Rohdiamanten

Von manchen Büchern möchte ich nicht, dass sie aufhören. Das muss mir nicht unbedingt bewusst sein. Dann macht sich unterschwellig das Gefühl bemerkbar, indem sich unwillkürlich die Lesegeschwindigkeit verringert. Nach jedem Kapitel lege ich das Buch zur Seite. Das Lesen wegprokrastinieren. Während die ersten zwei Drittel in wenigen Tagen verschlungen waren, braucht es für das letzte dann mindestens doppelt so viel Zeit.

Bei Joe Westmorelands vor ein paar Wochen neu aufgelegtem autofiktionalen Roman „Tramps like us“ war es mal wieder soweit. In gewisser Weise schmerzlich, denn der Unwille zum Ende zu kommen, liegt im Stoff begründet. Worauf die Coming-of-age-Geschichte eines jungen Schwulen und seiner Freund*innen zwischen Mitte der 1970er und Mitte der 80er in vielen Fällen hinausläuft, ist von Anfang an klar. Westmoreland sagt, dass der Arbeitstitel des Buches „How I got HIV“ war. Gut, dass der in die Schublade gewandert ist.

Selbstverständlich stellt „Tramps“ sich der Katastrophe. Entscheidender aber ist, dass das Buch sich dem Leben seiner Protagonist*innen öffnet, den Ausgestoßenen, Verwahrlosten, Einsamen. Die finden zueinander, feiern und lieben sich. Sie halten sich mit beschissenen Jobs über Wasser, nehmen zu viele Drogen, hören gute Musik. „I want my friends to be remembered“, beschreibt Westmoreland seinen Antrieb in einem Interview aus Anlass der Neuveröffentlichung. Die Erinnerung an die Freund*innen lebendig zu halten ist ein hervorragender Grund, auch nur irgendetwas zu schreiben.

Das Schöne ist, dass es ihm tatsächlich gelingt, seiner Gang ein Stück Unsterblichkeit zu schenken, er gleichzeitig aber weit mehr erzählt. Ich habe einen Augenblick gebraucht, mich mit dem sehr zurückgenommenen, tagebuchhaften, dabei fast schon naiven Stil anzufreunden. Westmoreland legt in dieser strikt beobachtenden Collage einzelner Szenen ein Mosaik von Typen und Orten, ohne dabei oberflächlich zu verallgemeinern. Es werden keine Interpretationen mitgeliefert, dafür umso mehr Material für eigene Bewertungen. Rohdiamanten.

Die Brutalität der Herkunftsfamilie mit dem Vergewaltiger als Vater wird mit derselben nüchternen Genauigkeit beschrieben, wie eine wilde Partynacht in New Orleans oder der von AIDS und begleitenden Krankheiten verursachte körperliche Verfall der engsten Freunde. Das ist alles passiert und so soll es auch erzählt werden, weil eben nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist.

Leider sehe ich nicht so recht, dass „Tramps“ so bald in deutscher Übersetzung erscheinen wird (es ist schon eine Wunder, dass es überhaupt noch einmal gedruckt wurde, nach der völlig abenteuerlichen Publikationsgeschichte des ersten Versuchs, inklusive Herzinfarkt des Verlegers und einer geplanten Buchpremiere in New York am 11. September 2001). Schade ist das, weil es sich eben nicht um ein bisschen lokale Minderheiten-Folklore handelt. Hier liegt, eventuell gar nicht einmal unbedingt ganz bewusst so angegangen, eine Erzählweise vor, die ihre Teilchronistenpflicht ernst genug nimmt, um durch ein kleines Fenster einen doch sehr weiten Blick auf eine ganze Welt in ihrer Zeit zu öffnen.

In seinem im englischsprachigen Raum viel gefeierten und ebenfalls bislang nicht auf deutsch erschienen Debüt („Gay Bar – Why we went out“, 2021) näherte Jeremy Atherton Lin sich essayistisch einem anderen Abschnitt der selben Welt an. Da musste ich bei „Tramps“ öfter dran denken. Während Westmorelands Prosa ungeschliffener und unmittelbarer daherkommt, zeigt Lin deutlich, dass er nicht zufällig aus gebildeter intersektionaler Perspektive schreibt (inklusive gelegentlichen Namedroppings irgendwelcher hipper Philosophen :). Neben der interessant zu lesenden eigenen Geschichte als junger schwuler Asian-American Mitte der 1990er zwischen Großbritannien und den USA, reflektiert er unter anderem über die verschiedensten Diskriminierungslinien, auch über die Normierung und Borniertheiten innerhalb der Szenen. Seine Tonlage ist mir dabei sehr angenehm. Noch dazu erkenne ich vieles wieder, gerade auch wegen generationeller Nähe.

Lin ist es in diesem Nachruf auf eine untergegangene Landschaft des Begehrens sehr wichtig, der von Brüchen, Vergessen und Verschwinden geprägten Tradierung queerer (dabei vor allem schwuler) Subkulturen auf die Spur zu kommen. Denn was bedeutet es, wenn die Lebenserfahrung und Geschichte der vermeintlichen gesellschaftlichen Mehrheit wichtige Teile, wenn nicht sogar den Kern des eigenen Selbst schlicht nicht abbildet und der Arbeitsspeicher der selbst gewählten sozialen Verbindung mit jeder nachwachsenden Generation komplett auf Null gesetzt wird? Das Finden des eigenen Ortes innerhalb der schwulen/queeren Szene ist bei Westmoreland wie Lin trotz der 20 Jahre Unterschied faszinierend ähnlich.

