Ein einfacher Vorsatz

Wie meistens komme ich erst nach Abschluss des Chaos Communication Congress‘ dazu, mir einige der Talks dort anzuschauen. Diesmal wird es sicher noch mindestens eine Woche dauern, bis ich loslegen kann. Ausnahme ist der Vortrag von Bianca Kastl und Martin Tschirsich zur Elektronischen Patientenakte.

Die knappe Zusammenfassung? Es ist einfach unfassbar, was da in gerade mal zwei Wochen in die freie Wildbahn entlassen wird (zunächst in einigen Testregionen, ab Mitte Februar dann deutschlandweit für alle, die nicht widersprochen haben). Falls Sie es nicht schon getan haben, der dringende Rat: Opt out! Ernsthaft, man kann daran nicht teilnehmen. Ich weiß schon, „nix zu verbergen“, aber Gesundheitsdaten?

Die sollten schon sehr sicher aufbewahrt werden und der Zugriff dürfte nur unter besonders strikter Kontrolle möglich sein. Wenn die Daten einmal draußen sind, lässt sich das nie wieder einfangen. Hepatitis C? Wissen dann alle, die es wissen wollen. Rezept für ein Duloxetin-Präparat? Bingo. Hämorrhoidenleiden? Glückwunsch.

Selbstverständlich ist die digitale Akte eine gute Idee, aber die Umsetzung scheint so dramatisch unsicher, das es schon erschütternd ist, dass es medial nicht mehr dazu gibt, als ein paar laue Servicestücke. Gerade erst beim rbb, wo zum Datenschutz lapidar festgestellt wird: „Ein Risiko von Datenklau und Hackerangriffen besteht im digitalen Raum allerdings immer, die Nutzung solcher Technologien bleibt also auch immer eine persönliche Abwägung.“

Die von Kastl und Tschirsich in ihrem Vortrag beschriebenen Angriffe sind dermaßen trivial in der Durchführung, dass schon nicht mehr von einfachen Schwachstellen und dem unvermeidlichen Restrisiko die Rede sein kann. Die beschriebene Infrastruktur scheint von Grund auf nicht geeignet zu sein, auch nur basale Anforderungen an die Sicherheit der überaus sensiblen Daten zu gewährleisten. Das ist eine Information, die ganz hilfreich für die persönliche Abwägung sein könnte. Aber ok.

Es geht dabei noch nicht mal um die schon lange bekannten obskuren Wege, auf denen die individuellen Daten nur pseudonymisiert (also bei Kenntnis des geeigneten Schlüssel zurückverfolgbar) statt anonymisiert für „Forschung“ gesammelt werden sollen. Forschung in Anführungszeichen, da Karl Lauterbach schon stolz eine Kooperation mit Google, Facebook und OpenAI avisiert. Was soll da schon schief gehen…

Es geht auch nicht um das ganz generelle Problem der zentralen Sammlung so vieler Datensätze in einer Infrastruktur mit buchstäblich hunderten Stakeholdern auf der nationalen Ebene (Krankenkassen und Dienstleistern zB), die wiederum jeweils teils Zehntausende Angestellte haben. Wie viel Vertrauen soll man zu deren Rechtemanagement und IT-Sicherheit haben?

Wenn man diese ganzen internen Gefahrenstellen mal außer acht lässt, bleibt immer noch die im Vortrag demonstrierte Außentäterperspektive. Es wird gezeigt, wie leicht es ist, sich eine Gesundheitskarte zu beschaffen. Die genügt dann bereits, um auf die Einzelakte zuzugreifen. Es gibt keine PIN, kein Identitätsnachweis. Einfach nichts ist vorgesehen, um da den Zugriff, der auch das Schreiben und Löschen in der ePA beinhaltet, weiter zu sichern.

Genauso wird demonstriert, wie leicht es auf mehreren Wegen ist, sich die Rechte von Leistungserbringer*innen (in der Regel also Praxen) zu verschaffen und damit Zugriff auf die Akten aller Patient*innen der vergangenen 90 Tage. Die der vollständigen Akten übrigens, da sich in der Verwaltung der ePA ja nicht granular unterscheiden lässt, welche Ärzt*innen welche Unterlagen bekommen.

