101

Octavia Butler, offenbar keine Anhängerin von Geniekult und göttlicher Inspiration gab jungen Autor*innen eine klare Richtung mit auf den Weg: „Schreib, jeden Tag, ob du es magst oder nicht. Scheiß auf Inspiration.“1 Sie ist gewiss nicht die einzige, die diesen Arbeitsethos anrät, aber ihre Formulierung knackt halt ganz ordentlich und wird also gerne zitiert.

Gewiss, ich habe streckenweise täglich Texte zu Papier gebracht. Das aber nur unter der ständigen Drohung von Deadlines. Das ist ein Druck, dem ich mich rückblickend betrachtet vielleicht nicht ganz zufällig ausgesetzt habe. Extrinsische Motivation. Die sanfte Peitsche der Schlussredaktion. Nicht nichts machen, stattfinden. So entstehen Gebrauchstexte, die selbstverständlich mehr Technik sind als Kunst. An wenigen guten Tagen Kunsthandwerk. Aber bis heute weiß ich nicht, wie das geht: jeden Tag schreiben. Wirklich schreiben.

Dabei wäre genau das doch nötig, um Möglichkeiten zu finden, nicht das immer Gleiche mit nur leicht variierenden Worten zu sagen. Wie so ein Journalismusbot. Nazis raus, Kapitalismus doof, Digitalisierung eine ausbeuterische Vollkatastrophe, KI für die Tonne. Da, 101 Anschläge, fertig.

In der Lesebühnenzeit, vor 20+ Jahren, da gab es so Momente. Auch nicht direkt jeden Tag, nein, aber immerhin manchmal. Und diese kurzen Blitze waren immer durch Kommunikation geprägt. Kurze Kommentare, Kritiken, überraschende Interpretationen anderer Autor*innen. Ebenfalls nicht zu unterschätzen ist ein anregender, wenn auch bisweilen nur heimlich ausgetragener Wettbewerb. Qualitativ nicht abgehängt werden zu wollen ist kein schlechter Antrieb.

Reibung erzeugt Funken. Mangelnder Austausch ist eines der größeren Probleme des solitären Arbeitens. Und solitär war das, bei allem Krawall, auch in der Redaktion. Da hat kaum jemand mal die Zeit, sich der Alltagshektik selbst für Augenblicke zu entziehen. Es wird im wesentlichen gedruckt, wie’s kommt. Da rede ich übrigens nur von den Gutwilligen. Am unverlangten Textgemetzel mit dem einige andere sich dann wiederum über die Arbeit ihrer Kolleg*innen erheben, übt man eventuell die Konfliktbefähigung, aber nicht grad das Schreiben.

Jetzt, im Hobbysegment angekommen, ist der frühere Druck raus. Neben ein bisschen Befriedigung der Eitelkeit sind da keine tieferen Zwänge, existenzieller Art zumal, dabei. Zurück zu denen will ich sowieso nicht. Aber wie dann weiter und warum? 101 Anschläge… puh.

Der andere dringende Hinweis, den Butler in dem viel zitierten Interview noch gab, war der, dass Schreiben vor allem Lesen heiße. Das stimmt unbedingt. Ich bemerke da einen sowohl langfristigen Effekt, als auch einen unmittelbaren Zusammenhang. Je genauer und bewusster ich lese, umso dialogischer und damit produktiver wird der Prozess.

Vielleicht ist genau das ja der Anfang: Jeden Tag lesen. Richtig lesen. Und das bekomme ich inzwischen sogar schon ganz gut hin, glaube ich. 🙂

im Bild oben: Welche Stadt?

1 – „…write, every day, whether you like it or not. Screw inspiration.“ Octavia Butler, Interview by Randall Kenan, Callaloo, 1991)

Die Rechnung bitte

Die Erinnerungen an den 40. Jahrestag sind etwas verwaschen, wahrscheinlich eine Melange aus mehreren als Schüler in der DDR erlebten Jubiläen. Es gab da gewisse Überlappungen zwischen den Anlässen, Reden, Fahnen, Gesang, Applaus. Eine Art vereinheitlichter Liturgie aus Kyrie, Credo und so weiter. Also versuchte ich mir das konkreter werden zu lassen in der Vergegenwärtigung der Friedensfahrt.