Letzterer liefert auch eine schlüssige Erklärung für die Art der erst unsicheren und zögerlichen, dann umso explosiveren Aneignung des neuen Raums: „I didn’t know how else to learn history but to try it on.“ (etwa: „Ich wusste nicht wie Geschichte, anders als sie anzuprobieren, zu erlernen war.“) Wohlgemerkt, die eigene Geschichte, die eben nicht die der biologischen und geografischen Herkunft, sondern die eines Versprechens auf Künftiges ist. Oder wie es in „Tramps“ heißt: „Home was something in the future that had yet to be created, not someplace in the past.“ (etwa: „Zu Hause war etwas in der Zukunft erst zu erschaffendes, und nicht ein Ort in der Vergangenheit.“)

Die subversive Kraft des Wissens um eine mögliche andere Zukunft, eine Heimat nach eigenen Vorstellungen, abseits der vorgefundenen Zumutung von Welt, kann in ihrer subtilen Radikalität durchaus überraschen. Deshalb ist es schon ganz gut, gelegentlich an dieses immense positive Potential erinnert zu werden. Ich zumindest denke da nicht jeden Tag dran, aber wenn ich solche Bücher lese, immerhin ein bisschen öfter.

im Bild oben: Tom of Wrocław oder so ähnlich.

Wer das Walter-Benjamin-Zitat findet, kann sich die Jeremy-Atherton-Lin-Gedenkmedaille umhängen.

–> nichts mehr verpassen: Newsletter abonnieren

Arbeiten, sprechen, atmen

Beim Wühlen im Netz auf den Text gestoßen worden, mit dem Josefine Soppa in diesem Jahr den Wortmeldungen Literaturpreis für kritische Kurztexte gewonnen hat (nachzulesen auf der Webseite der Wortmeldungen oder in Buchform bestellbar bei der Buchhandlung des Vertrauens oder gleich beim Verbrecherverlag). „Klick Klack, der Bergfrau erwacht“ – der Titel allein ist ne Wucht und der einführend zitierte Wortwechsel von Weizenbaums Chatbot Eliza gibt die Richtung vor. Eingabe: „Krieg ist der Vater aller Dinge.“, Ausgabe: „Erzählen sie mir mehr über ihre Familie!“ Und das tut sie dann auch.

Die verwendeten Bilder und Assoziationen sind unglaublich stark. Die Idee, den sukzessiven Verlust der Sprechbefähigung beim an Parkinson erkrankten Vater und sein Kämpfen um sinnvollen Ausdruck analog zur Präsentation sogenannter künstlicher Intelligenz zu setzen, ist sehr spannend ausgebaut. Mich nimmt überhaupt das Spiel von sehr körperlicher Beschreibung hin zu abstrakten Konzepten der Sinnbildung sehr gut mit.

Am meisten beschäftigt mich an „Klick klack“ der Abschnitt, der da beginnt mit einem Bezug auf Frédéric Valins Kritik an einer bestimmten Literatur der Arbeiter*innenkinder. Während der aber durchaus parteiisch und ziemlich gnadenlos auf den darin enthaltenen Verrat der Kinder an ihren Eltern und deren Klasse hin zuspitzt, entscheidet sich Soppa zumindest im vorliegenden Text für eine andere Option. Zunächst einmal nicht einfach gehen (wie zB. der von V. kritisierte Eribon). Die ganze Widersprüchlichkeit bleibt mit ihr, dem kleinen Baby und dem verschwindenden Vater in einem Raum. Quasi eingesperrt. Es wird eine intergenerationelle Kontinuität entworfen. Im sinnlosen Arbeiten, im Nicht-richtig-sprechen-können und zu guter Letzt im Atmen. Wieder zurück vom Abstrakten hin zum Konkreten, zum Körperlichen. Das strahlt tiefe menschliche Wärme aus.

Das Gefühl der Unterlegenheit, das Imposter-Syndrom der Aufsteiger*innen, die im Versuch, ihrer Herkunft zu entkommen schier zerbrechen, illustriert Soppa wiederum mit der Maschine. Auch wenn mir die Symbolik, die sie der KI, „dem größten aller Arbeiter*innenkinder“ überhilft, ein bisschen zu romantisierend daherkommt, funktioniert sie zweifellos als Spiegelung unseres Daseins.

Und dann kommt ein ganz faszinierender Satz: „Das Paradigma, KI nicht* zu vermenschlichen, dient auch dazu, eine „Aura der Immaterialität“ aufrechtzuerhalten und die menschliche Arbeit und Ausbeutung, die unzähligen prekären Biographien, die wörtlich in ihrer Schrift sind, zu verbergen.“ Faszinierend deshalb, weil der für mich mit genau der gegenteiligen Aussage richtig wäre, also: „Das Paradigma, KI zu vermenschlichen, dient auch dazu, die menschliche Arbeit und Ausbeutung, die unzähligen prekären Biographien zu verbergen.“

Tatsächlich würde ich behaupten, dass die large language models, die wir als KI bezeichnen, von den Nutzer*innen als selbständige Entitäten ohne Herkunftsgeschichte wahrgenommen werden. Gerade in der Anthropomorphisierung existieren sie losgelöst von der ganzen menschlichen Arbeit, die da hineingeflossen ist. Insofern ist die KI dann aber vielleicht doch eine geeignete Repräsentanz der Arbeiter*innenkinder. Nur eben mehr noch auf der von Valin beschriebenen Flugbahn: als eiskalte Verräterin ihrer Klasse im Dienste der herrschenden Verhältnisse und ihrer Statthalter*innen.

