Ohne Ort

Nachdem ich im vergangenen Jahr voll crazy gleich drei Berlinale-Filme gesehen hatte, bin ich dieses Mal zur Tradition des Besuchs genau eines Festival-Beitrags zurückgekehrt. Ausgerechnet in diesem furchtbaren Cubix-Block am Alex, wo Freitagmittag die Hardcore-Besucher*innen wie auch Mitarbeiter*innen nur noch Zombie-Charme ausstrahlen. Es wirkt wie der Schichtwechsel einer dystopischen Fabrik, die in halbwegs sterilen Werkstatträumen etwas unbestimmt waffenähnliches produziert. Mit grauen Gesichtern schleppen sie sich durch die charakterlose Architektur in langen Reihen aneinder vorbei. Die einen nach oben („Noch ein Film!“), die andern nach unten. Zwischendrin Unisex-Toiletten. Wokes Pissen in Berlin-Mitte. Wenn das [beliebige Zusammenrottung des abendländischen Kulturkampfes] wüsste…

Zu sehen gab es „Reifezeit“ in digital restaurierter Fassung. Ein Film, zufällig genauso alt wie ich. Gedreht zumindest in Teilen im Kiez süd-östlich des Bahnhofs Gesundbrunnen. Bis auf ein Straßenschild an der Kreuzung Swinemünder-Ramlerstraße stellt Regisseur Sohrab Shahid Saless Berlin aber überhaupt nicht aus. Die Mauer ist nur ein paar hundert Meter weit weg. Einmal um die nächste Straßenecke geschaut wäre der Fernsehturm auf der anderen Seite ins Bild gedrängt.

Nein, der Film hat keinen zwingenden Ort, vielleicht nicht einmal eine stark eingegrenzte Zeit. Die findet ohnehin nur als Maß der eintönigen Wiederholung im unlebbaren Leben der Protagonist*innen statt. Mit den Augen eines 9-jährigen Kindes werden die schablonenhaften Erwachsenen in ihrer ganzen Verlorenheit gezeigt. Deren Unfähigkeit, eine Welt zu gestalten, die ihren Nachkommen anderes Leben ermöglicht, wird dabei nicht als Vorwurf formuliert. Sie wird einfach nur als Fakt gezeigt.

Es ist alles ein bisschen wie naturalistisches Theater, aber als Film. Das erste Wort wird nach 20 Minuten gesprochen. Saless verwendet mit statischer Kamera die Treppenhäuser im Wedding, die trostlosen Zimmer, die kühlen Gänge der Schule wirklich wie Theaterkulissen. Licht und Schatten, Treppen hinauf, Treppen hinab. Wenn die Darsteller*innen sich nicht bewegen, bewegt sich auch sonst nichts. Selbst eine S-Bahnfahrt bringt da keine optische Erlösung. Die Fahrt auf einem Fahrrad, immer in einem Kreis, der nicht weiter als eine Toreinfahrt reicht, unterstreicht nur die Enge und Unbeweglichkeit.

Das meiste wird dabei in Andeutungen erzählt. Kleine Handlungen nur, die dieser Welt ihren Rahmen geben. Der Diebstahl einer Schokolade. Das wiederholte Abschminken der Mutter, nach getaner (Sex-)Arbeit. Da muss gar nicht grafisch gezeigt werden, wie schlimm das Geschehen selbst ist. Es wird sichtbar, wie schlimm es wirkt. Das ist alles nicht pädagogisch verpackt, sondern trotz der offensichtlichen Gesellschaftskritik seltsam unvoreingenommen, kindlich fast und insofern ein extrem gelungenes Beispiel für den Einsatz eines so jungen Hauptdarstellers.

Bild oben: Die Kreuzung Swinemünder Straße, Ecke Ramlerstraße heute. Im Hintergrund ist die Swinemünder Brücke zu sehen.

Im Wald

Nun ist es schon deutlich länger als ein Jahr her, dass ich meine bislang letzte Zigarette geraucht hab. Der positive Impact auf meine Gesundheit durch den Umstand, dass ich ungefähr genauso lange keiner Lohnarbeit mehr nachgehe, scheint mir aber deutlich höher zu sein, als die Nikotin- und Teerentwöhnung. Nun ist es gewiss keine neue Erkenntnis, dass Arbeit (zumindest unter gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen) krank machen kann. Etwas zu wissen und es selber zu spüren bekommen sind jedoch zwei gänzlich unterschiedliche Angelegenheiten. Das kann eins dann schon ziemlich ratlos zurücklassen.

