Sozialistischer Realismus

Chemnitz ist keine sonderlich schöne Stadt. Das „sächsische Manchester“ muss ja schon in seiner Blütezeit mehr nach Industriearbeit, denn nach Lustwandelei ausgesehen haben und das soll jetzt keine unberufene Romantisierung proletarischer Lebenswelten einleiten. Grönemeyer mochte, wie wir wissen, sein Bochum ganz besonders „vor Arbeit ganz grau“. So warm sind meine Gefühle hier nicht, auch wenn Chemnitz ein Ort meiner Kindheit ist, wahrscheinlich aber kein entschieden prägender.

Meine Erinnerung ist die an eine Brache in der Mitte der Stadt. Das war eine auch in den 1980ern noch unübersehbare Kriegswunde, die nach der Wiedervereinigung denkbar hässlich überbaut wurde durch ein riesiges Parkhaus nebst Einkaufzentrum. Der früher etwas verloren herumstehende, von der fast völligen Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg verschont gebliebene Rote Turm, ist nun zweiseitig von höher aufragenden Wänden der neu erbauten Shopping-Mall umschlossen.

Stehen geblieben nach 1990 ist noch der zentrale Bau aus der DDR, der Stadhallenkomplex und gegenüber der Nischel, wie die Einheimischen den riesigen kupfernen Kopf des zwischenzeitlichen Namenspatrons der Stadt, Karl Marx, auch schon in meiner Kindheit nannten. Die Stadthalle zeigt derweil außen wie innen recht kühne Modernität. Ganz schön monumental, aber durchaus einladend dabei. Das rötliche, aus der Gegend stammende Gestein der Verkleidungen (für Geologieinteressierte: Rochlitzer Porphyr) gibt einen freundlichen rötlichen Grundton. In und um den Bau finden sich einige Kunstwerke, die auch in meinen Schulbüchern besprochen wurden. Das vielleicht bekanntest davon ist Fritz Cremers Galilei.


Bockwurstgeruch begrüßte mich im Foyer, als ich nach einem langen und sehr lehrreichen Tag bei den Chemnitzer Linuxtagen zum Kulturprogramm mit der Familie eilte: Konzert des Sächsischen Sinfonieorchesters Chemnitz e.V. Für mich war das eine Premiere, hatte ich bis zu diesem Abend doch noch kein Amateurorchester spielen hören. Das Programm: Gassenhauer. Rossinis Tell-Ouvertüre (die ganze, nicht nur der Schunkelteil am Ende) rummste ordentlich, dann Klavierkonzert Nr. 1 von Tschaikowsky. Das getragen vor allem von der zugebuchten Solistin. Dann Pause und etwas Angst vor Beethoven 5 im zweiten Teil des Konzerts.

Tatsächlich war der Kopfsatz recht breiig dahingemetzelt, aber irgendwie wurde es ab dem zweiten dann doch besser. Mit drittem und viertem Satz schien das Zusammenspiel dann schließlich wieder erbaulich zu sein. Und während der ganzen Zeit und noch lange danach versuchte ich zu verstehen, warum. Offenbar habe ich da eine kognitive Dissonanz. Beethoven, die Sinfonien zumal, ist nichts für Amateure? Dabei sollte ich genau das doch großartig finden, was ich da gesehen habe, den Zugang zur hohen Kunst vorbei an Geniekult und Perfektionismus.

Schon während des Konzerts der Gedanke, dass die auf der Bühne den Beethoven erleben, wie ich es gar nicht könnte. Nicht einfach nur konsumieren, selber heranwagen, im Zweifelsfall scheitern. Auf jeden Fall mittendrin. Später dann, weil es mich nicht loslässt, erweitert sich das um die Überlegung, dass Aneignung eben auch delegiert erfolgen kann. Das geschieht aber nur dann überzeugend, wenn die Proxies nahbar sind; mir ebenbürtig.