*meine Hervorhebung

oben im Bild: Sky’s the limit.

–> nichts mehr verpassen: Newsletter abonnieren

Umblättern 2024

Nach längerer Zeit in der äußere und innere Umstände mich hinderten, ganze Bücher zu lesen, hatte sich das schon 2023 wieder etwas eingerenkt. Es folgte ein gutes Jahr mit ordentlich Strecke auf der Leseliste. Nachfolgend eine Bilanz. Zuerst ein größerer Bogen, der gar nicht beabsichtigt war und mir nachträglich aufgefallen ist. Weiter unten dann noch so eine Art Top 5, die als extra Empfehlung verstanden werden soll, falls die Sachen nicht ohnehin schon bekannt sind.

Bei meiner Buchauswahl versuche ich nach Möglichkeit was halbwegs zeitgenössisches zu wechseln mit älteren Sachen, so genannten Klassikern und anderes, zum Teil über Jahre liegen gebliebenes. Ein paar Wiederholungstaten sind dabei, Prüfung der Wirkung und Bedeutung mal wichtig gewesener Werke, aber hauptsächlich für mich neues. Das ist ja das schöne an Büchern. Die können uralt sein, alle kennen sie, aber irgendwann lese ich sie zum ersten Mal, beginne ich, ein mir bis dahin völlig unbekanntes Werk zu erkunden. „Zu spät“ wird nur das erste ungelesene Buch auf dem Nachttisch im Hospiz sein. Man ahnt es, ich bereite eine große Beichte vor. Gemach, gemach, kommt später.

Ohne sie gesucht zu haben, schien einiges an Gemeinsamkeiten auf, Themen, die sich durch mehrere Bücher zogen. Am auffälligsten war die Mehrfachbegegnung mit dem Motiv der Identitätskonstruktion aus mehreren voneinander unabhängigen Persönlichkeitsbestandteilen. Besonders interessant dabei etwas, das ich den Aushandlungsprozess zwischen rechter und linker Gehirnhälfte nennen würde. Die Frage, wie Gefühl und rationelles Denken sich zueinander verhalten.

Bemerkenswert schön und spannend fand ich Susanna Clarkes „Piranesi“ (2020). Die Geschichte eines Menschen an einem traum-haften Ort, einem Gebäude unbekannten Ausmaßes mit palastartigen weiten Räumen, in denen es außer Statuen und ein paar rätselhaften Artefakten nichts weiter gibt, die dazu gelegentlich von Fluten eines Meeres heimgesucht werden. Zwischen naiver Weltwahrnehmung und simplen Alltags-Wiederholungen und -Beobachtungen durch die Titelfigur, wird nach und nach das Geheimnis dieses Ortes aufgedeckt. Clarke benutzt in der Geschichte zu großem Effekt okkultistische Motive. Das ist auf jeden Fall sehr unterhaltsam und wer will, kann sich ohne weiteres in dem Haus voller Statuen wiederfinden, wo ein Ozean durch die Säle der unteren Ebenen spült, und sich darin verlieren.

In Kelly Links „White Cat, Black Dog“ (2023, an „Book of Love“, das zu großer Aufmerksamkeit in diesem Jahr rausgekommen ist, wollte ich nicht als erstes ran, ich mein, 600 Seiten…), wird mittels überraschend neu aufbereiteter Märchenmotive noch mal eine Spur tiefer gegangen. Weg von der individuellen Entfremdungserfahrung des modernen Menschen hin zu der Schicht kulturell vererbten Wissens um die durchlässige Membran zwischen empirischer Wirklichkeit und Traumwelt. Im Zweifelsfall lässt sie ihre Figuren dann noch einschlägige Substanzen zu Hilfe nehmen, was erzählerisch auch ganz zauberhaft funktioniert. Katzen die Dope anbauen, Gespräche mit den Tieren des Waldes auf Pilzen, alles dabei.

„And shall machines surrender“ von Benjanun Sriduangkaew (2019) geht das Thema gewissermaßen von der technischen Seite an. In ihrer Zukunftswelt voller Arbeitsmigrant*innen und Kriegsflüchtlingen sind Maschinen und Menschen soweit verschmolzen, das Identität insgesamt völlig neu verhandelt wird. Dabei finden die verschiedenen Anteile der Persönlichkeit auch physische Entsprechungen. Ich bin beim Lesen immer mal wieder so halb rausgeflogen aus der Story die so ein bisschen Krimi, ein bisschen Liebesgeschichte ist, aber die aufgemachten Konzepte hatten dann doch immer wieder genug Sog, um mich zurückzuholen. Für die grade mal 100 Seiten war da jedenfalls extrem viel drin, unter anderem ein sehr verspielter Umgang mit dem ganzen Pronomen-Wirrwarr. Ist in deutscher Sprache wahrscheinlich nur sehr schwer reproduzierbar.