So viel kann ich aber mit Sicherheit sagen: Im Wald ist es schöner als am Schreibtisch. Und ich meine das gar nicht auf so eine romantisierend-zivilisationsfeindliche Art. Ich mag meinen Schreibtisch durchaus. Es ist aber zweifellos angenehmer, ohne Zeitdruck, ohne Fremdbestimmung auf der Suche nach Pilzen durchs Unterholz zu kriechen. Angenehmer jedenfalls, als beispielsweise ein penetrant klingelndes Telefon oder dieses hässliche Geräusch, mit dem sich neuer Emaileingang die Ehre gibt.

Fliegenpilz auf einer Wiese

In den letzten Tagen gab es so eine Bewegung hin zum Fediverse, oder um genau zu sein, fast ausschließlich zu Mastodon. Auslöser ist der Twitterkauf von Musk. Es wird eigenartigerweise richtig gestritten über die Migration hin zum dezentralen, selbstverwalteten Raum. Vielleicht verständlicherweise. Twitter ist für viele schließlich professionelles Netzwerktool. Da möchte man keine Störungen oder Abwanderungsbewegungen haben, die jene mühevoll aufgebauten Followerstrukturen zerbröseln lassen.

Mir ist das scheißegal, merke ich. Als vorgestern auch noch Instagram abkackte und mich nicht mehr einloggen ließ, fühlte ich kurz so etwas wie Glückseligkeit. Kein Nudging mehr, keine Likechecks und der ganze Kram. Da muss man gar nicht moralisch in die eine oder andere Richtung argumentieren (man kann natürlich, aber auch dann spricht wirklich alles gegen Twitter und für Mastodon).

Frédéric Valin merkte in einem, haha, Facebook-Post an, dass er sich bei Mastodon wohl fühle. Das ist doch zunächst das einzige valide Argument, überhaupt irgendwo rumzuhängen. Im Wald, am Schreibtisch, in der Kneipe, im Netz. Der Rest ist Zwang, oder zumindest nicht immer angenehme Notwendigkeit: Lohnarbeit, Reproduktionsarbeit, Faschismus bekämpfen. Was man halt so machen muss.

Pilz auf einer Wiese, im Hintergrund herbstbunte Bäume

Nachrichten aus der DRM-Hölle und anderen Abgründen

In der Kurzgeschichte „Unauthorized Bread“ (erschienen 2019 im Band „Radicalized“) beschreibt Cory Doctorow das Elend von Digital Rights Management (DRM) anhand eines Toasters, der nur Brot eines bestimmten Herstellers toastet. Seine Protagonistin hackt das Ding aus unmittelbarer Notwendigkeit und wird so zur Kriminellen. So weit hergeholt ist das nicht, Doctorow weiß natürlich wovon er spricht. „The war on general computing“ ist sein Leib- und Magenthema.

Und in der Realität wird praktische jede seiner Analysen immer wieder bestätigt, und das auf Wegen, die sich der Schriftsteller im Prediger und Aktivisten kaum besser hätte ausdenken können. So hat Doctorow grad die Gelegenheit, sich bei der Electronic Frontier Foundation über den nächsten Gipfel der DRM-Unverschämtheit auszulassen. Nach der ohnehin schon reichlich frechen aber inzwischen achselzuckend als Normalität akzeptierten Herstellerbindung bei Druckertinte versucht ein Produzent von Labeldruckern nun die Benutzung von Papier aus nicht autorisierten (oft deutlich preisgünstigeren) Quellen zu unterbinden. Kann also nicht mehr lange dauern mit den Toastern.

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Proprietäre Systeme können dabei noch viel existenziellere Probleme verursachen. Ebenfalls wie aus einer dystopischen Doctorow-Geschichte kommt ein Bericht bei IEEE Spectrum daher (deutschsprachige Zusammenfassung bei futurezone.at). Ein künstliches Auge hört auf zu funktionieren, weil die Herstellerfirma pleite gegangen ist und es keinen Support und keine Updates mehr gibt. „Hört auf zu funktionieren“ bedeutet tatsächlich, dass die Menschen, die für ihr Augenlicht auf das Implantat angewiesen sind, erneut erblinden. Was der Markt halt so regelt.

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Außerdem interessant: Ein bisschen nerdiges Stück bei Mozilla im Blog über die Frage, warum Links standardgemäß blau daherkommen. Die Screenshots in dem Beitrag haben tatsächlich was nostalgisches für mich. Vermisse ein wenig die Neugier und das Erstaunen die ich in den frühen 90ern mit Computern verband. Achja, Spoiler: Die Frage, „Warum ausgerechnet blau?“ kann bislang nicht abschließend geklärt werden.