Drittens wird demonstriert wie leicht es ist, sich den Zugang zu den ePAs beim Versicherungsstammdatendienst zu erschleichen. 70 Millionen Akten auf einen Schlag.

Insgesamt weisen Kastl und Tschirsich also mehrere Wege nach, auf denen Stand Mitte Dezember der unbefugte Zugriff auf theoretisch alle elektronischen Patientenakten möglich ist. Was soll man dazu noch sagen außer: Opt out!

oben im Bild: am Ende des Regenbogens liegt die sichere ePA

Winterfest

Das Faszinierende an politisch motivierter Repression ist, wie unbemerkt sie oft stattfindet. Ich glaube es ist in der allgemeinen Öffentlichkeit gänzlich unbekannt, erstens mit welcher Härte die Polizei schon immer gegen alles Linke (vermeintlich „linksextremistische“) vorgeht und zweitens, welche Ausmaße das auch im weiteren Umfeld der eigentlichen Zielpersonen annehmen kann. Der Verfolgungsdruck steigt ja ins geradezu Unermessliche, wenn kriminelle oder terroristische Vereinigung unterstellt wird. Umso verdienstvoller ist, dass die taz gelegentlich Raum gibt für eine etwas ausführlichere Berichterstattung.

Die Tage erst erschien ein recht breit angelegtes Stück über die völlig überzogenen Maßnahmen bezüglich des Budapest-Antifa-Komplexes. Obacht beim Lesen, schon der Einstieg ist recht grafisch. Bezüge werden auch zur Klimabewegung hergestellt, deren Aktive ja ebenfalls einer Kriminalisierung ausgesetzt sind, die in keinerlei Verhältnis steht zu den jeweiligen Aktionsformen.

Was besonders erschreckt, sind die angedeuteten Ermüdungs- und Resignationserscheinungen. Leipzig zum Beispiel: „Menschen, die sich vorher grüßten und guten Kontakt hatten, taten plötzlich so, als würden sie sich nicht kennen.“ Diese unter dem Druck sich verstärkende Vereinzelung ist ja das genaue Gegenteil dessen, was man sich als Reaktion wünschen würde. Aber so ist das leider, wenn schon die lose Bekanntschaft zu bestimmten Personen genügt, um dergestalt ins Visier zu geraten, dass man sich mal 4.30 Uhr morgens einer rabiaten Hausdurchsuchung gegenübersieht. Da wird Distanzierung jetzt nicht die völlig unverständlichste Vorbeugemaßnahme sein. Solidarität hat ihren Preis – und man sollte vorsichtig mit dem Urteil darüber sein, welche Gründe den gegebenenfalls zu hoch erscheinen lassen. Die Perspektive wird ja auch nicht unbedingt besser.

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Ein sehr interessantes Gespräch mit Jeanette Hofmann, Professorin für Internetpolitik an der FU Berlin, hat das Weizenbaum-Institut veröffentlicht. Ganz ohne Umschweife ordnet sie den ganzen Desinformations-Kladderadatsch als das ein was es ist: Politisches Handeln zur Mobilisierung und nicht primär ein Werkzeug zur Manipulation: „Die offen zur Schau getragene Gleichgültigkeit gegenüber dem Wahrheitsgehalt von Informationen ist […} weniger Unkenntnis als eine politische Verortung. Und die Idee des Fact-Checking oder De-Bunkings übersieht diese Qualität.“

Dessen ungeachtet wird fleißig weiter gefactcheck und entlarvt. Manchmal wird vielleicht kurz innegehalten und sich gewundert, warum das so kunstvoll mit dem journalistischen Florett erlegte Lügenmonster immer wieder aufsteht. Aber irgendwie folgt nichts aus diesem Moment der Irritation. Man möchte eben weiterhin objektiv über den Dingen stehen. Manchmal frage ich mich, ob mein früherer Berufsstand die Welt, die er zu beschreiben vorgibt, je verstanden hat. Wenn ich an all die Gesprächsrunden und Konferenzen denke, erinnere ich mich vor allem an durch keinerlei Empirie begründbare Selbstgewissheit, die mir oft als Ausdruck von Hilflosigkeit erschien. Gelegentlich war sie sogar nur eine seltsame Bockigkeit gegenüber der von den gelernten Regeln abweichenden Realität.

