Was fehlt

Ach, ich wollte mich so aufregen. Über einen früheren Arbeitgeber. Die Gründe sind gut genug, der Anlass aber nicht. Denn drauf gekommen bin ich, weil ich dreimal in ebenso vielen Wochen nah dran war (mehr als in den letzten drei Jahren zusammengenommen). Zwei Abschiedsfeiern dort, eine Reunion dazu.

Denn was soll das. Ich vermisse Menschen von da und habe mich gefreut, sie wiederzusehen. Was kümmert es mich also Jahre nach meinem Weggang, dass der Laden so ein Scheiß ist? Tja, eben.

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Der verdiente Zitatgeber des Volkes, Frédéric Valin, schrieb mal irgendwo, dass es ihm gut tue, die Publikationen für die er schreibe nicht mehr zu lesen.

Viel besser lässt sich die Irrelevanz diverser linker oder pseudolinker Organe nicht zusammenfassen. So eine Art professional Facebook: Man schreibt was rein, bekommt immerhin 12,50 Euro dafür, liest den andern Kram aber besser nicht, sind eh alles Idioten.

Warum also überhaupt noch publizieren? Die Faschisten werden nicht mit der spitzen Feder aufgehalten. Außerdem ist die Zeit zu kurz, mit den andern 12,50-Nichtsnutzen darüber zu diskutieren, ab wie viel Punkten auf der Adolfskala man sich auch handgreiflich wehren darf. Aber irgendjemand muss natürlich die „Art und Weise“ anprangern, in der Widerständigkeit sich findet. Lina soll also Nazis weh getan haben. Hmm, ich bin sehr entschieden gegen Gewalt und genau deshalb hat diese mir ansonsten gänzlich unbekannte junge Frau meine Solidarität.

[jetzt bloß nicht schwach werden, keinen Unsinn verlinken]

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Das ist das Internet, das angeblich nichts vergisst. Ich finde die besten Texte nicht mehr. Nicht von Freund*innen, nicht von Bekannten, nicht von verschämt Verehrten. Nicht den über die Emos von M. (der sich verpisst hat), nicht das Stück übers sich selber Wegschreiben von B. (den ich fragen kann, ob ers noch irgendwo hat).

Ich hatte keine so rechte Vorstellung, was das alles soll mit diesem Netz, aber ich mochte das, wollte Teil davon sein. Das war anstrengend.

Es geht mir viel besser heute, weil ich weiß was fehlt. Die Suche wird deshalb nicht leichter.

Mittelschicht und Meckerei ohne Links

Zwei Texte, gelesen in den letzten Tagen. Einer über die geile, actionreiche Debatte um die Mittelschicht als etwas verschwommen definiertes Ideal. Und einer über die ach so böse, böse Technik, die uns alle zu Zombies macht.

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Nils C. Kumkar und Uwe Schimank reflektieren beim Merkur den großen Erfolg der Gesellschaftsanalyse von Andreas Reckwitz in „Das Ende der Illusionen“ und lassen es gleich am Anfang ordentlich knallen: „Reckwitz prägt also nicht deshalb die Debatte, weil seine Diagnose »stimmt«, sondern weil sie »passt«.“ Es wird von den beiden statt dessen nämlich eine erhebliche Differenz zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und gesellschaftlicher Selbstbeobachtung angenommen.

Kumkar und Schimank kritisieren die Beschreibung der Mittelstandsgesellschaft als dominantes nicht nur von Reckwitz idealisiertes Selbstbild, weil sie empirisch so gar nicht (mehr) existiere. Die beschriebenen gesellschaftlichen Bruchlinien gäbe es nicht, weil die von Reckwitz vorausgesetzte Sortierung in „alte“ und „neue“ Mittelklasse allein schon die Differenzen innerhalb der als weitestgehend homogen angenommenen Blöcke völlig außer acht lasse. Die durch so viele politische Lager rezipierte Analyse könne demnach überhaupt nicht zur soziologischen Durchdringung möglicher gesellschaftlicher Spaltung herangezogen werden. Jedenfalls nicht, wenn man an faktischer Realität bleiben wolle.

