Welche Ordnung?

Die Textproduktion kennt kein Ende. Grad in Kriegszeiten wird ständig geschrieben. Dafür, dagegen, darüber. Alles in größter Eile, gerne auch in Liveblogs und Tickern, dieser Pestbeulen des Nachrichtenjournalismus, wo regelmäßig Neuigkeiten präsentiert werden müssen, um das Publikum bei der Stange zu halten. Es lohnt sich, nicht nur zum Wohle der eigenen psychischen Gesundheit, sondern auch fürs Erkenntnisinteresse, durchzuatmen und einen Schritt zurückzutreten. Texte lassen sich dann finden, deren Thesen, Beobachtungen und Prognosen mitten im Krieg auch nach ein-zwei Tagen oder gar Wochen und Monaten noch Bestand haben, mindestens interessant, vielleicht sogar dramatisch augenöffnend und nicht einfach nur Buchstabenmüll sind.

Zunächst interessieren mich vor allem, im weitesten Sinne, linke Sichtweisen und Erklärungsansätze. Versuche, sich nicht zu verheddern in den verschiedenen Erzählsträngen der allseits eingesetzten Propaganda. Volodymyr Artiukh, ukrainischer Anthropologe, hilft beim Entwirren in einem Beitrag, der unter anderem bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht wurde. In Richtung der westlichen Linken weist er auf die analytische Schwäche des auf die Nato als einzig agierender Instanz gerichteten Blicks hin. „Daher frappiert mich die verkürzte Weise, in der ihr das dramatische Geschehen in unserem Erdteil öffentlich darstellt, das ihr lediglich als Antwort auf die Umtriebe eurer eigenen Regierungen und Wirtschaftseliten begreift. […] Um Russland herum erwächst eine Realität, die ihren eigenen Gesetzen folgt, eine zerstörerische Realität brutaler Unterdrückung, in der ein Atomkrieg nicht länger außerhalb des Denkbaren liegt.“

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Ein Text von Nelli Tügel befasst sich in der ak mit der nervig-naiven Fixierung einiger Linker auf Völkerrecht und Diplomatie als Allheilmittel (Auge, Gysi). In einem instruktiven Abriss historischer Entwicklungslinien seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird hier Rosa Luxemburg als Kronzeugin für eine politische Analyse und Handlungsfähigkeit jenseits imperialistisch geprägter Gepflogenheiten und Verträge ins Feld geführt. Find ich alles sehr informativ und unbedingt bedenkenswert.

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Was mir ansonsten oft fehlt, sind irgendwie plausible Einschätzungen, was überhaupt das strategische Interesse Putins/Russlands sein könnte. Die meisten Erkläransätze (wenn man sich die Mühe überhaupt macht) lassen sich salopp als „Der Typ ist durchgeknallt“ übersetzen. Das mag letztlich ja sogar stimmen, nur können wir uns dann jede weitere Diskussion sparen und besser eiligst schauen, ob wir nicht doch noch rechtzeitig die alten Atomschutzbunker reaktiviert kriegen.

Es will mir nicht in den Kopf, dass das Handeln einer Person, die sich so lange in so einer Position hält, und des sie tragenden Umfeldes nicht doch einer gewissen Rationalität folgt. Die sollen keine klare Vorstellung einer „win-Situation“ haben und zu Pragmatismus unfähig sein? Zwei Stücke, die sich der Frage aus entgegengesetzten Richtungen annähern und auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, sind bei der WOZ und The New Statesman zu lesen.

Während die russische Dichterin Maria Stepanova mit großer Empathie von der bedrohten, sich selbst behaupten müssenden Seite her spricht, denkt der portugiesische Politiker Bruno Maçães bereits im November letzten Jahres vom Zentrum der Macht her. Stepanova ist der Überzeugung, dass Putins strategisches Ziel die konkrete Unterwerfung der Peripherie unter seine heilsbringende Ordnung ist. Maçães hingegen kommt zu dem Ergebnis, dass Chaos das Ziel der ganzen Operation ist. Chaos zum Zwecke der Stabilisierung der eigenen Macht.