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Dankbar sein kann ich mal wieder Frédéric Valin für einen Hinweis. Und zwar im nd auf auf „Das Schweigen meines Vaters“ von Mauricio Rosencof, erschienen bei Assoziation A. Obwohl bei den einschlägigen Medien recht breit rezipiert, wär mir das evtl. durchgerutscht. Der Tupamaros-Veteran und Dichter Rosencof nähert sich in der fragmentarischen Erzählung vor dem Hintergrund seiner eigenen barbarischen langjährigen Haft der Geschichte seiner aus dem polnischen Shtetl stammenden Familie. Der Vater, und etwas später Mutter und Bruder, waren noch einige Jahre vorm deutschen Überfall auf Polen ausgewandert. Die meisten Verwandten wurden ermordet.

Was mir neben all den Dingen, die Valin zum Werk bemerkt, noch sehr stark aufgefallen ist: die zärtliche Humanität die das Buch durchzieht. Das mag ein wenig kitschig klingen, aber mir leuchtet da immer wieder in Bildern von Verbundenheit und Widerstand eine tief empfundene Menschlichkeit entgegen. Die wiegt umso stärker, weil sie gegen die schonungslosen Szenen aus der Vernichtungsmaschinerie steht. Keine Sorge, das Buch halluziniert keine falsche Hoffnung im Angesicht von Auschwitz. Das Leben kann nicht schön sein, wenn es an die Rampe von Birkenau gezwungen wird.

So lange aber jemand erzählt – so erzählt wie Rosencof – ist das Leben immerhin noch hier.

Packpapier

Was Seesslen in der taz zum Verschwinden der der gedruckten Zeitung schreibt, beschäftigt mich jetzt schon ein paar Tage. Ich möchte die ganze Zeit widersprechen, bin aber unschlüssig, worauf eigentlich. Entweder durchdringe ich den Text nicht so richtig oder er ist für Seesslens Verhältnisse einfach ungewöhnlich argumentiert. Üblichererweise ist das bei ihm doch immer ziemlich deutlich. Mäandernd bisweilen, ja, aber am Ende doch recht unmissverständlich durchgetaktet. Stoff zum drüber nachdenken, dran reiben. Klar und nüchtern hergeleitete Gedanken eben.

Hier aber lese ich eine ungewohnte Sentimentalität raus, die sich, wie es in ihrer Natur liegt, aus sich selbst heraus begründet und deshalb keiner weiteren Erläuterung bedarf. Oder übersehe ich was? Vielleicht fehlt mir aber auch einfach der Bezug zur Zeitung als papiernes Objekt. Ich hatte früher Abos, fand es auch ein ganz erhebend, das erste Mal so eine Zeitung mit einem Text von mir drin in der Hand zu haben. Aber, dass ich die Kulturtechnik vermissen würde, die „Rituale des Alltagslebens“, die Beobachtung „wie einer faltet, die andere hinlegt“ usw, kann ich nicht sagen.

Funny enough, ich halte die Einstellung gedruckter Zeitung ganz generell trotzdem für einen Fehler, aber nicht, weil die Nachrichten beim Übergang in ein anderes medium „ihr Wesen verändern“ (eine Charakterisierung des Prozesses die ich, nebenbei, nachvollziehen kann). Es scheint mir nur eher eine Fortsetzung des verlegerischen Missverständnisses in der Einordnung des eigenen Geschäfts. Eine Art Trotz fast. „Nee, jetzt nicht mehr gedruckt. Ätsch“. Während die Verlage nämlich den digitalen Bereich zunächst nur auf sein Marketingpotential hin abgeklopft haben und dabei über Jahre, Jahrzehnte, nichts von den journalistischen Möglichkeiten im Netz begriffen, scheinen sie nun das Marketingpotential der Printausgaben zu unterschätzen.