Dieses Fahrrad-Etappenrennen war in jedem Mai ein mit Spannung erwartetes Ereignis. Die Junge Welt druckte zum Beginn, ich glaube doppelseitig, den Tourplan und dann jeden Tag ein auszuschneidendes Passfoto des Gewinners, das in einen dafür vorgesehen Rahmen in diesen Plan eingeklebt werden konnte. Ich habe Olaf Ludwig und Uwe Ampler recht oft und enthusiastisch geleimt. Panini dall’oriente.

Ich dachte, die Friedensfahrt von 1985 sei die mit Etappen in der Ukraine gewesen, aber nein, das war erst ein Jahr später, wie mich die Wikipedia erinnert. Wenige Tage nach Tschernobyl ausgerechnet, weswegen die meisten westlichen Teams auf den Start verzichteten. Der Witz vom strahlenden Sieger bot sich an und wurde auch ad infinitum gerissen.

Nein, ‘85 gab es nur einen kurzen Ausflug nach Moskau, ansonsten die Traditionsroute durch die Tschechoslowakei, Polen und die DDR. Olaf Ludwig, der aus heute nicht mehr rekonstruierbaren Gründen mein Idol war (wahrscheinlich einfach der Sog des Erfolgs), konnte wegen Krankheit leider nicht teilnehmen. ‘86 dann wieder strahlender usw.

Jedenfalls, das Ende des zweiten Weltkrieges war 1985 genauso weit weg, wie in die andere Richtung das aktuelle Jahr. Der direkte Kontakt zu Zeitzeug:innen, Widerstandskämpfer:innen beispielsweise und KZ-Überlebenden war schon allein über Vorträge in der Schule und andere Aktivitäten die der Festigung unserer sozialistischen Persönlichkeit dienen sollten, noch regelmäßig gegeben. Der seltsame erinnerungspolitische Spagat, gleichzeitig besiegt und befreit zu sein, funktionierte ganz reibungsarm für mich. Wir waren die Guten, eine Nation aus Jung- und Thälmannpionieren. Selbstverständlich waren wir befreit worden.

Anders als Gleichaltrige in vielen anderen Familien, war ich außerdem nicht mit Altvorderen konfrontiert, die der offiziellen Linie zum Beispiel mit eigenen Heldengeschichten aus dem Krieg widersprachen. Die Verwandten, mit denen ich näher zu tun hatte, waren ziemlich linientreu und außerdem schlicht zu jung, um selber Täter oder überhaupt irgendetwas aktives gewesen zu sein. Auf dem Nachttisch der einen Urgroßmutter ein Foto von einem Mann in Uniform. Die einzige direkte Verbindung zu – ja, wozu eigentlich? Das war so fremd, dass sich dieser kurze Moment bis heute eingeprägt hat. Ein gerahmtes Bild in der Wohnung der mir ansonsten unvertrauten, vielleicht zweimal überhaupt nur getroffenen Person.

Die Beschäftigung mit deutscher Schuld und Verantwortung verließ bald darauf wegen bekannter historischer Umstände den offiziellen Pfad, oder besser: der Pfad war weg. Der Bogen zurück kam dann vor allem über Shoa-Erinnerung. Ohne Wertung gesprochen, als Beobachtung eher, habe ich das Gefühl, dass der Krieg darüber in den Hintergrund trat. In der DDR also hauptsächlich heldenhafte Sowjetarmee und kommunistischer Widerstand. Danach Fokus auf Genozid und Gerechte unter den Völkern. Immer auf der guten Seite, immer bereit.

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„Auf unserem Boden“ – das ist die vielleicht am häufigsten in den Interviews auftauchende Wendung in Swetlana Alexijewitschs „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“. Da klingt das Entsetzen über und ein Quell der Widerstandskraft gegen den Aggressor durch. In den Protokollen der Soldatinnen, Krankenpflegerinnen, Fliegerinnen, Partisaninnen … wird vieles sichtbar gemacht. Verbitterung, Liebe, Ungerechtigkeit, (zum Teil bestialische) Gewalt, tiefe Verletzungen körperlicher wie seelischer Art, Heldinnenmut. Es gibt Spuren von Kritik an blinder Gefolgschaft, schlechter Versorgung, schwacher militärischer Führung.

