Wir sind alle nur menschlich

Nach Durchsicht alter Lesebühnentexte habe ich immerhin einen gefunden, der die wenig glorreiche Rostocker Jugend zum Thema hatte. Circa 2003 also, mit vielleicht zehn Jahren Abstand (plus die knapp 250 km zwischen Lichtenhagen und Friedrichshain), habe ich da auf ein paar Lacher kalkuliert. Warum auch nicht. Nachfolgend dokumentiert der Versuch, eine (in der Sache tatsächlich komplett wahre) eher traurige Geschichte bühnentauglich zu machen.

***

Erich Honecker schaute mir auf den Teller. Erich Honecker. Mit seinen gütigen Augen, die Lippen umspielt von einem milden Lächeln, schaute er mir auf den Teller. Es gab Milchreis. Das war nichts besonderes, in der Schulspeisung gab es oft Milchreis. An der Essensausgabe stellten sie dir den Teller hin, du gingst zu deiner Hortgruppe und setztest dich. Auf dem Tisch standen zwei Schüsseln, in denen je ein Löffel steckte. Einmal Zimt, einmal Zucker.

Zucker sollten wir schön viel nehmen auf den Milchreis. Überall sollte man sparen, bloß nicht beim Zucker. Der kam aus Kuba. Davon mussten wir ganz viel essen, um den Weltmarktpreis zu stabilisieren und so dem kleinen Bruderland kameradschaftlich unter die Arme zu greifen. Obwohl Zucker ja gar nicht gut ist für die Zähne.

Das war immer ein munterer Schlagabtausch im Politbüro, wenn die Ökonomen mit den Verantwortlichen für die Volksgesundheit diskutierten:
„Unsere Menschen müssen mehr Zucker essen, um dem Klassenfeind die Zähne zu zeigen!“
„Der Genosse Ökonom meint wohl die von Karies zerfressenen Restposten in den fauligen Mäulern unserer Menschen?“
„Ah, da hört man doch gleich wieder den Zynismus des Genossen Volksgesundheitlers. Es mangelt ihm anscheinend an der Fähigkeit, die Prioritätensetzung der Partei zu erkennen.“
„Und dem Genossen fehlt es anscheinend an Respekt vor der großen Aufgabe, die Volksgesundheit zu gewährleisten.“
„Der Genosse hat wohl schon die Zeit seines Urlaubs in Sibirien vergessen?“

Jener Genosse schwieg daraufhin und so aßen wir jede Menge Zucker. Mit Erfolg, wie ich sagen darf, zehrt Fidel Castro doch noch immer von unserem damaligen Zuckerverbrauch. Und selbst noch das kapitalistische westdeutsche Gesundheitssystem haben wir mit unseren kranken Zähnen inzwischen an den Rand des Kollaps‘ gebracht.

Gütig lächelt Erich Honecker zu allem. obwohl er bestimmt nicht mehr in meiner alten Schulspeisung hängt, wie er es damals tat, als er noch darauf zu achten hatte, dass ich mein Essen nicht gegen Matchboxautos an Sören Wagner verschacherte. Sören war der unbegabte Sproß einer Stasi-Familie und hatte vor allem einen Hang zu Hunger und Fettleibigkeit geerbt. Eigentlich ein ganz netter Kerl, den ich im Rahmen einer Pionierpatenschaft betreute. Wir machten zusammen Hausaufgaben.

Zumindest daran, dass er den Wechsel von der fünften in die sechste Klasse schaffte, war ich mitschuldig. Sören hat mir das nie vergessen. Auch nicht als herausragender Nazischläger, der er später war. In der Betonburg, die mir den größten Teil meiner Kindheit und Jugend Heimat war, galt ich dann als sein persönliches Haustier und das kam so:

Eines gar nicht so schönen Tages, ich war gerade auf dem Weg zur elterlichen Wohnung, trat mir so ein Lümmel, samt seiner 12 (in Worten: zwölf) Kumpanen in den Weg und informierte mich, dass er gehört habe, es gebe hier noch einen Linken. Ich heuchelte Entsetzen und brabbelte irgendwas von wegen, dass das ja wohl nicht die Möglichkeit wäre, und wo der wohl herkäme, dieser Linke.