Auf der einen Seite also ein moralischer Kampf „Gut gegen Böse“ der auf ein definitives Finale zuläuft, auf der anderen ein pragmatischer zwischen „Chaos und Ordnung“, der quasi ununterbrochen fortgesetzt werden muss. Ich fände es gut, wenn es mehr Diskussionsbeiträge gäbe, die ebenso informiert und empathisch genau dieses Spannungsfeld beleuchten. Die aus solchen Gesprächen entstehenden Prognosen und Handlungsvorschläge ließen sich jedenfalls ernster nehmen, als diese ganzen Schnellschüsse der hyperventilierenden Liveticker-Westentaschenstrategen.

Die SU macht sowas nicht

In den vergangenen Monaten war Russland recht oft Thema zwischen meiner Großmutter (88 Jahre alt, Generation DDR-Aufbau) und mir, da wir für dieses Jahr eine Reise dorthin geplant hatten; eine ganz bestimmte Route mit besonderen Orten, in Erfüllung eines Jugendtraumes der Großmutter. In den Gesprächen fiel mir auf, dass sie beispielsweise Armenien, Georgien oder die Ukraine mit ihren jeweiligen Namen als eigenständige Staaten wahrnimmt und benennt, für Russland aber sehr regelmäßig „SU“ als Bezeichnung verwendet, die früher gebräuchliche Abkürzung der Sowjetunion also.

Daran musste ich in den letzten zwei Wochen sehr oft denken, und zwar beim Blick auf das traurige Bild das die Parteiprominenz der Linken abgibt in der Bewertung der russischen Aggression in der Ukraine. Und ich meine mit traurig gar nicht die Handvoll fortgesetzt schamloser Putinfans. Deren Positionen sind auch in anderen Fragen ohnehin schon länger nicht satisfaktionsfähig. Nein, es geht mir mehr um jene, die jetzt so „überrascht“ und „enttäuscht“ sind und von denen viele sicher mit ehrlichem Entsetzen die Entwicklung sehen und nun (vielleicht) versuchen, eigene Fehler und Irrtümer zu benennen und aus ihnen zu lernen.

So mit am drastischsten ist da sicher Gregor Gysis Zurechtweisung von Fraktionskolleg*innen, die sich gleich völlig zum Obst gemacht haben. Bemerkenswert fand ich aber auch einen Beitrag zur Sache von André Brie im ND.

Gysis kleiner Ausraster beinhaltet viel richtiges, nach meinem Gefühl tatsächlich nichts „falsches“ im engeren Sinne, und doch finde ich das so dringende alleinige Beharren auf dem Völkerrecht als Argument etwas schwachbrüstig für einen erfahrenen Politiker. Klar, der Anlass und die Form der Äußerung erzwingen hier eine gewisse Verkürzung. Gysis Rechtspositivismus ist aber nicht neu und macht mich misstrauisch, vor allem weil der ja nicht ohne einen gewissen Pragmatismus Anwendung findet. Waren denn die russischen Interventionen in Georgien und in der Ostukraine davor Ok? Oder irgendwie okayener? Weil nicht gar so blutig? Oder Tschetschenien, weil der Feldzug innerhalb der Landesgrenzen stattfand?

Oder um mal von der Empfängerseite zum Absender zu wechseln: Ist die russische Regierung eine demokratisch und rechtsstaatlich aufgestellte, oder gar eine besonders progressive, linke vielleicht sogar? Die Antwort auf diese Fragen kann ja das politische Urteil durchaus beeinflussen. Entweder aber Gysi drückt sich da um eine klare Bewertung oder ich verstehe seine feine Ironie nicht, wenn er zB. nach dem Verbot von Memorial meint, die russische Regierung selbst müsste gegen das entsprechende „Urteil vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrecht ziehen“. Zu DDR-Zeiten wäre das ein Bombenwitz gewesen. Aber was ist das heute?

Gysi holt in dem aktuellen Brief noch aus, dass Putin in seinem Handeln ja nun gerade einer Nato-Osterweiterung argumentatives Futter gibt. Und auch wenn es, vor allem wegen seines absolut richtigen Vorwurfs an seine Fraktionskolleg*innen der Empathielosigkeit gegenüber den Opfern des Krieges, bei Gysi selbst nicht nicht so klingt: Bei einigen Genoss*innen, die pflichtschuldig den völkerrechtswidrigen Angriff verurteilen, schmeckt doch durch, dass ihr Hauptproblem eine aus dem rabiaten russischen Handeln entstandene diskursive Unbequemlichkeit ist.