Selbstverständlich bringt eine gedruckte Zeitung ab einem bestimmten Punkt (Rückgang Abos, Werbung / Anstieg Druck-, Papier- und Vertriebskosten) keinen unmittelbaren Gewinn mehr. Das konnten sich selbst mäßig begabte Verleger schon vor einer ganzen Weile selber ausrechnen. In der Öffentlichkeit sichtbar zu sein, sei es an Kioskauslagen, sei es an diesen unpraktischen Zeitungshaltern in Cafés, kommuniziert aber die Marke in eine Sphäre, die sowohl von digital natives, als auch von den sentimentalen Kulturtechnikern gelegentlich betreten wird. Das spannende an so einem Marketing ist, dass die Maßnahme zur Steigerung der Wahrnehmung sich immerhin zum Teil direkt selber finanziert: durch Abos und Verkauf. Und es ist eine Form der Werbung, die mE nicht ganz so gehasst wird, wie blinkende Banner auf Webseiten oder über den unmittelbaren Werbezweck hinaus so nutzlos ist wie Plakate an Litfaßsäulen. Aber egal.

Anlass für den Seesslens Text war ja eventuell die Ankündigung der taz, im Oktober 2025 das tägliche Print einzustellen. Die Wochenendausgabe und der Onlinebetrieb sollen bleiben. Ich weiß, die Sprachregelung bei dieser „Seitenwende“ (ich hoffe, das ist selbst ausgedacht und nicht zu viel Geld für ne Agentur bei drauf gegangen) ist, dass man damit ganz vorne dran sei an der Entwicklung der Branche. Was Quatsch ist. Eine Wochenzeitung mit angeschlossenem aktuellem Onlinebetrieb ist schließlich schon ein etwas älteres Konzept. Ich glaube ich hab davon das erste Mal vor bald 30 Jahren gehört. Aber auch das ist egal.

Nicht egal ist Seesslens These, dass eine bestimmte Form ziviler und demokratischer Debatte und Öffentlichkeit an ein bestimmtes Medium, die papierne Zeitung, gebunden ist. „Behauptung“ sage ich deshalb, weil die Hauptaussage „Die Zeitungen sterben, der Demokratie geht es auch nicht besonders. Vielleicht hat das eine doch etwas mit dem anderen zu tun.“ eine Koinzidenz vielleicht ganz richtig beobachtet. Die Kausalität aber wird mir nicht hinreichend begründet. Und ich glaube, das ist es auch was mich stört. Dass das, was der Ausgangspunkt einer Überlegung sein könnte, zumindest bei diesem Text ihr Abschluss ist. Vielleicht will ich ja gar nicht widersprechen, sondern würde nur gerne mehr erfahren.

Viele Barrieren und eine Farce

Die Linuxtage an der TU Chemnitz also. Mit dankbarem hat tip an Silke Meyer, deren dringende Empfehlung für die Veranstaltung ich mindestens an informierte Laien wie mich nur weitergeben kann. Ein insgesamt sehr spannendes Programm, besonders toll auch, dass es Beiträge für praktisch jedes Level an Vorkenntnis gab, von extrem hochspezialisierten technischen Sachen, bis zu allgemeineren und allgemeinverständlichen Einführungen in grundlegende Themenfelder.

Besonders anregend fand ich den Strang zu Barrierefreiheit, dessen zwei Vorträge, „Bewusst barrierefrei“ (Irmhild Rogalla, Institut für digitale Teilhabe, HS Bremen) und „Digitale Barrierefreiheit: Basics“ (Lars Kiesow) ganz praktisch deutlich machen, welche Möglichkeiten und Notwendigkeiten auf dem Gebiet der Barrierefreiheit beachtet werden können und sollen. Gerade die Bezüge zu eigener Arbeitserfahrung machten jeweils sehr anschaulich, welche „Kleinigkeiten“ Welten verschließen oder öffnen können.