Wenn das glaubwürdig gelingt, wird Spezialisierung oder Arbeitsteilung vom Trennenden zum Verbindenden. Die da oben sitzen, tun das nicht, weil sie etwas besseres sind, sondern weil sie das Beste unseres Gemeinsamen präsentieren. Dann bin ich nicht mehr einfach nur passives Publikum, sondern Teil der Aufführung. Mag sein, dass das Orchester in der Chemnitzer Stadthalle gar nicht „besser“ wurde im zweiten Satz der 5. Sinfonie. Eventuell habe ich nur einfach besser zugehört. Anders. Teilnehmend. „Wer wohnt schon in Düsseldorf…“ Ja, danke Herbert.

im Bild oben: Blick auf die Bühne der Stadthalle Chemnitz

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Der Hölle Rache

Zur Oper gekommen bin ich mit knapp 30 Jahren. Es war nicht das Interesse am Musiktheater, was mich dahin brachte, sondern Geld. Als Aushilfe in der Bühnentechnik, als Kulissenschieber also, hatte ich dann über ein paar Jahre Gelegenheit, mich bezahlt durch den Kanon zu hören und an vorderster Front die These bestätigt zu sehen, dass es sich bei der Oper um eine erstarrte Kunstform handelt, die zwar eine lange Vergangenheit, aber wohl kaum eine nennenswerte Zukunft haben könnte.

Die Staatsoper in Berlin gab (gibt?) sich aber auch wirklich kaum Mühe, irgendwie innovativ aufzufallen. Die hauseigenen Inszenierungen, die ich so sah, waren alle sehr konventionell, sehr gefällig noch dazu. Das war schon die passende Begleitung während nebenan das Kommandantenhaus von Bertelsmann mit pseudo-historischer Fassade hingeklotzt wurde, so wie später das unsägliche Stadtschloss. Diese ganze Guido-Knopp-Architektur fand seine Entsprechung in den bombastischen Bühnenbildern. Die beiden spannendsten Inszenierungen die ich dort sah, waren dementsprechend Gastspiele, eines von Sasha Waltz, eines von Robert Wilson.

Und doch ist da etwas passiert mit mir. Des großen Luxus’, so oft die Staatskapelle hören zu können, war ich mir von Anfang bewusst. Auch wenn ich nichts in Bühnennähe zu tun hatte, nutze ich deshalb Vorstellungsschichten, um möglichst die ganzen Opern zu hören, statt im Casino zu versumpfen.

Hyperpopulär war zu der Zeit die Zauberflöte in der Everding-Inszenierung mit dem „Orginal“-Schinkel-Bühnenbild. Das ist das mit dem legendären Sternenhimmel, vor dem die Königin der Nacht singt. Ich weiß nicht mehr, wer in meiner Zeit dort die Königin gegeben hat, aber das war die Sängerin, deren Stimme einmal durch mich hindurchgefahren ist und die sich wie eine eiskalte Hand um meine Wirbelsäule legte. Da ergreift mich noch immer ein Schauer, wenn ich dran denke. Ich habe der Hölle Rache so oft in ihrem Herzen nicht einfach nur kochen gehört, sondern auch gespürt – nicht schlecht für eine erstarrte Kunstform.

Jahrelang habe ich nach einer Aufnahme gesucht, die auch nur einigermaßen nahe an diese Erfahrung ran kam. Nach vielen nicht überzeugenden Versuchen schien mir letztlich eine Einspielung von Diana Damrau ein hinreichender Näherungswert zu sein. Es ist eben doch etwas anderes, ob man am Bühnenrand, wenige Meter von der Diva entfernt von ihrer Aura eingefangen wird oder die Sache aus der Konserve kommt. Da geht halt immer etwas verloren, dachte ich. Dafür kommt bei Damrau übrigens immer noch mächtig was rüber.

Vor ein paar Tagen, es war so ein Rabbit-hole-Moment, in dem man kurz davor ist, dass gesamte Weltwissen via Wikipedia zu inhalieren, las ich den Eintrag zur zweiten Arie der Königin der Nacht. Dort wird unter Trivia erwähnt, dass das Stück eines der Tondokumente sei, die mit den Voyager-Sonden über die Grenzen des Sonnensystems ausgesandt wurden. Und zwar in einer Aufnahme von Edda Moser mit dem Orchester der bayerischen Staatsoper.

Kann man sich ja mal anhören, dachte ich.

„Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“ – Moser packt nicht einfach nur mit der eiskalten Hand zu, nein, ein druckvolles blau-züngelndes Feuer verzehrt alles in ihrer Reichweite. „Tod und Verzweiflung flammet um mich her!“ Was da aus den Lautsprechern kommt, ist genau das. Tod, Verzweiflung, Flammen. Schon beim ersten Mal Hören dachte ich, dass sie allein mit furchtbarer Wut das Orchester vor sich hertreibt und fragte mich, was eigentlich der Dirigent von Beruf ist. „Verstoßen sei auf ewig“.

