise den Klassenkampf. Andererseits werden Menschen dabei getroffen. Schutzlos ausgeliefert. Und deshalb ist so ein Film wie „Zečji nasip“ leider kein Blick in die traurige Vergangenheit, sondern hochaktuell.

oben im Bild: Den Film würde ich mir auch ansehen. Wenn ich nicht schon drin leben tät.