Wie ein roter Faden zieht sich aber die Bindung zum eigenen Land, auch im ganz physischen Sinn, durch die Erzählungen. Aus Nebenbemerkungen wird deutlich, dass das schon vor 40 Jahren (das Buch erschien 1985) ein der Generation eigenes Phänomen, zumindest in dieser starken Ausprägung, zu sein scheint. Kleine Entschuldigungsfloskeln, im Sinne von, „so sind wir erzogen worden“, „haben geglaubt“, „anders als die jungen Leute heute“ deuten da Veränderungen in Haltung und Wahrnehmung an.

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„Ich erinnere mich, wie ein verwundeter deutscher Soldat die Hände in die Erde krallte, er hatte Schmerzen, doch ein russischer Soldat sagte zu ihm: ‚Hände weg, das ist meine Erde! Deine ist da, wo du hergekommen bist …‘“ Maria Wassiljewna Pawlowez, Partisanenärztin (aus S. Alexijewitsch, „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“)

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Auf unserem Boden.

Kein Zweifel bleibt bei den Interviewten an der Alternativlosigkeit. Sie wollten und mussten aktiv teilnehmen. Sozusagen Teil der Geschichte werden, sie nicht einfach nur geschehen lassen, sie nicht einfach anderen überlassen. Der darin schwelende Widerspruch zum tradierten Geschlechterbild wird dann wieder in der Nachkriegszeit problematisch. Die da beschriebenen Szenen von Zurückweisung und Verachtung lasen sich für mich fast schwerer als die Berichte von den Kriegsgräueln.

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Debattenbeiträge zu Sondervermögen, Waffenlieferungen, Wehrpflicht und so weiter gibt es ja im Überschuss. Die Unmittelbarkeit der Kriegsdrohung wird da sehr unterschiedlich empfunden, die potentielle eigene Betroffenheit ebenso. Ich finde gut, dass es dabei auch hörbare Wortmeldungen aus der Generation derer gibt, die am ehesten einberufen würden. Trotzdem kommt mir da einiges schief vor. Häufig wird der individuelle Entscheidungsspielraum überschätzt, denke ich. Wenn das Faktische mit Panzern vor dem Hoftor steht, entwickelt es doch noch einmal eine ganz eigene Macht, und die wirkt nicht unbedingt in vorhersehbarer Weise. Egal, geschenkt.

Zu sagen, dass man nicht bereit sei, für irgendwelche abstrakten Ideen, einen ohnehin abgelehnten status quo gar, zu sterben oder zu töten, ist individuell eine völlig ehrenwerte und zu respektierende (im Sinne von: niemand sollte zu gegenteiligem Handeln gezwungen werden) Einstellung. Als politisch über die einzelne Person hinausweisende Idee, wird das aber ein bisschen dünn.

Ein Problem entsteht in meinem Verständnis nämlich, wenn organisierter Antimilitarismus oder Pazifismus so unterkomplex argumentiert, wie es leider immer wieder vorkommt. Waffen ganz allgemein, oder meinetwegen auch nur bestimmte Waffen abzulehnen ist ok. Nicht darüber nachzudenken (oder aktiv darüber zu schweigen) aber, welche Folgen so ein Programm hat, kommt mir entweder politisch naiv oder intellektuell unredlich vor.

Jede Handlung hat ihren Preis. Wie hoch er ist und wer ihn bezahlt, das sollte schon Teil der Überlegung sein. Das gilt selbstverständlich auch für die Frage danach, warum die Gewährleistung der Verteidigungsfähigkeit eines Landes sich automatisch in Kapitalgewinnen privater Anleger widerspiegeln muss und in letzter Konsequenz immer nur als Zwangsmaßnahme vorstellbar zu sein scheint.

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Vor einigen Tagen ein zufälliges Gespräch mit einer jungen Frau aus der Ukraine. Sie lebt und arbeitet in Kiew. Grad war sie auf Urlaub, eine Freundin besuchen, mal durchatmen. Sonst mache sie das gelegentlich bei der Familie ganz im Westen des Landes. Da sei die Lage etwas entspannter.