Als wenn das alles schon irgendwie begründbar wäre, wenn Putin nur etwas diskreter vorgehen täte. Lediglich in den „Volksrepubliken“ einmarschieren, möglicherweise noch bis an die Grenzen der beiden Oblaste, aber da dann Stopp? Wären wir damit cool, ja? Könnten wir dann einfach weiter so tun, als wenn Putin sich nur gegen die böswillige Natoeinkreisung wehrt, und wo gehobelt wird usw.? Die Krim ist ja schließlich auch schon fast vergessen, aller Völkerrechtswidrigkeit zum Trotz.

Und dann frage ich mich, woher das kommt, dieser Drang alles aus Moskau irgendwie zu entschuldigen. Ja, und dann denke ich eben an meine Großmutter und die „SU“. Und daran, wie meine Lehrerin im September 1983, als die Nachrichten über ein bei Sachalin abgeschossenes südkoreanisches Verkehrsflugzeug im Westradio rauf- und runterliefen und wir kleinen Steppkes natürlich mit Fragen kamen, meinte: „Die SU macht sowas nicht.“ Ich denke, dass man Kindern im Grundschulalter, vor allem aber sich selber, niemals so einen Quark erzählen sollte.

Kommen wir zu Brie, der, gewollt oder nicht, ein bisschen Einblick in Seelenleben und Herzensleid der PDS-Gründungsgeneration gibt. Sein Text im ND ist, vor allem für den jahrelang als Toptheoretiker der PDS apostrophierten Autor, von wirklich beschämend billiger Rhetorik. Der Blick in die Geschichte rechtfertige den „verbrecherischen Krieg“ nicht, heißt es da. Nur um dann nichts anderes zu tun, als in der Geschichte Rechtfertigung für den Krieg zu suchen.

Neben dem obligatorischen „Die Nato ist auch immer ganz schlimm gewesen und deshalb Mitschuld“ kommt davor im selben Absatz eine besonders perfide Abrechnung mit ausgerechnet Gorbatschow in dem Text vor, gleich gefolgt von der völligen analytischen Bankrotterklärung des in der DDR diplomierten und promovierten Politikwissenschaftlers.

„Gorbatschow wurde bei den Verhandlungen zum Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990 zugesagt, dass die Nato nicht in den Osten erweitert werden würde. Doch Gorbatschow ließ dies nicht vertraglich vereinbaren. Er machte es hier wie mit seiner Perestroika, es gab keine konkreten Vorstellungen und Festlegungen. Die Nato hat sich immer weiter Richtung Osten ausgedehnt, und Russland wurde immer wieder gedemütigt. 1999 überfiel die Nato ohne UN-Mandat und gegen den russischen Widerstand Jugoslawien.“

Hier wird also implizit der versuchten Demokratisierung der Sowjetunion unter Gorbatschow so im Vorbeigehen die Schuld für deren Untergang zugeschrieben, gleichzeitig die Verantwortung für das nachfolgende Chaos übergeholfen. Russland wird beiläufig – wie so oft – quasi gleichgesetzt mit der Sowjetunion, und dann „immer wieder gedemütigt“. Nun bin ich kein Experte für Völkerrecht, aber vielleicht mag Brie mal bei Gysi anfragen, ob „Kränkung des Nationalstolzes“ in Den Haag als hinreichender Kriegsgrund zählen würde. Das alles ist intellektuell schon ziemlich unterkomplex und in Teilen auch unredlich. Da wundert es mich nicht, wenn die Herrschaften so „überrascht“ und „enttäuscht“ von Putin sind.

Sicher, wer die Welt zum Besseren verändern will, braucht Utopien und Träume. Die sollten aber nicht dazu verführen, sich Illusionen über die Gegenwart zu machen. Deren Betrachtung muss nüchtern und klar sein. Dazu gehört zu wissen, und zwar nicht erst seit vergangenem Donnerstag, dass Putins Russland ein autoritärer Unrechtsstaat ist, dessen Militär wiederholt schwerste Verbrechen gegen Völker- und Menschenrechte verübt hat, und dass dieses Russland zwar ein Gegner der Natostaaten sein mag, aber eben keine erstrebens- oder besonders schützenswerte Alternative zu ihnen ist. Wenn man das klar hat, muss man auch nicht weiter drüber diskutieren, wer da warum gekränkt ist, sondern kann glaubwürdig und kraftvoll gegen die jetzt angekündigte Militarisierung der deutschen Außenpolitik kämpfen.