Mit einem reichen Erfahrungsschatz versehen, wusste ich natürlich, worauf das alles hinauslaufen würde. Und, wie konnte es anders sein, unterbrach mich der Wegelagerer unwirsch und meinte, dass er gehört habe, dass ich dieser Linke sein soll.

Tja, wie soll man sich da rauswinden, vor allem wenn dafür angesichts der ersten schon niedersausenden Schläge, gar keine Zeit bleibt. Weglaufen wird auch ungemein erschwert, wenn man erst einmal am Boden festgehalten wird. Nun, ich will gar nicht groß auf die Einzelheiten eingehen. Schon allein deshalb, weil ich mich noch am selben Tag kaum an irgendetwas erinnern konnte.

Die Sache hatte aber ein ungewöhnliches Nachspiel. Sören Wagner, zu der Zeit schon mit einem recht gefestigten Ruf als Anführer einer üblen Nazibande versehen, bekam von meiner Abreibung Wind und beschloss darauf hin, dass so etwas in seinem Revier aber nicht ginge. Er erkundete also, wer da über die Stränge geschlagen hatte und klärte den Rädelsführer auf gewissermaßen familiäre Weise über die informelle Ordnungsstruktur des Stadtteils auf.

Die Blutspur auf der Straße war noch Tage später zu sehen. Auch im Haus. Meinem Haus. Dahin schleifte der gute Sören sein Opfer, also meinen Täter, nämlich, um uns einander vorzustellen. Ich weiß nicht, für wen die Situation unangenehmer war. Also, rein körperlich natürlich für den anderen. Aber auch ich fühlte mich ein wenig gedemütigt, als Sören uns, na, ich sag mal: bat, einander die Hände zu geben.

„Und du, Tobias, du entschuldigst dich jetzt, danach reden wir weiter.“ Mit Panik in den Augen entschuldigte sich Tobias bei mir. Das wäre wahrscheinlich ein guter Moment gewesen, um Gnade für ihn zu bitten. Und manchmal denke ich, dass ich das im Interesse meines Seelenheils auch hätte tun sollen.

Aber was soll ich sagen – wir sind alle nur menschlich.

im Bild oben: Erich Honecker, wie er überlebensgroß in meiner Schulspeisung hing (Bild rechtefrei aus dem Bundesarchiv)

Smalltown Croatia

Keine Texte mehr, keine Threads. „Einfach nur eine unzusammenhängende Abfolge einzelner Seufzer, Schreie und Tobsuchtsanfälle.“ So ist es mir in einem frustrierten Moment die Tage rausgerutscht. Was soll man auch machen mit dem Trommelfeuer der schlechten Nachrichten. Schnell abgeschossene Meinungen gibt es im Dutzend an jeder Ecke und für eine ausgeruhte Motivationsrede habe ich schon vor zwei Wochen viel zu viel Kraft aufgewandt.

Tatsächlich bin ich deshalb nicht unglücklich, grad von den taz-Kolumnen eine kurze Auszeit nehmen zu können. Durchatmen. Dort kriegen die ihre Seiten auch ohne mich voll mit den ganzen Wahl- und Berlinale-Berichten. Und das Filmfestival kann ich auch an dieser Stelle hinzuziehen. Ich wohne ja in der Nähe.