Ja, und dann liest man zur Entstehung der Aufnahme, dass Edda Moser 1972 bei Ankunft in München erfuhr, dass die Frau des Dirigenten Sawallisch (aus welchen Gründen auch immer) veruchte, sie aus der Produktion zu drängen. Der Produzent setzte sich in Mosers Interesse durch und Sawallisch ließ ihr dann im Studio die Wahl, welche Arie zuerst eingespielt werden solle. Sie wählte Nummer zwei. One-take-Aufnahme. In der Tat Stoff für die Sterne.

Berühren und berührt werden können. Wut scheint eine recht nachdrückliche kreative Kraft in Bewegung zu setzen, denke ich immer öfter. Zumindest dann, wenn sie wie ein Laserstrahl gebündelt jeden Panzer durchbrennt. Ich jedenfalls spreche da sehr gut drauf an.

im Bild oben: Erstarrt und doch irgendwie dynamisch.

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Privatstädte, Füh- und Passmann (Bonus Kürbisgulasch)

Dieser Tage nachholend so einiges gelesen. Bitteschön:

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In der Frankfurter Rundschau findet sich eine interessante Recherche von Andreas Kemper zu den Bestrebungen, „Private Städte“, also urbane Räume jenseits demokratisch Übersicht/staatlicher Kontrolle zu schaffen. Kemper geht es dabei vor allem um eine Degussa-Connection und deren Bestrebungen in „politisch vergleichsweise schwachen Staaten“ mit viel Geld entsprechende Gated Communites der besonderen Art einzurichten. Die Rede in diesem Falle ist von Honduras sowie São Tomé und Príncipe.

Das erinnert an ähnliche Pläne ein wenig weiter nördlich. Im Bundesstaat Nevada könnte es demnächst möglich sein, mit genug Geld und Grundbesitz quasi exterritoriale Städte zu bauen, schön mit eigenen Gesetzen und Steuern. Wenn man‘s genau bedenkt ist das eine nur logische Entwicklung. Sich immer wieder aufs neue Politiker*innen kaufen zu müssen, um ein gewisses Maß an Kontrolle über die Stadtentwicklung in bestehenden Metropolen zu haben, ist schließlich ein ziemlich langwieriges Glücksspiel. Die Eigentumsverhältnisse von Anfang klar zu haben, ist da irgendwie ehrlicher.

Ich frag mich nur die ganze Zeit, wo dann eigentlich die Dienstboten der Luxusretreats wohnen werden. Wahrscheinlich in Trailer-Slums vor den Stadttoren. Vielleicht weiß Andreas Kemper ja mehr darüber, immerhin hat er ein Buch zur Sache geschrieben das im März bei Unrast erscheint. Ich bin jedenfalls gespannt.

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Gunnar Decker noch mit einem im Freitag nachgereichten Stück zu Fühmann. Decker geht auf die Hermetik FFs ein, seine Unverkäuflichkeit im goldnen Westen, die Suche nach dem „Eigentlichen“ in der Literatur. Tatsächlich fand ich den bis ins Extreme sich steigernde Kunstbegriff und Anspruch Fühmanns nicht durchweg richtig oder gar einladend. Andererseits muss der Antrieb, immer weiter zu forschen und zu schaffen ja von etwas herkommen, und woher soll ich amplitudenarmer Schlumpf das schon wissen.

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Bei Zeit Online hat Sophie Passmann Tocotronic gewürdigt. Wenn auch weniger die Band, als das ganze Phänomen rundherum. Als entschiedener Nicht-Fan war ich trotzdem sehr angesprochen von dieser humor- wie liebevollen und klug beobachteten Erläuterung. Zum Text meinte K., dass der schon sehr „passmannisch“ sei. Versäumt zu fragen, ob das jetzt was schlechtes ist. Tja.

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Gekocht hab ich auch die Tage, einer Empfehlung aus einem Newsletter folgend. Robin Detjes erbauliche Serie „Lasst uns gemeinsam einen besseren Weltuntergang bauen!“ endete im 5. Teil, versandt am vergangenen Montag, mit dem Link auf ein Kürbisgulaschrezept. Da alle Zutaten* hier vorhanden waren und es eine fixe Angelegenheit ist, gleich mal gekocht. Ich würde beim nächsten Mal gewiss etwas großzügiger salzen gleich am Anfang und die Menge Linsen um vielleicht ein Drittel reduzieren, aber geschmeckt hat‘s ansonsten prima.

*(naja, fast alle, statt Rotweinessig Balsamico genommen und statt Gemüsesuppe Kalbsfond und weil der Majoran hier jahrelang stiefmütterlich vor sich hindiffundierte, lieber noch etwas Rosmarin nachgelegt)