Bestätigt fand ich hier die Überlegung, dass Barrierefreiheit bei Software und Hardware (wie auch sonst) prinzipiell schon in der Entwicklung voranzustellen, ganz generell die Usability massiv erhöht. Schließlich sind Beeinträchtigungen in den seltensten Fällen ein klarer An-Aus-Schalter, sondern fließende Bereiche von Normabweichungen, die sich spätestens in höherem Alter in den Lebensalltag einschleichen. Und das üblicherweise zunehmend nachteilig. Die häufiger werdenden Beschwerden meiner Großmutter über schlecht instandgesetzte Fußwege sind mir eine deutliche Vorwarnung.

Dem Themenblock zuschlagen würde ich noch den im Track „Eisenbahn“ untergebrachten Beitrag zur Erfassung von Barrieredaten im ÖPNV (Robin Thomas, TU Chemnitz). Hier wird mE ein Beispiel produktiver Verbindung von Forschung und Open-Source-Community gezeigt, das aber auch prinzipielle Fehler im System sichtbar macht. Kurz gesagt geht es bei dem Projekt darum, dass die Nutzer*innen von Open Streetmap, einer populären Google-Maps-Alternative, Informationen über den Stand der Barrierefreiheit von ÖPNV-Haltestellen in die Datenbank einpflegen. Auf dieser Grundlage können mobilitätseingeschränkte Menschen zum Beispiel Routen zuverlässiger planen oder Menschen mit beeinträchtigter Sehfähigkeit vorab mehr über mögliche Hindernisse und deren Umgehung in Erfahrung bringen.

Das ist eine prima Idee, die mit hinreichender Beteiligung sicher eine willkommene Unterstützung ist im alltäglichen Ärger des Umgangs mit einer Welt, die dieses bescheuerte „normal“ zum Maß aller Dinge erhoben hat und auf den Rest keinen Gedanken verschwenden mag. Bedenkend aber, dass hier Daten gesammelt werden, die eigentlich der öffentlichen Hand bereits vorliegen müssten (schließlich gibt es gesetzliche Pflichten zu Barrierefreiheit, deren Einhaltung auch dokumentiert werden muss), ist ein wenig traurig.

Während ein Gesundheitsminister von allen Menschen einfach mal so sämtliche hochsensible Gesundheitsdaten zentralisiert sammeln, lagern und verarbeiten möchte (sry, aber die großspurige ePA-Ankündigung dieser Tage regt mich tierisch auf), schaffen die zuständigen Behörden in diesem Land es nicht einmal, die weit weniger sensiblen, dafür aber für viele Menschen sehr wichtigen Daten zum Ausbau eines barrierefreien Nahverkehrs zu sammeln und maschinenlesbar zur Verfügung zu stellen. Es ist alles so eine Farce. Der Datenschutz ist ja bekanntermaßen daran schuld, dass wir noch immer nicht in der Zukunft leben, für die Gegenwart aber will irgendwie niemand Verantwortung übernehmen. Naja.

Anyway, ich schau mir noch ein ein paar Talks zu anderen Themen an, die sind alle beim CCC-Streamdump abrufbar. (es geht immer so bei ca. 15-18 min los)

Im Bild oben: Buntes Chemnitz, Symbolbild.

Im Wald

Nun ist es schon deutlich länger als ein Jahr her, dass ich meine bislang letzte Zigarette geraucht hab. Der positive Impact auf meine Gesundheit durch den Umstand, dass ich ungefähr genauso lange keiner Lohnarbeit mehr nachgehe, scheint mir aber deutlich höher zu sein, als die Nikotin- und Teerentwöhnung. Nun ist es gewiss keine neue Erkenntnis, dass Arbeit (zumindest unter gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen) krank machen kann. Etwas zu wissen und es selber zu spüren bekommen sind jedoch zwei gänzlich unterschiedliche Angelegenheiten. Das kann eins dann schon ziemlich ratlos zurücklassen.