„Zečji nasip“, ein kroatischer Jugendfilm hat es mir angetan. Die Geschichte ist jetzt nichts dramatisch neues. Eine Art „Smalltown Boy“, als Film halt. Die Exposition alleine macht in den ersten fünf Minuten völlig unmissverständlich klar, wo wir da sind. Diese furchtbare Männlichkeitsperformance der Dorfjugend muss gar nicht groß vertieft werden. Ein paar Andeutungen und das Gesamtbild kann vom Publikum problemlos vervollständigt werden. Wir leben ja alle auf dem selben Planeten. Zwischendurch fällt es sogar ein bisschen schwer, die Hauptfigur Marko, der wirklich sehr dringend dazugehören will, zu mögen. Aber allein schon seine zärtliche Zuneigung zum jüngeren behinderten Bruder Fićo gibt den Blick auf einen richtigen Menschen frei.

Und dann ist es eben eine Geschichte vom Drama des Andersseins in einer feindseligen Umwelt, von Eltern, die ihre Überforderung hinter grausamer Ablehnung verstecken usw usf. Alles ist sehr traurig – und sehr gut gespielt. Die Metaphern (Überschwemmung als wachsende Bedrohung, Armdrücken als durchschaubare Maske usw) sind fast ein bisschen zu abgegriffen. Aber an sich ist es auch diese Geschichte. Ich dachte beim schauen irgendwann, dass der Film gut in die 1990er gepasst hätte, als ich ungefähr so alt war, wie die Protagonisten hier.

Ich fühlte mich damals als einer Art Zwischengeneration zugehörig. Die letzte, noch verbunden mit der Zeit von Bronski Beat in der Vergangenheit und die erste, die schon Teil haben durfte an einer Art goldenen, freien Zukunft.

Gewiss, zwischendurch hatte ich gar nicht so selten das Gefühl, dass das Eis recht dünn war. All die Toleranz fühlte sich nicht so hundertprozentig gefestigt an. Dazu war die Gefahr zu nah. Ein wichtiger Autor zur Sache war zum Beispiel Gudmund Vindland („Sternschnuppen“, „Der Irrläufer“), der die schwule Emanzipation in „Chlorwegen“ in den 1970ern zum Thema hatte. Dieses ganze bigotte Pack das er da beschrieb war ja nicht weg. Dort nicht und hier nicht. Aber bald in der absoluten Minderheit. So war zumindest die Hoffnung.

Aber nein. Smalltown ist immer noch genau das. Davon handelt der Film.

Was mir sehr gut gefallen hat, ist, dass er dabei noch mit mehreren Klischees bricht. Es gibt ja immer wieder so pseudolinke Argumentationsketten, wo behauptet wird, dass der Blick auf irgendwelche skurrilen Minderheiten vom Klassenkampf und dergleichen ablenke. Als gäbe es keine queeren Arbeiter*innen oder Prekäre. „Zečji nasip“ kickt Haupt- und Nebenwidersprüche ganz beiläufig vom Tisch und zeigt den Preis, den alle zahlen für die Performance ihrer Normalität. Die ist nämlich so fragil, dass sie jeder Abweichung, Irritation oder Störung nur mit Hass und Entfernung aus der Gemeinschaft begegnen kann.

Dieses Beharren auf einem Naturzustand, den es mit allen Mitteln zu verteidigen gilt, ist billiges politisches Pulver, das derzeit fassweise verschossen wird. Das vernebelt einerseits tatsächlich die Sicht auf beispielsweise den Klassenkampf. Andererseits werden Menschen dabei getroffen. Schutzlos ausgeliefert. Und deshalb ist so ein Film wie „Zečji nasip“ leider kein Blick in die traurige Vergangenheit, sondern hochaktuell.

oben im Bild: Den Film würde ich mir auch ansehen. Wenn ich nicht schon drin leben tät.