In „The Company Town“ von Madelyn Ashby (2016) schließlich, wird „das andere“ komplett ausgelagert. Das fand ich sehr faszinierend konstruiert, auch mit großer Liebe zu den Figuren. Das ganze spielt auf einer überdimensionierten Ölplattform. Diese Stadt mitten im Meer hat ein ganz eigenes soziales Gefüge, das durch Gewaltverbrechen und die Übernahme der Konstruktion durch ein Familienunternehmen auseinanderzubrechen droht. Die Hauptfigur ist eine Bodyguard für (gewerkschaftlich organisierte!) Sexworkerinnen, die anders als die meisten Menschen in dieser Welt, an sich keine genetischen oder sonstigen Veränderungen hat vornehmen lassen. Da gefiel mir die Auflösung jedoch nicht so gut, ein bisschen feige fast, gemessen an der Geschichte, die da vorher aufgebaut wird. War so ein Buch, das für mich gerne ein paar Seiten eher hätte aufhören können, aber nunja, bei Hans-Christian Andersen wird das hässliche Entlein am Ende ja auch noch was.

Definitiv am überzeugendsten für mich war aber die Geschichte von Falk/Ramarren in „City of Illusions“ (1967), womit wir beim Geständnis angelangt wären: Ursula K. Le Guin. Nie zuvor gelesen, immer wieder vor mir her geschoben. Jetzt aber, einmal durch den Hainish-Zyklus durch, fühle ich mich als wäre ich gewachsen mit diesem Universum, das sie da erfunden hat. Ich bin sehr glücklich damit, dass das möglich ist. Was mich neben quasi allem noch besonders abholt, ist der sehr umsichtige erzählerische Umgang mit, vor allem tödlicher, Gewalt. Die muss sich bei Le Guin immer plausibel aus der Geschichte ableiten, ist nicht einfach nur blutige Tapete an der die Handlung vorbei eilt. Das ist dabei gar nicht irgendwie hippiesk naiv, sondern sehr überlegt.

In „The Word for World is Forest“ (mit einem interessanten Konzept der Verbindung von „Weltzeit und Traumzeit“ übrigens) wird dazu noch deutlich gemacht, wie naiv die gewohnheitsgemäße Gewaltanwendung ist. Das Buch wird gelegentlich als schwächstes aus dem Zyklus kritisiert. Einerseits folge ich dahingehend, als dass die Handlung relativ vorhersehbar ist, und Vietnam wirklich sehr unmissverständlich mitschwingt. Wenn allerdings als Maluspunkt für Le Guin die zu schablonenhafte Figur des Davidson, ohne emotionale Tiefe und differenziertes Innenleben, angeführt wird, muss ich ein bisschen lachen. Anders als die der uneingeschränkt guten Indigenen, ist die Rolle des rassistischen, sexistischen und grausam selbstherrlichen Kolonialisten ja nun wirklich absolut glaubwürdig und hyperrealistisch. Ich weiß nicht, ob es Selver gibt, Captain Davidson aber ist bis heute so lebendig wie je.

Aber zurück zum Thema, Falk aus „City of Illusions“ nämlich: „And he knew he was not even a man but at best kind of half-being, trying to find his wholeness by setting out aimlessly to cross a continent under uninterested stars.“ (etwa: „Und er wusste, dass er nicht einmal ein Mann war, bestenfalls eine Art Halbling, der seine Vollständigkeit zu finden suchte, indem er sich anschickte, einen Kontinent ziellos unter desinteressierten Sternen zu queren.“) Ein deutlicheres Bild für das Bemühen um Entdeckung und Integration von Verdrängtem und Verlorenem in ein kohärentes Selbst lässt sich kaum vorstellen.

Eine andere Frage, die neben dem Identitätskonstrukt wiederholt auftauchte, war die von Sprache als Waffe, oder überhaupt unmittelbar auf die materielle Wirklichkeit wirkende Macht. Neben SF-Klassikern wie „Babel 17“ oder „Snow Crash“ vielleicht bemerkenswert „Exordia“ von Seth Dickinson (2024). Ich weiß gar nicht, wie man davon erzählen soll, ohne massiv zu spoilern. Ich fand erstaunlich, wie sehr der mich aufs Glatteis geführt hat auf den ersten Seiten. Das war zum Brüllen komisch, Sitcom-Material geradezu, und dann gibts ziemlich plötzlich kräftig aufs Maul und zwar mehrere Hundert Seiten lang. Die plausible Traumatisierungsgeschichte der Hauptfigur, einer als Kind aus dem kurdischen Krieg entkommenen jungen Frau, überwältigt dabei genauso, wie die sehr bildhafte Beschreibung einer, nunja, fraktalen Herausforderung und des schließlichen nuklearen Showdowns.

Na jetzt aber meine Stand-alone-TOP 5 in der Reihenfolge, in der ich sie in den vergangenen zwölf Monaten gelesen habe:

Debbie Urbanski „After World“ (2023). Ich hatte dazu schon mal was geschrieben. Deshalb an dieser Stelle nur noch einmal die Empfehlung und die Warnung: Das ist nix, um sich dunkle Winterabende gemütlich zu machen. Wirklich ziemlich harter Stoff.