Eingeprägt hat sich mir die Schilderung ihrer Einkaufsroutine unter Angriffsbedingungen. Je nachdem, wie weit die in der Warnapp angezeigten russischen Drohnengeschwader noch von der Stadt entfernt sind, falle die Entscheidung für den eiligen Weg zum teureren Laden oder den etwas weiter entfernten für günstigere Besorgungen.

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Zur Aussetzung der Wehrpflicht (auch schon wieder fast 15 Jahre her, meine Güte…) hatte ich ein gewisses Unbehagen. Nicht, weil ich es den jungen Männern nicht gönnte, dass ihnen der Zwangsdienst erspart bleibt. Ich nehme diesem Staat das gestohlene Jahr bis heute übel. Auch nicht, weil ich eine irgendwie ausgereifte verteidigungspolitische Position gehabt hätte oder habe, die eine allgemeine Wehrpflicht erfordert. Oder überhaupt irgendeine verteidigungspolitische Position. Bin ja kein stellvertetender Bezirkskassier irgendeines SPD-Ortsverbands.

Nur die, die gerne in den Krieg ziehen wollen, die „Soldat“ für einen erstrebenswerten Beruf halten, denen traue ich bis heute nicht so recht über den Weg. Die alleine zu lassen mit den ganzen Knarren – nunja.

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„Das war wie gesagt Stalingrad … Die schlimmsten Tage des Krieges … Aber ich konnte trotzdem nicht töten. Einen Menschen einfach sterben lassen … Mein Brillantstück du … Man kann nicht ein Herz für den Hass haben und eins für die Liebe. Der Mensch hat nur ein Herz, und ich dachte immer daran, mein Herz zu bewahren.“ Tamara Stepanowna Umnjagina, Garde-Unteroffizier, Sanitätsinstrukteurin (aus S. Alexijewitsch, „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“)

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Tatsächlich würde ich gerne, zumindest solange es noch Armeen und Gewehre gibt, zuallererst die, die glaubwürdig nicht töten wollen, bewaffnen. Stärker sind sie sowieso, aber dann könnten sie auch einmal den andren zügiger die Rechnung präsentieren.

im Bild oben: Statue im sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow

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Muskelgedächtnis

Das Gespräch war erbaulich gewesen. Ein Wiedersehen nach langer Zeit. Abgleich und Austausch. Erwachsene Routine beim Füllen der Lücken. Samtene Übereinkunft darin, welche Fragen offen bleiben können. Es gibt so Vieles, das im Vagen bleiben muss mit den Vielen, die wir viel zu selten treffen. Wie geht’s denn sonst so? Ach, muss ja.

Also lieber in die Zukunft geschaut. Wir vergleichen die Erwartung an das kommende Jahr. Die politischen Erwartungen, ohje. Was will man denn noch wissen von diesem Land? Welche Geschichten sollen uns noch was erzählen, das nicht längst bekannt wäre? Es ist doch allen klar, was und wer da kommt. Chronistenpflicht, schön und gut, aber darüber hinaus?

Und dann werden wir zügig einig, was wir doch noch hören möchten. Lernen wollen wir von denen, die sich weiterhin dagegen stemmen. Von jenen, die die Verhältnisse nicht als unveränderbar hinzunehmen bereit sind. Eines vor allem will man wissen: Woher zieht ihr eure Kraft?

Eine gute Fragestellung, nicht wahr.

Da träume ich gleich von bewegenden, ermutigenden, und mitreißenden Antworten. Bin ganz beseelt von meiner Fantasie. Allein das powert mich ganz schön hoch.

Erzähle überall gerührt davon. Auch J., schon lange tätig im zivilgesellschaftlichen Bereich, mit guten Kontakten in die Fläche. „Jaja, wir haben die Einrichtungen vor Ort befragt. Einmal, was so auf sie zukommt, angesichts der neuen Mehrheiten, dann woher sie noch ihre Kraft schöpfen, und zuletzt was sie konkret an Hilfe gebrauchen könnten. Die zweite Frage wurde von den meisten übergangen. Einfach nicht beantwortet.“

Einfach nicht beantwortet.