Maßgeblich

Bald acht Jahre hab ich’s vor mir hergeschoben, jetzt dann doch endlich gelesen. „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ von Manja Präkels. Viel gepriesen und bepreist, völlig zu Recht selbstverständlich. Ich hatte ja auch nicht so lange gewartet, weil ich mit einem schlechten Buch gerechnet hätte. Zumal ich bis hierher alles von ihr mit größtem Gewinn gelesen hatte. Oder genauer: Für mich ist Manja Präkels die maßgebliche Stimme aus meiner Generation Ostdeutschland. Von niemand sonst fühle ich mich so genau gesehen, beschrieben und verstanden.

Was mir beim Lesen von Schnapskirschen noch deutlicher als bei den kürzeren Texten von Präkels auffällt, ist das entschiedene Beobachten. Die einfach gehaltenen Satzkonstruktionen, die verständliche Sprache ist meinem Eindruck nach nicht einfach nur zielgruppengerecht (Genre „Jugendroman“). Die Form hilft außerdem, der Versuchung zur Interpretation zu widerstehen. Vielleicht ist das auch das Problem, das ich mit so vielen Texten zu den sogenannten Baseballschlagerjahren habe. Dass sie schon seit Jahren immerzu einordnen, bewerten, herleiten usw, während das konkrete Geschehen und Erleben jener Zeit noch nicht einmal im Ansatz erzählt ist. Es wird immer eine Gemeinsamkeit der Erfahrung vorausgesetzt, ohne eine Verständigung darüber in Gang gesetzt zu haben, was eigentlich passiert ist.

Das mag vielleicht etwas seltsam klingen, aber tatsächlich fehlt es an allen Ecken und Enden an einer Dokumentation jener Zeit voller Gewalt und Angst. Die bekannten (und tatsächlich von so vielen schon wieder vergessenen) Bilder aus Lichtenhagen, Hoyerswerda usw haben „wir“ in der Regel auch nur im Fernsehen gesehen. Die gaben aber nicht die Alltäglichkeit der Bedrohung wieder. So wie Präkels es beschreibt: „Dann heulten alle. Für uns war nichts mehr drin. Sie waren überall. Und nun sogar im Fernsehen.“

Das was jeden Tag geschehen ist – oder jeden Tag geschehen konnte – davon gibt es keine spektakulären Fernsehbilder. Das wollten schon damals viele lieber nicht sehen. Nochmal Schnapskirschen:

„Sie haben Michael Müller zusammengeschlagen.“
„Schon wieder? Warum denn nur?“
„Ohne Grund.“
„Es gibt immer einen Grund.“
„Weil er lange Haare hat?“
„Das ist doch kein Grund.“
„Sag ich doch.“
„Jetzt hör aber auf!“
„Ich soll aufhören?“
„Na, ihr dürft nicht immer provozieren.“

Dieser Unglaube im Angesicht der rohen, im engeren Sinne „grundlosen“ Gewalt ist einer der wichtigen taktischen Vorteile der Faschos. Denn dieser Unglaube verlangsamt die dringend nötige Reaktion erheblich. Es ist dazu für jene, die die Gewalt erfahren, eine zusätzliche Demütigung, dass mindestens implizit ihr Erleben in Zweifel gezogen wird. Und das sogar noch, wenn die sichtbaren Spuren kaum zu leugnen sind.

Das Hinschauen zu lernen, die Wahrnehmung der Bedrohung zu schärfen, auch wenn die unmittelbare Betroffenheit noch nicht realisiert ist, dürfte angesichts der Konjunktur rechtsradikaler Menschenfeindlichkeit auf allen Ebenen, auch weiterhin sehr wichtig sein. Mit Manja Präkels lässt sich das im Blick auf die letzten gut 30 Jahre hervorragend einüben.

Apropos nicht realisierter unmittelbarer Betroffenheit sollte erwähnt werden, dass wer nichts sieht, trotzdem keineswegs entkommen wird: „Anfangs war es mir vorgekommen, als sei das Leben in der Kreisstadt trotz allem ein besseres. Langsam begriff ich, dass ich mich nur weniger auskannte und darum weniger sah.“ Wie gesagt, maßgebliche Stimme.

im Bild oben: Sonnenuntergang in Plötzensee.