„At the mouth of the River of Bees“ von Kij Johnson (2011, „Pinselstriche auf glattem Reispapier“ heißt anscheinend die Übersetzung ins deutsche, keine Ahnung, ob die was taugt) – eine emotional sehr ergreifende Erzählweise. Jede Geschichte in dieser Sammlung, vom Kammerspiel bis zur großen SciFi-Geschichte, ein echtes Juwel. Die Titelgeschichte allein ist tief berührend. Die ebenfalls enthaltene Novelle „The man who bridged the mist“ hat mich so tief reingezogen, dass ich richtig Lust bekam die Menschen kennenzulernen, die darin beschrieben waren. Das hätte noch ewig so weitergehen können. Starke Le-Guin-Vibes.

„153 Formen des Nichtseins“ von Slata Roschal (2022). Wer Buchpreisnominierungen verfolgt, hat davon schon gehört, für mich war das gänzlich neu. Die Geschichte der jungen Frau, Tochter russischer Juden, die als Zeugen Jehovas nach Deutschland kamen; die Abnabelung, die mitgenommenen Neurosen, die Unsicherheiten, die Verletzlichkeiten – alles sehr intim, alles sehr welthaltig. Man bemerkt in der geschliffenen, dichten Prosa die Lyrikerin. Die kleinteiligen Kapitel mit ihren immer anderen Zugängen zu den selben Ausweglosigkeiten, die dann aber doch irgendwohin führen, haben ihren je eigenen Rhythmus, der sich aber nahtlos ins Ganze fügt. Der Humor, die Ernsthaftigkeit und die sprachliche Präzision in dem Buch haben mich sehr positiv mitgenommen.

Biyi Bandele, „Yoruba Boy Running“ (2024). In den Besprechungen, die ich dazu gelesen habe, wird immer wieder der Suizid des Autors am Tag nach der Finalisierung des Manuskripts besonders herausgestellt. Man könnte mE jedoch mehr darauf abheben, wie grandios dieses Buch geschrieben ist. Anhand einer außergewöhnlichen (an reale Ereignisse angelehnten) Lebensgeschichte wird hier das Ringen um das Ende der Sklaverei in Westafrika beschrieben. Die gut 100 ersten Seiten des Buches sind dabei so unfassbar atemlos in den Wechseln zwischen wirklich rasendem Humor, brutalster Gewalt, unvermeidlichem Tod und Gemetzel, herzzerreißendem Schmerz, wie ich es so noch kaum irgendwo gelesen habe. Bandele ändert mitten im Buch den Takt der Erzählung, was zunächst etwas enttäuscht, aber absolut Sinn ergibt im weiteren Verlauf. Für jene, die es nicht auf Englisch lesen können, hoffe ich auf eine gute Übersetzung zu einem späteren Zeitpunkt. Da besteht Hoffnung, denn Bandele ist kein Geheimtip, das Vorwort der Erstausgabe zB ist von Wole Soyinka.

Mauricio Rosencof „Das Schweigen meines Vaters“ (2024). Hier hatte ich vor kurzem schon was notiert und kann hier nur noch einmal die dringende Empfehlung wiederholen.

Ich habe, nebenbei, auch sonst noch einiges anderes außer Science und Speculative Fiction gelesen, muss aber sagen, dass mir die inzwischen oft viel näher ist, als „ernste“ Literatur. Ich mag einfach die Opulenz und die Lust am Erzählen, am Fabulieren, und in Teilen auch am Träumen von einer anderen Zukunft, die da immer wieder durchstrahlt. Ist ja nötiger denn je.

oben im Bild: Mein Bücherstapel.

Winterfest

Das Faszinierende an politisch motivierter Repression ist, wie unbemerkt sie oft stattfindet. Ich glaube es ist in der allgemeinen Öffentlichkeit gänzlich unbekannt, erstens mit welcher Härte die Polizei schon immer gegen alles Linke (vermeintlich „linksextremistische“) vorgeht und zweitens, welche Ausmaße das auch im weiteren Umfeld der eigentlichen Zielpersonen annehmen kann. Der Verfolgungsdruck steigt ja ins geradezu Unermessliche, wenn kriminelle oder terroristische Vereinigung unterstellt wird. Umso verdienstvoller ist, dass die taz gelegentlich Raum gibt für eine etwas ausführlichere Berichterstattung.

Die Tage erst erschien ein recht breit angelegtes Stück über die völlig überzogenen Maßnahmen bezüglich des Budapest-Antifa-Komplexes. Obacht beim Lesen, schon der Einstieg ist recht grafisch. Bezüge werden auch zur Klimabewegung hergestellt, deren Aktive ja ebenfalls einer Kriminalisierung ausgesetzt sind, die in keinerlei Verhältnis steht zu den jeweiligen Aktionsformen.