Lassen wir das sacken. Wie so viele nur noch Phantomstrom auf den Batterien haben. Und wenn auch der verflackert ist, geht es trotzdem weiter. Nur nicht denken an den Abgrund, der an jeder Faser, jedem Muskel zieht.

Das wäre vielleicht das zeitgemäße Held*innenepos: eine Geschichte dauerhafter Erschöpfung im Kampf gegen ein Monster, das gierig Unzählige verschlingt. Obwohl das ja in gewisser Weise auch Teil des traditionellen Epos ist. Nur, dass wir für gewöhnlich nicht mit den Verlierern und Verlorenen, sondern auf dem Rücken der Recken reisen, die am Ende strahlen.

Klar, die gute Nachricht ist: Das Monster wird zum Schluß immer besiegt. Das lehren uns die Geschichten. Die Frage ist, zu welchem Preis und wer den Preis bezahlt. Die Knochen der unterwegs Geschlagenen sind zwar häufig präsent in der Erzählung. Aber mehr als Kulisse am Wegesrand, Warnung vor Unvorsicht und Überheblichkeit zum Beispiel.

Was aber, wenn die vielen früh Gefallenen gar nicht hochmütig waren. Sondern einfach nicht mehr wussten, woher sie noch Kraft ziehen sollten und schließlich der Gewalt der Gravitation erlagen. „Es ist die alte Geschichte von Dornröschen: Hunderte Ritter mußten elend im Gestrüpp krepieren, und vor dem einen, dem letzten dann öffnete sich das Tor“, schreibt Franz Fühmann (22 Tage). Aber mussten sie wirklich? Und viel wichtiger, müssen sie immer und immer wieder?

Woher also nehmen wir die Kraft? Aus dem Wissen, dass nicht alles naturgesetzliche Unabänderlichkeit ist, auch wenn es sich bisweilen so anfühlt. Geschichte wird schließlich immer noch gemacht. Das ist keine Drohung. Ganz im Gegenteil.

Reicht diese Erkenntnis aber für die Energiezufuhr? Ach, muss ja. Für den Anfang zumindest. Und für den Fortgang weniger Vagheiten vielleicht; dafür mehr Treffen, Gespräche, Austausch und Abgleich.

Im Bild oben: Das letzte was hundert Ritter sahen.

Spaziergang zwischen gestern und morgen

Mit P. über diese eigenartige Romantisierung des Begriffs Manufaktur ausgetauscht. Beim Spaziergang durch Neukölln waren wir an der Blutwurst-M. vorbeigekommen die mein Unbehagen gleich doppelt verkörpert. Sicher, Leute die Blutwurst mögen, schwören auf diesen Hersteller, mir aber sagt das überhaupt nicht zu. Das ist schon so seit meiner ersten Bekanntschaft mit dem rotgrauen Brei in der DDR-Schulspeisung. Verkehrsunfall war noch einer der freundlicheren Namen für die widerliche Hämoglobingrütze.

Im Unterricht hatte ich derweil gelernt, dass die Manufaktur der durchaus kritisch zu bewertende Anfang der Industrialisierung war. Durch die zunehmende Ausdifferenzierung der einzelnen Arbeitsschritte im Produktionsprozess war das eine wichtige Triebkraft in der Entfremdung der Produzent*innen von den Produkten ihrer Arbeit und eine Vorbedingung der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse. Statt Blut, Schweiß und Tränen scheint die Manufaktur heute aber eine Puppenstuben-Heile-Welt-Assoziation zu wecken, die sich ganz wunderbar zur Vermarktung dieser ganzen Fake-Landhaus-Ramschigkeit eignet. Echtholzmöbel von Zwangsarbeitern aus sibirischen Urwäldern geschlagen und am Ende dann doch ganz schnöde industriell verarbeitet, mit Blutwurst verschmiert gewissermaßen. Aber ich schweife ab.

Es soll ja um Spaziergänge gehen.