So viel kann ich aber mit Sicherheit sagen: Im Wald ist es schöner als am Schreibtisch. Und ich meine das gar nicht auf so eine romantisierend-zivilisationsfeindliche Art. Ich mag meinen Schreibtisch durchaus. Es ist aber zweifellos angenehmer, ohne Zeitdruck, ohne Fremdbestimmung auf der Suche nach Pilzen durchs Unterholz zu kriechen. Angenehmer jedenfalls, als beispielsweise ein penetrant klingelndes Telefon oder dieses hässliche Geräusch, mit dem sich neuer Emaileingang die Ehre gibt.

Fliegenpilz auf einer Wiese

In den letzten Tagen gab es so eine Bewegung hin zum Fediverse, oder um genau zu sein, fast ausschließlich zu Mastodon. Auslöser ist der Twitterkauf von Musk. Es wird eigenartigerweise richtig gestritten über die Migration hin zum dezentralen, selbstverwalteten Raum. Vielleicht verständlicherweise. Twitter ist für viele schließlich professionelles Netzwerktool. Da möchte man keine Störungen oder Abwanderungsbewegungen haben, die jene mühevoll aufgebauten Followerstrukturen zerbröseln lassen.

Mir ist das scheißegal, merke ich. Als vorgestern auch noch Instagram abkackte und mich nicht mehr einloggen ließ, fühlte ich kurz so etwas wie Glückseligkeit. Kein Nudging mehr, keine Likechecks und der ganze Kram. Da muss man gar nicht moralisch in die eine oder andere Richtung argumentieren (man kann natürlich, aber auch dann spricht wirklich alles gegen Twitter und für Mastodon).

Frédéric Valin merkte in einem, haha, Facebook-Post an, dass er sich bei Mastodon wohl fühle. Das ist doch zunächst das einzige valide Argument, überhaupt irgendwo rumzuhängen. Im Wald, am Schreibtisch, in der Kneipe, im Netz. Der Rest ist Zwang, oder zumindest nicht immer angenehme Notwendigkeit: Lohnarbeit, Reproduktionsarbeit, Faschismus bekämpfen. Was man halt so machen muss.

Pilz auf einer Wiese, im Hintergrund herbstbunte Bäume

Nachrichten aus der DRM-Hölle und anderen Abgründen

In der Kurzgeschichte „Unauthorized Bread“ (erschienen 2019 im Band „Radicalized“) beschreibt Cory Doctorow das Elend von Digital Rights Management (DRM) anhand eines Toasters, der nur Brot eines bestimmten Herstellers toastet. Seine Protagonistin hackt das Ding aus unmittelbarer Notwendigkeit und wird so zur Kriminellen. So weit hergeholt ist das nicht, Doctorow weiß natürlich wovon er spricht. „The war on general computing“ ist sein Leib- und Magenthema.

Und in der Realität wird praktische jede seiner Analysen immer wieder bestätigt, und das auf Wegen, die sich der Schriftsteller im Prediger und Aktivisten kaum besser hätte ausdenken können. So hat Doctorow grad die Gelegenheit, sich bei der Electronic Frontier Foundation über den nächsten Gipfel der DRM-Unverschämtheit auszulassen. Nach der ohnehin schon reichlich frechen aber inzwischen achselzuckend als Normalität akzeptierten Herstellerbindung bei Druckertinte versucht ein Produzent von Labeldruckern nun die Benutzung von Papier aus nicht autorisierten (oft deutlich preisgünstigeren) Quellen zu unterbinden. Kann also nicht mehr lange dauern mit den Toastern.

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Proprietäre Systeme können dabei noch viel existenziellere Probleme verursachen. Ebenfalls wie aus einer dystopischen Doctorow-Geschichte kommt ein Bericht bei IEEE Spectrum daher (deutschsprachige Zusammenfassung bei futurezone.at). Ein künstliches Auge hört auf zu funktionieren, weil die Herstellerfirma pleite gegangen ist und es keinen Support und keine Updates mehr gibt. „Hört auf zu funktionieren“ bedeutet tatsächlich, dass die Menschen, die für ihr Augenlicht auf das Implantat angewiesen sind, erneut erblinden. Was der Markt halt so regelt.