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Apropos nerdig, ein Tweet, der mE. recht treffend die unfassbare Repression gegen sexuelle Minderheiten in Texas kommentierte, brachte mich auf den Youtubekanal des Autors. Dort dann mit allergrößter Begeisterung dessen fast 22-minütige Eloge auf einen Dosenöffner und die Lehren fürs Leben, die sich aus dem Gerät und Kontext ziehen ließen, geschaut. Das ist ist nicht für alle Stimmungslagen geeignet, aber wenn man sich drauf einlassen kann, ist es wirklich wundervoll.

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Disclaimer: Selbstverständlich lese ich auch das eine oder andere zum Krieg in der Ukraine. Das jedoch auch nur für mich zu ordnen und vielleicht noch Empfehlungen auszusprechen – soweit bin ich nicht. Und ehrlich gesagt gehen mir die ganzen Bescheidwisser mit ihren geopolitischen think pieces, deren Thesen teilweise schon am Erscheinungstag an den Realitäten zerschellen, mächtig auf die Nerven. Am ehesten kann ich im Moment was anfangen mit Berichten von mir vertrauten Journalist*innen über zB. NGOs, die vor Ort der Zivilbevölkerung zu helfen suchen*. Denn, dass die als erste und am stärksten leidet, ist wohl das einzige was sicher ist.

*(wie zB dieses von Dinah Riese für die taz geführte Interview mit einer Organisation namens Libereco)

Privatstädte, Füh- und Passmann (Bonus Kürbisgulasch)

Dieser Tage nachholend so einiges gelesen. Bitteschön:

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In der Frankfurter Rundschau findet sich eine interessante Recherche von Andreas Kemper zu den Bestrebungen, „Private Städte“, also urbane Räume jenseits demokratisch Übersicht/staatlicher Kontrolle zu schaffen. Kemper geht es dabei vor allem um eine Degussa-Connection und deren Bestrebungen in „politisch vergleichsweise schwachen Staaten“ mit viel Geld entsprechende Gated Communites der besonderen Art einzurichten. Die Rede in diesem Falle ist von Honduras sowie São Tomé und Príncipe.

Das erinnert an ähnliche Pläne ein wenig weiter nördlich. Im Bundesstaat Nevada könnte es demnächst möglich sein, mit genug Geld und Grundbesitz quasi exterritoriale Städte zu bauen, schön mit eigenen Gesetzen und Steuern. Wenn man‘s genau bedenkt ist das eine nur logische Entwicklung. Sich immer wieder aufs neue Politiker*innen kaufen zu müssen, um ein gewisses Maß an Kontrolle über die Stadtentwicklung in bestehenden Metropolen zu haben, ist schließlich ein ziemlich langwieriges Glücksspiel. Die Eigentumsverhältnisse von Anfang klar zu haben, ist da irgendwie ehrlicher.

Ich frag mich nur die ganze Zeit, wo dann eigentlich die Dienstboten der Luxusretreats wohnen werden. Wahrscheinlich in Trailer-Slums vor den Stadttoren. Vielleicht weiß Andreas Kemper ja mehr darüber, immerhin hat er ein Buch zur Sache geschrieben das im März bei Unrast erscheint. Ich bin jedenfalls gespannt.

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Gunnar Decker noch mit einem im Freitag nachgereichten Stück zu Fühmann. Decker geht auf die Hermetik FFs ein, seine Unverkäuflichkeit im goldnen Westen, die Suche nach dem „Eigentlichen“ in der Literatur. Tatsächlich fand ich den bis ins Extreme sich steigernde Kunstbegriff und Anspruch Fühmanns nicht durchweg richtig oder gar einladend. Andererseits muss der Antrieb, immer weiter zu forschen und zu schaffen ja von etwas herkommen, und woher soll ich amplitudenarmer Schlumpf das schon wissen.

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Bei Zeit Online hat Sophie Passmann Tocotronic gewürdigt. Wenn auch weniger die Band, als das ganze Phänomen rundherum. Als entschiedener Nicht-Fan war ich trotzdem sehr angesprochen von dieser humor- wie liebevollen und klug beobachteten Erläuterung. Zum Text meinte K., dass der schon sehr „passmannisch“ sei. Versäumt zu fragen, ob das jetzt was schlechtes ist. Tja.