Was besonders erschreckt, sind die angedeuteten Ermüdungs- und Resignationserscheinungen. Leipzig zum Beispiel: „Menschen, die sich vorher grüßten und guten Kontakt hatten, taten plötzlich so, als würden sie sich nicht kennen.“ Diese unter dem Druck sich verstärkende Vereinzelung ist ja das genaue Gegenteil dessen, was man sich als Reaktion wünschen würde. Aber so ist das leider, wenn schon die lose Bekanntschaft zu bestimmten Personen genügt, um dergestalt ins Visier zu geraten, dass man sich mal 4.30 Uhr morgens einer rabiaten Hausdurchsuchung gegenübersieht. Da wird Distanzierung jetzt nicht die völlig unverständlichste Vorbeugemaßnahme sein. Solidarität hat ihren Preis – und man sollte vorsichtig mit dem Urteil darüber sein, welche Gründe den gegebenenfalls zu hoch erscheinen lassen. Die Perspektive wird ja auch nicht unbedingt besser.

***

Ein sehr interessantes Gespräch mit Jeanette Hofmann, Professorin für Internetpolitik an der FU Berlin, hat das Weizenbaum-Institut veröffentlicht. Ganz ohne Umschweife ordnet sie den ganzen Desinformations-Kladderadatsch als das ein was es ist: Politisches Handeln zur Mobilisierung und nicht primär ein Werkzeug zur Manipulation: „Die offen zur Schau getragene Gleichgültigkeit gegenüber dem Wahrheitsgehalt von Informationen ist […} weniger Unkenntnis als eine politische Verortung. Und die Idee des Fact-Checking oder De-Bunkings übersieht diese Qualität.“

Dessen ungeachtet wird fleißig weiter gefactcheck und entlarvt. Manchmal wird vielleicht kurz innegehalten und sich gewundert, warum das so kunstvoll mit dem journalistischen Florett erlegte Lügenmonster immer wieder aufsteht. Aber irgendwie folgt nichts aus diesem Moment der Irritation. Man möchte eben weiterhin objektiv über den Dingen stehen. Manchmal frage ich mich, ob mein früherer Berufsstand die Welt, die er zu beschreiben vorgibt, je verstanden hat. Wenn ich an all die Gesprächsrunden und Konferenzen denke, erinnere ich mich vor allem an durch keinerlei Empirie begründbare Selbstgewissheit, die mir oft als Ausdruck von Hilflosigkeit erschien. Gelegentlich war sie sogar nur eine seltsame Bockigkeit gegenüber der von den gelernten Regeln abweichenden Realität.

***

Dankbar sein kann ich mal wieder Frédéric Valin für einen Hinweis. Und zwar im nd auf auf „Das Schweigen meines Vaters“ von Mauricio Rosencof, erschienen bei Assoziation A. Obwohl bei den einschlägigen Medien recht breit rezipiert, wär mir das evtl. durchgerutscht. Der Tupamaros-Veteran und Dichter Rosencof nähert sich in der fragmentarischen Erzählung vor dem Hintergrund seiner eigenen barbarischen langjährigen Haft der Geschichte seiner aus dem polnischen Shtetl stammenden Familie. Der Vater, und etwas später Mutter und Bruder, waren noch einige Jahre vorm deutschen Überfall auf Polen ausgewandert. Die meisten Verwandten wurden ermordet.

Was mir neben all den Dingen, die Valin zum Werk bemerkt, noch sehr stark aufgefallen ist: die zärtliche Humanität die das Buch durchzieht. Das mag ein wenig kitschig klingen, aber mir leuchtet da immer wieder in Bildern von Verbundenheit und Widerstand eine tief empfundene Menschlichkeit entgegen. Die wiegt umso stärker, weil sie gegen die schonungslosen Szenen aus der Vernichtungsmaschinerie steht. Keine Sorge, das Buch halluziniert keine falsche Hoffnung im Angesicht von Auschwitz. Das Leben kann nicht schön sein, wenn es an die Rampe von Birkenau gezwungen wird.

So lange aber jemand erzählt – so erzählt wie Rosencof – ist das Leben immerhin noch hier.

Packpapier

Was Seesslen in der taz zum Verschwinden der der gedruckten Zeitung schreibt, beschäftigt mich jetzt schon ein paar Tage. Ich möchte die ganze Zeit widersprechen, bin aber unschlüssig, worauf eigentlich. Entweder durchdringe ich den Text nicht so richtig oder er ist für Seesslens Verhältnisse einfach ungewöhnlich argumentiert. Üblichererweise ist das bei ihm doch immer ziemlich deutlich. Mäandernd bisweilen, ja, aber am Ende doch recht unmissverständlich durchgetaktet. Stoff zum drüber nachdenken, dran reiben. Klar und nüchtern hergeleitete Gedanken eben.

Hier aber lese ich eine ungewohnte Sentimentalität raus, die sich, wie es in ihrer Natur liegt, aus sich selbst heraus begründet und deshalb keiner weiteren Erläuterung bedarf. Oder übersehe ich was? Vielleicht fehlt mir aber auch einfach der Bezug zur Zeitung als papiernes Objekt. Ich hatte früher Abos, fand es auch ein ganz erhebend, das erste Mal so eine Zeitung mit einem Text von mir drin in der Hand zu haben. Aber, dass ich die Kulturtechnik vermissen würde, die „Rituale des Alltagslebens“, die Beobachtung „wie einer faltet, die andere hinlegt“ usw, kann ich nicht sagen.