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Außerdem interessant: Ein bisschen nerdiges Stück bei Mozilla im Blog über die Frage, warum Links standardgemäß blau daherkommen. Die Screenshots in dem Beitrag haben tatsächlich was nostalgisches für mich. Vermisse ein wenig die Neugier und das Erstaunen die ich in den frühen 90ern mit Computern verband. Achja, Spoiler: Die Frage, „Warum ausgerechnet blau?“ kann bislang nicht abschließend geklärt werden.

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Apropos nerdig, ein Tweet, der mE. recht treffend die unfassbare Repression gegen sexuelle Minderheiten in Texas kommentierte, brachte mich auf den Youtubekanal des Autors. Dort dann mit allergrößter Begeisterung dessen fast 22-minütige Eloge auf einen Dosenöffner und die Lehren fürs Leben, die sich aus dem Gerät und Kontext ziehen ließen, geschaut. Das ist ist nicht für alle Stimmungslagen geeignet, aber wenn man sich drauf einlassen kann, ist es wirklich wundervoll.

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Disclaimer: Selbstverständlich lese ich auch das eine oder andere zum Krieg in der Ukraine. Das jedoch auch nur für mich zu ordnen und vielleicht noch Empfehlungen auszusprechen – soweit bin ich nicht. Und ehrlich gesagt gehen mir die ganzen Bescheidwisser mit ihren geopolitischen think pieces, deren Thesen teilweise schon am Erscheinungstag an den Realitäten zerschellen, mächtig auf die Nerven. Am ehesten kann ich im Moment was anfangen mit Berichten von mir vertrauten Journalist*innen über zB. NGOs, die vor Ort der Zivilbevölkerung zu helfen suchen*. Denn, dass die als erste und am stärksten leidet, ist wohl das einzige was sicher ist.

*(wie zB dieses von Dinah Riese für die taz geführte Interview mit einer Organisation namens Libereco)

Mittelschicht und Meckerei ohne Links

Zwei Texte, gelesen in den letzten Tagen. Einer über die geile, actionreiche Debatte um die Mittelschicht als etwas verschwommen definiertes Ideal. Und einer über die ach so böse, böse Technik, die uns alle zu Zombies macht.

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Nils C. Kumkar und Uwe Schimank reflektieren beim Merkur den großen Erfolg der Gesellschaftsanalyse von Andreas Reckwitz in „Das Ende der Illusionen“ und lassen es gleich am Anfang ordentlich knallen: „Reckwitz prägt also nicht deshalb die Debatte, weil seine Diagnose »stimmt«, sondern weil sie »passt«.“ Es wird von den beiden statt dessen nämlich eine erhebliche Differenz zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und gesellschaftlicher Selbstbeobachtung angenommen.

Kumkar und Schimank kritisieren die Beschreibung der Mittelstandsgesellschaft als dominantes nicht nur von Reckwitz idealisiertes Selbstbild, weil sie empirisch so gar nicht (mehr) existiere. Die beschriebenen gesellschaftlichen Bruchlinien gäbe es nicht, weil die von Reckwitz vorausgesetzte Sortierung in „alte“ und „neue“ Mittelklasse allein schon die Differenzen innerhalb der als weitestgehend homogen angenommenen Blöcke völlig außer acht lasse. Die durch so viele politische Lager rezipierte Analyse könne demnach überhaupt nicht zur soziologischen Durchdringung möglicher gesellschaftlicher Spaltung herangezogen werden. Jedenfalls nicht, wenn man an faktischer Realität bleiben wolle.

Nun hab ich den Reckwitz gar nicht gelesen (er liegt hier irgendwo rum, auf einem virtuellem Turm des vernachlässigten Wissens), die Kritik ist mir aber lustigerweise sofort plausibel, zugegebenermaßen sicher auch deshalb, weil sie im wesentlichen dem Hassblock gegen die vermeintliche Identitätspolitik das eine oder andere Argument zu entziehen scheint. Ob sie nun aber mehr auf die Gläubigen als den Propheten zielt, oder gar beide gleichermaßen trifft, überlasse ich zunächst den Beleseneren.