Ein Spaziergang durch den Treptower Park, hin zur Spree. Am Rosengarten Familien mit Kindern, die im Springbrunnen planschen. Je näher der Fluß kommt, umso voller wird es. Frisbees fliegen, Sonnenbäder werden genommen, ein Hauch von Strand, wenn auch ohne Badestelle. Dort, ein Paar mit echten Weingläsern. Bestimmt Grauburgunder. Alle sehen so glücklich aus. Über den Sommer bin ich zumeist im eignen Garten und nicht hier. So überrascht es mich dann doch immer wieder, wie viele Menschen es in den Park, an den Fluss zieht. War ja nicht mit zu rechnen…

Die Massen stören mich diesmal gar nicht. Die über Jahre fleißig gepflegte Misanthropie verfliegt in der Sonne, zerfließt am Wasser. Darauf ziehen Boote aller Größen ihre Runden. Obwohl, hier zwischen Stralau und Treptow bewegen sie sich recht gradlinig, streben einem Ziel zu, das mir verborgen bleibt. Am eigenartigsten sind die Stehpaddler*innen. Besonders die Solisten unter ihnen strahlen extreme Einsamkeit aus. Dabei weiß ich gar nicht zu sagen, was mir an deren Erscheinung so unglaublich disparat vorkommt.

Dabei geht es doch genau darum, dafür Worte zu finden. Für das Verborgene, das schwer zu Erklärende. Wozu sonst schreiben? Das Offensichtliche ist schon tausendfach gesagt. Ich habe keine Lust mehr. Ich will das nicht mehr lesen, ich will es auch nicht wiederholen. Deklamieren und Recht haben. Es sind beileibe genug Leitartikel geschrieben worden, vielleicht braucht es eher eine Umarmung. Eine Umarmung für die, die nicht von irgendeinem falschen Weg abgebracht werden müssen, sondern auf dem richtigen Weg angelegentlich verzweifeln.

Ein Gruß geht also hinaus an den einsamen Spaziergänger und ein Winken an die aufrechte Stehpaddlerin. Irgendwo die Spree entlang, gleich hinterm Plänterwald, ganz in der Nähe des Fährterminals Baumschulenstraße, fängt die Zukunft an. Ich warte dort auf euch.

oben im Bild: Am Neuköllner Richardplatz wird die Frage der Zukunft schon lebhaft an öffentlichen Wandzeitungen diskutiert

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Hereinspaziert [mit Update]

Die Beschleunigung ist bemerkenswert. Ohne Rücksicht. Von 30 auf 50, auf 100, auf Orkan. Ja, wer aufbauen will, muss mobilisieren, verhandeln, Kompromisse eingehen. Jeder Schritt vorwärts bremst gleichzeitig die Bewegung aus. Dem Zerstörungwerk aber ist eigen, dass es keiner großen Verabredung bedarf. Es muss nicht jeder Funke zünden. Es genügt, wenn alle ein bisschen kokeln. Muss gar nicht doll sein, Hauptsache am Ende brennts schön. (Glut und Gut und Glut und Glut und Glut…)

Besonders frustrierend ist das völlige Versagen von solch hochdotierten Kulturmanager*innen: „Als Festival wollen wir uns nicht positionieren, wir möchten für Austausch, Kommunikation, Dialog da sein.“, antwortet die Chefin der Berlinale auf die Kritik an der Einladung von Rechtsextremen. Und schämt sich dabei nicht genug, um wenigstens diesen Unfall einer Stellungnahme aus einem auch ansonsten bizarr selbstmitleidigen Interview nicht freizugeben. Ihre Chefin, die Kulturstaatsministerin deckt ihr den Rücken für diese Shitshow. Es gibt anscheinend keine Institution liberaler Bürgerlichkeit, die dem kommenden Faschismus mehr entgegensetzen möchte als ein bedauerndes Lächeln vorm weit aufgesperrten Scheunentor. Na denn: Hereinspaziert!

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Im Zuge des Traktor-Defilees der westelbischen Junker (c) @kubia) kam hie und da der Hinweis auf Fallada. Tatsächlich ein guter Anlass, „Bauern, Bonzen und Bomben“ zu lesen. Ein ganz wunderbares Buch. Mitreißende Charaktere, die fast filmischen Szenenaufbauten, die lebendigen Dialoge, die klugen Beobachtungen und schlüssigen Konstruktionen der Ränkespiele. Ich war hingerissen.