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Lässig bleiben

In den letzten Monaten hab ich hier ja immer mal wieder ein paar Gedanken zu dem ganzen Lichtenhagen/Baseballschlägerjahre-Komplex, zu Erinnerung und Angst notiert. In der nachfolgenden Geschichte verlässt das ein bisschen die abstrakte Ebene und wird etwas konkreter. Das nur als Triggerwarnung vorneweg.

Die Plattenbauviertel des Rostocker Nordwestens liegen beidseitig der S-Bahntrasse aufgereiht wie Burgen, mit ihren Wällen und Türmen aus Beton. Von Süden geschaut zeigen sich links erst die Hochhäuser von Evershagen und Lütten-Klein. Danach kommt Lichtenhagen, bevor unattraktive Leere bis an den Badeort Warnemünde reicht. Rechts versetzt gegenüber liegen Schmarl und Groß-Klein. Die Haltepunkt der S-Bahn sind durchgängig auf links benannt. Das ist der früheren Fertigstellung jener Viertel geschuldet. Ortsfremde auf der Durchfahrt denken aber sowieso zumeist, dass das alles eins sei.

Die Straßen hier waren in den frühen 1990ern recht sicher. Im Vergleich mit Dierkow und Toitenwinkel jedenfalls. Die jüngsten Neubauviertel der DDR waren das, im Nordosten der Stadt gelegen, auf der anderen Seite der Warnow. Zumindest hielt sich westseitig hartnäckig das Gerücht, dass es da drüben besonders gefährlich sei. Aber vielleicht war das auch ein wenig so, dass die einen den Splitter im Auge der anderen lediglich eher als den Baseballschläger im eigenen bemerkten. Wer will das heute schon noch nachvollziehen.

Der Bewegungsradius war so oder so beschränkt. Lieber in der eigenen Gegend bleiben, wo die lokalen Schläger schon von Weitem ausgemacht und mögliche Fluchtwege bekannt und erprobt waren. Gelegenheiten, sich in unvertrauteren Betonburgen aufzuhalten, waren nie sonderlich willkommen. Besser die Hölle, die man kennt.

Nun kam es aber vor, nicht zuletzt nachdem dann endlich die Schultypen von POS auf westdeutsches Selektionspuzzle umgestellt waren, dass Bekannt- und Freundschaften sich bildeten über die engen Grenzen der geläufigen Hinterhöfe hinaus. Die Notwendigkeit einer gewissen Mobilität stellte sich ein. Öffentliche Verkehrsmittel waren dabei keine einladende Option: während der Fahrt abgeschlossene Räume ohne Ausgang. Das Fahrrad bot sich an. Das hier ist übrigens nicht die Geschichte, wie du auf dem alten Verbindungsweg wie ein Irrer in die Pedalen getreten bist. Kraftübertragung wie nie zuvor. Und wahrscheinlich nie danach. Du ahntest: Um dein Leben. Als ein paar Wochen später von einem berichtet wurde, der genau an der Stelle ins Koma … da wusstest du.

Hauptsache nicht Toitenwinkel.

Die jugendlichen Kosmopoliten aus unterschiedlichen Ortsteilen trafen sich gerne auf neutralem Boden. Neutral nicht wegen eines übertriebenen Lokalpatriotismus, sie wussten schließlich ganz gut voneinander, was sie jeweils für einen Mist vor der Tür hatten. Neutral eher im Sinne der Distanz zu allem gewohnten, mit dem Wunsch nach einer gewissen Normalität. Tourismus zum Beispiel konnte ein ganz gutes Grundrauschen anbieten, worin einzutauchen prekären Schutz bot. So spielten sie Billard in einer Spielhalle neben dem Kurhaus im Schatten des Hotel Neptun in Warnemünde. Das kam zwar etwas teurer, aber mit dem Fahrrad war ja schon mal das Geld für die S-Bahn gespart. Eine der Aufseherinnen mochte außerdem die drei Jungs und sagte auch nichts, wenn die bei Treffern die Kugeln an den Taschen festhielten und beiseite legten. So reichten die 5 Mark für nominell drei Matches doch länger, als bei ihrem schlechten Spiel ohnehin zu erwarten war.