Funny enough, ich halte die Einstellung gedruckter Zeitung ganz generell trotzdem für einen Fehler, aber nicht, weil die Nachrichten beim Übergang in ein anderes medium „ihr Wesen verändern“ (eine Charakterisierung des Prozesses die ich, nebenbei, nachvollziehen kann). Es scheint mir nur eher eine Fortsetzung des verlegerischen Missverständnisses in der Einordnung des eigenen Geschäfts. Eine Art Trotz fast. „Nee, jetzt nicht mehr gedruckt. Ätsch“. Während die Verlage nämlich den digitalen Bereich zunächst nur auf sein Marketingpotential hin abgeklopft haben und dabei über Jahre, Jahrzehnte, nichts von den journalistischen Möglichkeiten im Netz begriffen, scheinen sie nun das Marketingpotential der Printausgaben zu unterschätzen.

Selbstverständlich bringt eine gedruckte Zeitung ab einem bestimmten Punkt (Rückgang Abos, Werbung / Anstieg Druck-, Papier- und Vertriebskosten) keinen unmittelbaren Gewinn mehr. Das konnten sich selbst mäßig begabte Verleger schon vor einer ganzen Weile selber ausrechnen. In der Öffentlichkeit sichtbar zu sein, sei es an Kioskauslagen, sei es an diesen unpraktischen Zeitungshaltern in Cafés, kommuniziert aber die Marke in eine Sphäre, die sowohl von digital natives, als auch von den sentimentalen Kulturtechnikern gelegentlich betreten wird. Das spannende an so einem Marketing ist, dass die Maßnahme zur Steigerung der Wahrnehmung sich immerhin zum Teil direkt selber finanziert: durch Abos und Verkauf. Und es ist eine Form der Werbung, die mE nicht ganz so gehasst wird, wie blinkende Banner auf Webseiten oder über den unmittelbaren Werbezweck hinaus so nutzlos ist wie Plakate an Litfaßsäulen. Aber egal.

Anlass für den Seesslens Text war ja eventuell die Ankündigung der taz, im Oktober 2025 das tägliche Print einzustellen. Die Wochenendausgabe und der Onlinebetrieb sollen bleiben. Ich weiß, die Sprachregelung bei dieser „Seitenwende“ (ich hoffe, das ist selbst ausgedacht und nicht zu viel Geld für ne Agentur bei drauf gegangen) ist, dass man damit ganz vorne dran sei an der Entwicklung der Branche. Was Quatsch ist. Eine Wochenzeitung mit angeschlossenem aktuellem Onlinebetrieb ist schließlich schon ein etwas älteres Konzept. Ich glaube ich hab davon das erste Mal vor bald 30 Jahren gehört. Aber auch das ist egal.

Nicht egal ist Seesslens These, dass eine bestimmte Form ziviler und demokratischer Debatte und Öffentlichkeit an ein bestimmtes Medium, die papierne Zeitung, gebunden ist. „Behauptung“ sage ich deshalb, weil die Hauptaussage „Die Zeitungen sterben, der Demokratie geht es auch nicht besonders. Vielleicht hat das eine doch etwas mit dem anderen zu tun.“ eine Koinzidenz vielleicht ganz richtig beobachtet. Die Kausalität aber wird mir nicht hinreichend begründet. Und ich glaube, das ist es auch was mich stört. Dass das, was der Ausgangspunkt einer Überlegung sein könnte, zumindest bei diesem Text ihr Abschluss ist. Vielleicht will ich ja gar nicht widersprechen, sondern würde nur gerne mehr erfahren.

„Cli-fi is a genre“

Meinetwegen hätte Cory Doctorow in seiner Buchempfehlung für „After World“ von Debbie Urbanski ruhig erwähnen dürfen, wie depressiv das Buch ist. Obwohl, „relentlessly bleak“ ist bei Tageslicht betrachtet dann doch deutlich genug. Vielleicht hatte ich das überlesen. Hat dann jedenfalls nicht lange gedauert, bis ich selber drauf gekommen bin. Depressiv.

Ich weiß gar nicht so recht, wovon das Buch handelt, wenn nicht vom Gefühl der inneren Katastrophe, die mit gnadenloser Härte in Form wie Inhalt des Textes angereicht wird. Repitition, Isolierung, Unverständnis, unendlicher Schmerz, der Untergang des Ich. Der Untergang der Welt ist dabei die einzig mögliche Kulisse, aber letztlich eben nicht nur das.

Die Grausamkeit des Menschen gegen alles und sich selbst wird als Kammerstück aufgeführt. Die Erzählperspektive des [storyworker] ad39-393a-7fbc demonstriert dabei beinahe mehr Humanismus als die Menschen selber. Diese Software muss sich vom übergeordneten Prozess emly denn auch fragen lassen: „Why would you want to think like a human being?“. Diese Frage ist wiederum selber eine Antwort. „…is it possible to tell a human story without human suffering, is it possible to tell a human story without the suffering of the world“

Gewiss, „After World“ ist auch Cli-fi. Der Weltuntergang per Klimakatastrophe ist eine ausgemachte Sache, die Apokalypse aber kommt in Form eines Virus über die Menschheit. Ist die Vernichtung Erlösung? Für wen? In gewisser Weise stemmt sich das ganze Buch gegen diese doppelte Zerstörung, einmal der natürlichen Umwelt und einmal der Menschheit selber. Dass kein plausibler Ausweg angeboten wird, ist einzusehen und wohl dem Genre eigen.