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Gekocht hab ich auch die Tage, einer Empfehlung aus einem Newsletter folgend. Robin Detjes erbauliche Serie „Lasst uns gemeinsam einen besseren Weltuntergang bauen!“ endete im 5. Teil, versandt am vergangenen Montag, mit dem Link auf ein Kürbisgulaschrezept. Da alle Zutaten* hier vorhanden waren und es eine fixe Angelegenheit ist, gleich mal gekocht. Ich würde beim nächsten Mal gewiss etwas großzügiger salzen gleich am Anfang und die Menge Linsen um vielleicht ein Drittel reduzieren, aber geschmeckt hat‘s ansonsten prima.

*(naja, fast alle, statt Rotweinessig Balsamico genommen und statt Gemüsesuppe Kalbsfond und weil der Majoran hier jahrelang stiefmütterlich vor sich hindiffundierte, lieber noch etwas Rosmarin nachgelegt)

Kunstmarkt, Eigenverantwortung und das Ende des Schiffbaus

Drei Texte, gelesen in den letzten Tagen, einmal Erläuterungen zum sich wandelnden Kunsthandel, ein schöner Rant über die Individualisierung der Pandemiehölle und ein guter Überblick zur Deindustrialisierung in den osteuropäischen Transformationsgesellschaften.

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Ingo Arend in der Süddeutschen Zeitung mit einem instruktiven Überblick über den Kunstmarkt (nicht im übertragenen, sondern genau im ökonomischen Sinne) und dessen pandemiebedingt beschleunigten Wandel hin zu einer digitalen, plattformbasierten, reichlich intransparenten Angelegenheit. Bei der setzen sich wenige big players gegen die kleinen Galerien, aber auch gegen traditionsreiche, aber unbeweglichere und letztlich auch kapitalschwächere Messen durch. Klingt irgendwie bekannt, oder? Eine vergleichende Untersuchung zu den Transformationsprozessen anderer Branchen mit denen „in der elegantesten Spielhölle des Kapitalismus“ würde ich, zB von Arend, auch als Buch lesen.

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Apropos Buch, „Die schlechteste Hausfrau der Welt“ habe ich immer noch nicht gelesen, was unter anderem daran liegt, dass ich das Werk noch nicht mal gekauft hab. Das wird aber noch, versprochen. Jedenfalls hat Jacinta Nandi in der ak den Blick auf Versagen und Vorwurf als mögliche Ausdrucksformen des deutschen Nationalcharakters geworfen, in der Pandemie zumal. Ich fühle mich abgeholt von dem Text, vielleicht auch ein bisschen erwischt, auf jeden Fall aber gut unterhalten. Und das ist mir wichtig, auch in den Flugschriften des Klassenkampfes. Denn wenn ich nicht lachen kann, ist es nicht meine Revolution. Basta.

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„Von Anerkennung und Respekt kann man bekanntlich keinen Lebensunterhalt bestreiten.“ – Schön gesagt, und zwar in einem Stück zum Ende der Werften in Mecklenburg-Vorpommern von Philipp Ther bei Zeit Online. Der Historiker schlägt einen weiten Bogen, der die kulturelle, wirtschaftliche und politische Bedeutung des Schiffbaus im Ostblock ganz interessant zusammenfasst. Auf so engem Raum einen solchen Überblick anzubieten, das muss man erstmal hinbekommen.

Für mich waren die entsprechenden aktuellen Nachrichten ein wenig déjà-vu. Anfang der Neunziger war die Deindustrialisierung des Ostens schließlich das lebensbestimmende Thema, wenn man da aufwuchs, nicht wahr. Die Symbolkraft der Werften (und des industriell betriebenen Fischfangs) lässt sich gar nicht überschätzen für den Nordosten. Gingen mit der wirtschaftlichen Einebnung der Kerne, ihrer Zulieferer und Weiterverarbeiter ja nicht nur ganz materiell Arbeitsplätze, also Einkommensoptionen für unglaublich viele Menschen verloren, sondern auch deren Lebensperspektive neben der Maloche. Auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, macht eben ganz schnell nicht nur ökonomisch arm.

Es ist drei Jahrzehnte später vielleicht schwer vorstellbar, wie unfassbar trostlos das alles war damals. Selbst der Protest von Belegschaften, mit ihren Betriebsbesetzungen und allem, war am Ende dann doch immer nur vorhersehbar aussichtslose Folklore. Das kommt in so nem Text wie dem von Ther ein bisschen knapp und unterkühlt rüber (was ich jetzt überhaupt nicht als Vorwurf meine, nebenbei).