Erinnert hat mich das ganze jedenfalls an die einzige Veranstaltung, der ich in meiner Freizeit, wenn die Erinnerung mir keinen Streich spielt, in den letzten 12 Monaten live in einem geschlossenen Raum beiwohnte. „Mythos Mittelschicht“. hieß die (die Aufzeichnung hat leider in der ersten Stunde einen ganz beschissenen Ton). Dort versuchten die Gäste Volkan Ağar, Julia Friedrichs und Mareice Kaiser das Problem mit dem Selbst- und Idealbild der gesellschaftlichen Mitte einzukreisen.

Die Kombination aus den dreien war an sich ganz konstruktiv, wenn auch durch schwache Moderation nicht so richtig zusammengeführt. Friedrichs zB mit dem sehr nützlichen Beharren auf einer sauberen Empirie, besonders hilfreich dabei der Hinweis darauf, dass die Einkommensmittelschicht messbar an Bedeutung verliere und vererbbares Vermögen immer entscheidender für nachhaltige Mittelklassenzugehörigkeit werde. Kaiser und Ağar dagegen mit dem auch in vielen ihrer Texte herausklingenden Balanceakt, die eigene Ausgeschlossenheitserfahrung nicht einfach nur als erbauliche Geschichte individueller Auseinandersetzungen und Aufstiege, sondern im größeren Zusammenhang der allgegenwärtigen ökonomischen Unterdrückung zu erzählen.

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Eine Sache die mich ein wenig genervt hat während und dann auch noch nach dem Lesen war ein Vorabauszug aus einem Buch beim Guardian. Um gestohlene Aufmerksamkeit geht es da, wie die Internetkonzerne unseren Fokus zerstören und welche schlimmen neurologischen und kognitiven Folgen das hat. So weit so schnarch. Normalerweise lese ich derartiges gar nicht erst vertieft, weil solche Aufsätze einfach zu oft von Unkenntnis und Ressentiments und einem furchtbar langweiligen Kulturkonservatismus geprägt sind. Jedoch war der Icherzähler schon beim Einstieg ein so unterträgliches Arschloch, das zB den Versuch beschreibt, seinem unaufmerksamen Neffen das Telefon aus der Hand zu schlagen und zwar einsieht, dass das Kind keine Schuld trage, aber der Autor sich überhaupt nicht für den eigenen autoritären Impuls zu schämen scheint, also so ein unglaubliches Arschloch, dass ich nicht so recht aufhören konnte, weil ich einfach wissen musste, was der noch für einen Mist fabriziert.

Dann wird das ganze aber sogar ganz interessant, mit Bezügen zu wissenschaftlichen Studien und insgesamt nicht unklugen Beobachtungen, allerdings, und sowas ärgert mich wirklich, ohne Links im Text zu irgendwelchen Quellen. Dafür lauter Angebereien, wohin der Autor nicht alles geflogen war, um mit irgendwelchen Koryphäen zum Thema zu plaudern. Ich mein, auch wenn es ein Buchauszug ist: Es ist 2022, und es steht auf einer Webseite. Wo ist das Problem, verdammtnochmal Links zu setzen? Oder stört das den Fokus auf den Text?

Egal, denn als ich dann mehr über den Autor erfahren wollte, musste ich lernen, dass der, Johann Hari, schon mehrfach wegen schwerer Verfehlungen gegen journalistische Berufsethik auffällig geworden ist. (Plagiate, noch mehr Plagiate, hinterhältige Kampagnen) So jemand hätte die Links zu seinen Quellen mit dem Text bei mir in der Redaktion gleich mitliefern müssen, wenn ich schon die etwas seltsame Entscheidung treffe, Werbung für ihn zu machen.

Aber was soll‘s, so wird der Turm noch zu lesender Bücher mit diesem nicht höher gemacht, bleibt mehr Zeit für Andreas Reckwitz, nicht wahr.