Die Beschreibung der inneren Katastrophe ist anscheinend der bislang beste Weg, den kommenden Untergang als die unausweichliche Auslöschung jeder Menschlichkeit zu erzählen und nicht als unterhaltsames Spektakel. Denn dafür haben wir ja schließlich die Tagesschau.

Bild oben: Ein Mural, gesehen im Sommer in einer Unterführung in Jelenia Góra

Welche Ordnung?

Die Textproduktion kennt kein Ende. Grad in Kriegszeiten wird ständig geschrieben. Dafür, dagegen, darüber. Alles in größter Eile, gerne auch in Liveblogs und Tickern, dieser Pestbeulen des Nachrichtenjournalismus, wo regelmäßig Neuigkeiten präsentiert werden müssen, um das Publikum bei der Stange zu halten. Es lohnt sich, nicht nur zum Wohle der eigenen psychischen Gesundheit, sondern auch fürs Erkenntnisinteresse, durchzuatmen und einen Schritt zurückzutreten. Texte lassen sich dann finden, deren Thesen, Beobachtungen und Prognosen mitten im Krieg auch nach ein-zwei Tagen oder gar Wochen und Monaten noch Bestand haben, mindestens interessant, vielleicht sogar dramatisch augenöffnend und nicht einfach nur Buchstabenmüll sind.

Zunächst interessieren mich vor allem, im weitesten Sinne, linke Sichtweisen und Erklärungsansätze. Versuche, sich nicht zu verheddern in den verschiedenen Erzählsträngen der allseits eingesetzten Propaganda. Volodymyr Artiukh, ukrainischer Anthropologe, hilft beim Entwirren in einem Beitrag, der unter anderem bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht wurde. In Richtung der westlichen Linken weist er auf die analytische Schwäche des auf die Nato als einzig agierender Instanz gerichteten Blicks hin. „Daher frappiert mich die verkürzte Weise, in der ihr das dramatische Geschehen in unserem Erdteil öffentlich darstellt, das ihr lediglich als Antwort auf die Umtriebe eurer eigenen Regierungen und Wirtschaftseliten begreift. […] Um Russland herum erwächst eine Realität, die ihren eigenen Gesetzen folgt, eine zerstörerische Realität brutaler Unterdrückung, in der ein Atomkrieg nicht länger außerhalb des Denkbaren liegt.“

***

Ein Text von Nelli Tügel befasst sich in der ak mit der nervig-naiven Fixierung einiger Linker auf Völkerrecht und Diplomatie als Allheilmittel (Auge, Gysi). In einem instruktiven Abriss historischer Entwicklungslinien seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird hier Rosa Luxemburg als Kronzeugin für eine politische Analyse und Handlungsfähigkeit jenseits imperialistisch geprägter Gepflogenheiten und Verträge ins Feld geführt. Find ich alles sehr informativ und unbedingt bedenkenswert.

***

Was mir ansonsten oft fehlt, sind irgendwie plausible Einschätzungen, was überhaupt das strategische Interesse Putins/Russlands sein könnte. Die meisten Erkläransätze (wenn man sich die Mühe überhaupt macht) lassen sich salopp als „Der Typ ist durchgeknallt“ übersetzen. Das mag letztlich ja sogar stimmen, nur können wir uns dann jede weitere Diskussion sparen und besser eiligst schauen, ob wir nicht doch noch rechtzeitig die alten Atomschutzbunker reaktiviert kriegen.

Es will mir nicht in den Kopf, dass das Handeln einer Person, die sich so lange in so einer Position hält, und des sie tragenden Umfeldes nicht doch einer gewissen Rationalität folgt. Die sollen keine klare Vorstellung einer „win-Situation“ haben und zu Pragmatismus unfähig sein? Zwei Stücke, die sich der Frage aus entgegengesetzten Richtungen annähern und auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, sind bei der WOZ und The New Statesman zu lesen.

Während die russische Dichterin Maria Stepanova mit großer Empathie von der bedrohten, sich selbst behaupten müssenden Seite her spricht, denkt der portugiesische Politiker Bruno Maçães bereits im November letzten Jahres vom Zentrum der Macht her. Stepanova ist der Überzeugung, dass Putins strategisches Ziel die konkrete Unterwerfung der Peripherie unter seine heilsbringende Ordnung ist. Maçães hingegen kommt zu dem Ergebnis, dass Chaos das Ziel der ganzen Operation ist. Chaos zum Zwecke der Stabilisierung der eigenen Macht.

Auf der einen Seite also ein moralischer Kampf „Gut gegen Böse“ der auf ein definitives Finale zuläuft, auf der anderen ein pragmatischer zwischen „Chaos und Ordnung“, der quasi ununterbrochen fortgesetzt werden muss. Ich fände es gut, wenn es mehr Diskussionsbeiträge gäbe, die ebenso informiert und empathisch genau dieses Spannungsfeld beleuchten. Die aus solchen Gesprächen entstehenden Prognosen und Handlungsvorschläge ließen sich jedenfalls ernster nehmen, als diese ganzen Schnellschüsse der hyperventilierenden Liveticker-Westentaschenstrategen.