Tucholsky bemerkte in seiner Besprechung 1931 ganz treffend, dass die Bauern etwas zu kurz kommen in dem Buch und es sich eher um einen Kleinstadtroman handele. Mit dem Blick dieser Kleinstadt und seiner Elite aber wird der Konflikt vor allem in der Rückschau von bald hundert Jahren bedrohlicher, als er damals vielleicht schon scheinen wollte.

Henning erklärte eifrig: „Ich habe mir alles überlegt. Das Fahnentuch ist schwarz. Das ist das Zeichen unserer Trauer über diese Judenrepublik. Drin ist ein weißer Pflug: Symbol unserer friedlichen Arbeit. Aber, daß wir auch wehrhaft sein können: ein rotes Schwert. Alles zusammen die alten Farben: Schwarzweißrot.“

„Bauern, Bonzen und Bomben“, Hans Fallada

Immerhin sind die Figuren so lebendig, dass es kaum anders geht, als sich vorzustellen, wo sie wohl vier-fünf Jahre nach der beschriebenen Handlung sein würden. Da hat der zum Schriftsteller gewandelte Journalist Fallada vielleicht mehr gesehen, als ihm selbst bewusst war. Der klügere Tucholsky schwankte denn auch im Urteil zwischen Kritik und Bewunderung: „…es ist so unheimlich echt, dass es einem graut.“

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Gewiss, Geschichte wiederholt sich nicht. Das aber zunächst auch nur deshalb, weil sich die immer selben Fehler eben nicht zur exakt gleichen Summe aufaddieren, auch wenn sie immer aufs neue begangen werden. Und gnadenlos neu aufgeführt wird der immer selbe Zirkus auf jeden Fall. Sozialdemokratische Innenminister*innen werden in diesem Universum einfach nichts mehr dazu lernen, ganz zu schweigen von einer Kulturbürokratie, die ohne eigene Position irgendwelchen Austausch zu führen wünscht.

Die entscheidende Frage ist deshalb, wie viele andere mit dem Informationsvorsprung gegenüber Fallada und Tucholsky etwas anfangen können und den ganzen Fehlern angemessene Korrekturen entgegenstellen werden. Und wieviel Zeit für Mobilisierung, Verhandlung und Kompromiss im beschleunigt sich verengenden Möglichkeitsraum noch verbleibt.

[Update, 8. Feburar 2024: Die Berlinale hat die AfD-Leute wieder ausgeladen. Dass es den Mitarbeiter*innen des Festivals gelungen ist, ihre Chefs doch noch zum Jagen zu tragen, ist ein sehr großer und gar nicht selbstverständlicher Erfolg und ein gelungenes Beispiel dafür, mit welcher Kraft und Geduld an allen Ecken und Enden interveniert werden muss.]

Bild oben: Die Stiefel sind Zeichen der Bauernproteste. Zu finden dieser Tage an vielen Ortsschildern im Havelland. An einigen fanden sich auch stilisierte rote Schwerter aufgemalt oder geklebt. Wie auf dem Banner der u.a. in Falladas Buch beschriebenen Landvolkbewegung.

Was fehlt

Ach, ich wollte mich so aufregen. Über einen früheren Arbeitgeber. Die Gründe sind gut genug, der Anlass aber nicht. Denn drauf gekommen bin ich, weil ich dreimal in ebenso vielen Wochen nah dran war (mehr als in den letzten drei Jahren zusammengenommen). Zwei Abschiedsfeiern dort, eine Reunion dazu.

Denn was soll das. Ich vermisse Menschen von da und habe mich gefreut, sie wiederzusehen. Was kümmert es mich also Jahre nach meinem Weggang, dass der Laden so ein Scheiß ist? Tja, eben.

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Der verdiente Zitatgeber des Volkes, Frédéric Valin, schrieb mal irgendwo, dass es ihm gut tue, die Publikationen für die er schreibe nicht mehr zu lesen.

Viel besser lässt sich die Irrelevanz diverser linker oder pseudolinker Organe nicht zusammenfassen. So eine Art professional Facebook: Man schreibt was rein, bekommt immerhin 12,50 Euro dafür, liest den andern Kram aber besser nicht, sind eh alles Idioten.