Diese Geschichte spielt übrigens gar nicht in Warnemünde. Tut mir leid. Das tut mir wirklich sehr leid. Vielleicht hilft es dir ja zu wissen, dass kein Blut fließen wird. Es geht nämlich nicht um die Male, wo sie dich gekriegt haben. Und auch da, seien wir ehrlich, war es keine fernsehtaugliche Splatter-Show. Geschlagen zu werden ist ziemlich unspektakulär. Paar blaue Flecken, bisschen dicke Lippe, verletzter Stolz vielleicht. Vor allem verletzter Stolz.

Nein, diese Geschichte trägt sich in Groß-Klein zu. Das war nie deine Homezone, nicht wahr. Lütten-Klein, Schmarl, mit Abstrichen Lichtenhagen. Deine beiden Freunde aber kamen aus Groß-Klein.

Vielleicht hundert Meter vor möglichen Zielen, des einen oder anderen zu Hause, in Sichtweite des S-Bahn-Haltepunktes Lichtenhagen, steht da dieser leicht angetrunkene Fascho. Den beiden bekannt, dir nicht. Sie grüßen, er will reden. Sie lassen sich drauf ein. Die Hölle, die sie kennen. Die sie jeden Tag navigieren müssen. Was willst du machen? Stehst daneben, während deine Freunde mit dem Nazi plaudern. Man hat dich höflich nuschelnd vorgestellt. Handschlag.

Deine Begleiter gelten als unpolitisch. Das wärst du auch gern gewesen, aber seit du gleich 1990 mit Pali-Tuch durch Schmarl stolziert bist (jaja, nicht sehr klug, auf so vielen Ebenen), ist dieser Zug abgefahren. Dein Ruf als Zecke ist jedoch nicht bis Groß-Klein vorgedrungen. Anderes Viertel halt. Du lenkst schon wieder ab. Worüber plaudern sie denn, deine Freunde und der Nazi?

Es redet vor allem er. Erzählt, wie er kürzlich erst einen Schwulen verprügelt habe. Vielleicht mit anderen zusammen, du registrierst die Details in dem Moment nicht so genau. Aber machen wir uns nichts vor: Ganz sicher mit anderen zusammen. Er ist unzufrieden mit der Prügelei, da der Schwule sich gar nicht gewehrt habe. Und gegrinst habe der die ganze Zeit. Auch als er schon am Boden lag. „Ich hab dem immer wieder in die Fresse getreten und das Drecksgrinsen ging da nicht raus.“ Achte auf deine Körperhaltung. „Immer und immer wieder. Die schwule Sau hat nicht aufgehört zu grinsen.“ Lässig bleiben. Unbeteiligt.

Was du in den Augen von diesem Bekannten deiner Freunde siehst, ist übrigens Mordlust. Nicht mal Hass, einfach nur Spaß an der Sache. Du hast gar keine Zeit, das genau so zu benennen und zu verarbeiten, so sehr bist du mit deiner Angst beschäftigt. Denn du fühlst die Bedrohung durch ihn sehr deutlich. Immerhin eins hast du ihm aber voraus. Anders als er weißt du in dem Moment, dass er dich meint.

Er darf nur die Angst nicht bemerken. Niemand durfte die Angst je bemerken.

Als ihr, deine beiden Freunde und du danach weitergegangen seid, spracht ihr nicht darüber. Worüber auch? Das war ja ein ganz gewöhnlicher, nachbarschaftlicher Plausch, 1992 in Groß-Klein. Die Angst ist dann aber doch eine sehr lange Zeit bei dir geblieben. Tief drinnen vergraben; unter der Angst vor der Angst.

oben im Bild: war nicht alles schlecht in Rostock.