Nun hab ich den Reckwitz gar nicht gelesen (er liegt hier irgendwo rum, auf einem virtuellem Turm des vernachlässigten Wissens), die Kritik ist mir aber lustigerweise sofort plausibel, zugegebenermaßen sicher auch deshalb, weil sie im wesentlichen dem Hassblock gegen die vermeintliche Identitätspolitik das eine oder andere Argument zu entziehen scheint. Ob sie nun aber mehr auf die Gläubigen als den Propheten zielt, oder gar beide gleichermaßen trifft, überlasse ich zunächst den Beleseneren.

Erinnert hat mich das ganze jedenfalls an die einzige Veranstaltung, der ich in meiner Freizeit, wenn die Erinnerung mir keinen Streich spielt, in den letzten 12 Monaten live in einem geschlossenen Raum beiwohnte. „Mythos Mittelschicht“. hieß die (die Aufzeichnung hat leider in der ersten Stunde einen ganz beschissenen Ton). Dort versuchten die Gäste Volkan Ağar, Julia Friedrichs und Mareice Kaiser das Problem mit dem Selbst- und Idealbild der gesellschaftlichen Mitte einzukreisen.

Die Kombination aus den dreien war an sich ganz konstruktiv, wenn auch durch schwache Moderation nicht so richtig zusammengeführt. Friedrichs zB mit dem sehr nützlichen Beharren auf einer sauberen Empirie, besonders hilfreich dabei der Hinweis darauf, dass die Einkommensmittelschicht messbar an Bedeutung verliere und vererbbares Vermögen immer entscheidender für nachhaltige Mittelklassenzugehörigkeit werde. Kaiser und Ağar dagegen mit dem auch in vielen ihrer Texte herausklingenden Balanceakt, die eigene Ausgeschlossenheitserfahrung nicht einfach nur als erbauliche Geschichte individueller Auseinandersetzungen und Aufstiege, sondern im größeren Zusammenhang der allgegenwärtigen ökonomischen Unterdrückung zu erzählen.

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Eine Sache die mich ein wenig genervt hat während und dann auch noch nach dem Lesen war ein Vorabauszug aus einem Buch beim Guardian. Um gestohlene Aufmerksamkeit geht es da, wie die Internetkonzerne unseren Fokus zerstören und welche schlimmen neurologischen und kognitiven Folgen das hat. So weit so schnarch. Normalerweise lese ich derartiges gar nicht erst vertieft, weil solche Aufsätze einfach zu oft von Unkenntnis und Ressentiments und einem furchtbar langweiligen Kulturkonservatismus geprägt sind. Jedoch war der Icherzähler schon beim Einstieg ein so unterträgliches Arschloch, das zB den Versuch beschreibt, seinem unaufmerksamen Neffen das Telefon aus der Hand zu schlagen und zwar einsieht, dass das Kind keine Schuld trage, aber der Autor sich überhaupt nicht für den eigenen autoritären Impuls zu schämen scheint, also so ein unglaubliches Arschloch, dass ich nicht so recht aufhören konnte, weil ich einfach wissen musste, was der noch für einen Mist fabriziert.

Dann wird das ganze aber sogar ganz interessant, mit Bezügen zu wissenschaftlichen Studien und insgesamt nicht unklugen Beobachtungen, allerdings, und sowas ärgert mich wirklich, ohne Links im Text zu irgendwelchen Quellen. Dafür lauter Angebereien, wohin der Autor nicht alles geflogen war, um mit irgendwelchen Koryphäen zum Thema zu plaudern. Ich mein, auch wenn es ein Buchauszug ist: Es ist 2022, und es steht auf einer Webseite. Wo ist das Problem, verdammtnochmal Links zu setzen? Oder stört das den Fokus auf den Text?

Egal, denn als ich dann mehr über den Autor erfahren wollte, musste ich lernen, dass der, Johann Hari, schon mehrfach wegen schwerer Verfehlungen gegen journalistische Berufsethik auffällig geworden ist. (Plagiate, noch mehr Plagiate, hinterhältige Kampagnen) So jemand hätte die Links zu seinen Quellen mit dem Text bei mir in der Redaktion gleich mitliefern müssen, wenn ich schon die etwas seltsame Entscheidung treffe, Werbung für ihn zu machen.

Aber was soll‘s, so wird der Turm noch zu lesender Bücher mit diesem nicht höher gemacht, bleibt mehr Zeit für Andreas Reckwitz, nicht wahr.