Warum also überhaupt noch publizieren? Die Faschisten werden nicht mit der spitzen Feder aufgehalten. Außerdem ist die Zeit zu kurz, mit den andern 12,50-Nichtsnutzen darüber zu diskutieren, ab wie viel Punkten auf der Adolfskala man sich auch handgreiflich wehren darf. Aber irgendjemand muss natürlich die „Art und Weise“ anprangern, in der Widerständigkeit sich findet. Lina soll also Nazis weh getan haben. Hmm, ich bin sehr entschieden gegen Gewalt und genau deshalb hat diese mir ansonsten gänzlich unbekannte junge Frau meine Solidarität.

[jetzt bloß nicht schwach werden, keinen Unsinn verlinken]

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Das ist das Internet, das angeblich nichts vergisst. Ich finde die besten Texte nicht mehr. Nicht von Freund*innen, nicht von Bekannten, nicht von verschämt Verehrten. Nicht den über die Emos von M. (der sich verpisst hat), nicht das Stück übers sich selber Wegschreiben von B. (den ich fragen kann, ob ers noch irgendwo hat).

Ich hatte keine so rechte Vorstellung, was das alles soll mit diesem Netz, aber ich mochte das, wollte Teil davon sein. Das war anstrengend.

Es geht mir viel besser heute, weil ich weiß was fehlt. Die Suche wird deshalb nicht leichter.

Im Wald

Nun ist es schon deutlich länger als ein Jahr her, dass ich meine bislang letzte Zigarette geraucht hab. Der positive Impact auf meine Gesundheit durch den Umstand, dass ich ungefähr genauso lange keiner Lohnarbeit mehr nachgehe, scheint mir aber deutlich höher zu sein, als die Nikotin- und Teerentwöhnung. Nun ist es gewiss keine neue Erkenntnis, dass Arbeit (zumindest unter gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen) krank machen kann. Etwas zu wissen und es selber zu spüren bekommen sind jedoch zwei gänzlich unterschiedliche Angelegenheiten. Das kann eins dann schon ziemlich ratlos zurücklassen.

So viel kann ich aber mit Sicherheit sagen: Im Wald ist es schöner als am Schreibtisch. Und ich meine das gar nicht auf so eine romantisierend-zivilisationsfeindliche Art. Ich mag meinen Schreibtisch durchaus. Es ist aber zweifellos angenehmer, ohne Zeitdruck, ohne Fremdbestimmung auf der Suche nach Pilzen durchs Unterholz zu kriechen. Angenehmer jedenfalls, als beispielsweise ein penetrant klingelndes Telefon oder dieses hässliche Geräusch, mit dem sich neuer Emaileingang die Ehre gibt.

Fliegenpilz auf einer Wiese

In den letzten Tagen gab es so eine Bewegung hin zum Fediverse, oder um genau zu sein, fast ausschließlich zu Mastodon. Auslöser ist der Twitterkauf von Musk. Es wird eigenartigerweise richtig gestritten über die Migration hin zum dezentralen, selbstverwalteten Raum. Vielleicht verständlicherweise. Twitter ist für viele schließlich professionelles Netzwerktool. Da möchte man keine Störungen oder Abwanderungsbewegungen haben, die jene mühevoll aufgebauten Followerstrukturen zerbröseln lassen.

Mir ist das scheißegal, merke ich. Als vorgestern auch noch Instagram abkackte und mich nicht mehr einloggen ließ, fühlte ich kurz so etwas wie Glückseligkeit. Kein Nudging mehr, keine Likechecks und der ganze Kram. Da muss man gar nicht moralisch in die eine oder andere Richtung argumentieren (man kann natürlich, aber auch dann spricht wirklich alles gegen Twitter und für Mastodon).

Frédéric Valin merkte in einem, haha, Facebook-Post an, dass er sich bei Mastodon wohl fühle. Das ist doch zunächst das einzige valide Argument, überhaupt irgendwo rumzuhängen. Im Wald, am Schreibtisch, in der Kneipe, im Netz. Der Rest ist Zwang, oder zumindest nicht immer angenehme Notwendigkeit: Lohnarbeit, Reproduktionsarbeit, Faschismus bekämpfen. Was man halt so machen muss.

Pilz auf einer Wiese, im Hintergrund herbstbunte Bäume