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Boß kein Neid

Zwischenzeitlich hatte ich das für mich folgendermaßen sortiert: Als ich P. das erste Mal begegnete, damals in den 90ern, da sah er wirklich extrem gut aus. In späteren Jahren dann eher so, als ob es ihm sehr gut ginge. Aber während ich so auf der Straße saß, zwischen lauter jungen Antifas, die diesen wirklich gut erhaltenen Fuffziger mit vollem Haar anhimmelten, da hörte ich auf, mich anzulügen. P. hatte mir einfach einiges voraus. Und dann noch ein bisschen mehr.

Als Anwalt ist er seiner Sache treu geblieben und berichtete von der Bühne auf der Demo zum Sonnenblumenhaus von seinem Erleben dreißig Jahre zuvor. Relativ kleinteilig schilderte er die Scharmützel um den Versuch, die Nazis aufzuhalten.

Die Absicht, gleich am Anfang die Straße zu übernehmen. Das Pogrom zu beenden, bevor es überhaupt richtig losging. Das Hinundher zwischen den beteiligten Gruppen, die Inkonsequenz. Das Ergebnis ist bekannt. Irgendwann, ich fing tatsächlich beinahe an, mich zu langweilen, unterbrach P. selber seine detaillierten Schilderungen: „Aber warum erzähle ich das alles?“

Während ich grade noch dachte: „Ja genau, warum erzählst du das?“, musste ich mir erläutern lassen, wie wenig, zumindest nach P.s Einschätzung, gefehlt hatte zu einer Situation, in der von Lichtenhagen ein ganz anderes Signal ausgegangen wäre. „Entschlossen und verantwortungsvoll“. Das war sein Mantra, mit dem er die Möglichkeit und daraus folgend die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns beschrieb.

Da wurde mir bewusst, dass P. sich tatsächlich als Subjekt der Geschichte sieht. Nicht in narzisstischer Selbstüberhöhung, sondern als Grundvoraussetzung politischer Arbeit. Einfach die Gewissheit, dass sein Handeln (im Konzert mit anderen selbstverständlich), den Lauf der Dinge entscheidend ändern kann. Keine Spur Nihilismus.

Ich hatte bisher nicht die Gelegenheit, ihn zu fragen, ob das intuitiv funktioniert oder ein bewusst gewählter Weg ist, mit der Resignation umzugehen, die ja auch er gelegentlich spüren muss. Eine Handhabe für die Angst, die eigene und die der Menschen, die er zu ermutigen sucht. Ich möchte glauben, dass man damit glücklicher sein kann. Und zielstrebiger.

Es hat noch eine ganze Weile – Jahre geradezu – gedauert, bis mir aufging, dass P.s Herangehensweise ihn ja zuallererst zum Subjekt seiner eigenen Geschichte macht. Das was er tut, nicht das was andere ihm antun, ist das was ihn definiert. Kein Opfer.

Ja selbstverständlich sieht der besser aus. Ist keine Frage der Frisur, ist eine der Haltung. Und da bin ich gleich gar nicht mehr neidisch. Denn das kann ich auch hinkriegen. Sofort Morgen. Bestimmt.

im Bild oben: lauter gut aussehende junge Menschen

Let’s dance

Die nachhaltigste Angst ist die, die sich körperlich manifestiert. Die den Weg in die Sehnen und Knochen gefunden hat und dort alles in Spannung hält. Angst, die im Gedärm rumort, noch bevor du ihr einen Namen geben kannst. Oft sogar bevor du überhaupt merkst, dass sie schon wieder aus unbekannter Tiefe nach oben treibt, dir den Appetit verdirbt, den Schlaf raubt, die Luft abschnürt.

Das Gemeine an der latenten Gewalt der Straße, das was sich einschreibt in jede deiner Zellen, ist nicht unbedingt ihr konkreter Ausbruch, das Erlebte also, sondern ihr Potential, das Künftige. Jaja, ich bin schon wieder in den 90ern. Das kommt daher, dass die partout nicht aufhören wollen.

Ich schrecke weiterhin davor zurück, allzu konkret über Angst zu schreiben. Das hat weniger mit der Sorge vor Retraumatisierung oder so etwas zu tun, und auch nicht nur mit dem Unbehagen gegenüber der Opfererzählung. Da kommen noch zwei etwas anders gelagerte Abwägungen hinzu. Da wäre zunächst die Frage von Privatheit und Sicherheit. Wieviel kann ich preisgeben, ohne die eigene Verletzlichkeit anderen als Waffe in die Hand zu geben? Außerdem bin ich gehemmt, weil ich fürchte einer Ästhetisierung anheimzufallen, die der Sache unangemessen ist. Gemeint ist: Ich möchte mir meine blutige Nase nicht schönschreiben.

An Manja Präkels‘ Texten zum Beispiel schätze ich besonders, dass es ihr in allen die ich bisher gelesen habe gelingt, die Ästhetisierung zu vermeiden. Jedoch habe ich mich bislang auch nicht getraut, „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ anzufassen. Ich kann überhaupt nicht sicher beantworten, welche Angst da schon wieder rumlungert. Die davor, dass es zu schön ist? Na, ich denke, in den kommenden ein-zwei Monaten muss da mal ein Knoten durchgeschlagen werden.

Mehr Vertrauen!

Es gibt vielleicht noch ein Drittes und das ist die Frage der Relevanz. Selbstverständlich weist die Erzählung jener Angst im Prinzip über das individuelle Erleben hinaus. Aber ist es jeweils gut genug gebaut, um nicht einfach nur Therapie vor Publikum zu sein? Autobiografisches und autofiktionales Erzählen sind ja derzeit fast der Goldstandard des öffentlichen Schreibens, da lassen sich genug misslungene Beispiele finden. Es sollte eben nicht darum gehen, eine voyeuristische Terrorlust zu bedienen. Aber worum geht es denn dann?

„Übernehmen Sie ruhig die Aufgabe einer Teilfunktion, die aber versorgen Sie genau …“ Dieses Mantra verfolgt Fühmann in „22 Tage“. Und letztlich ist das die Auflösung: Die eigene Geschichte zu erzählen ist die einzige Teilfunktion die sich wirklich genau erfüllen lässt. Das sagt noch nichts über die Form aus, aber zu malen fang ich halt nicht mehr an und meine Gedichte sind ein Rotz. Es bleibt die Prosa, als Ausweichmedium das Journalistische. Nur dauerhaft drücken kann ich mich nicht mehr.

Wenn die Angst doch so dringend zum Tanz bittet, ist die entscheidende Frage also nicht die danach, wo der nächste Ausgang zu finden ist, sondern: „Wer führt?“

im Bild oben: Dancing Queen

Lichtenhagen und ich – Episode IV

Im Moment krieg ich jede Geschichte auf Fascho gedreht. Das liegt nicht nur daran, dass die halt auch überall sind, wenn man genauer hinschaut. Nein was mich umtreibt, ist etwas anderes. Jahrzehntelang habe ich es vermieden, über Nazis im allgemeinen und die sogenannten Baseballschlägerjahre im besonderen zu schreiben. Hie und da eher widerwillig was kleines, aber nach Möglichkeit nix. Dieser Tage jedoch kann ich kaum einen Gedanken formulieren, in dem es nicht irgendwo rumhitlert. Also, what’s up?

Schon immer bin ich fasziniert von Menschen, die sich an alles mögliche aus ihrer, auch frühen, Kindheit erinnern. Die kennen sogar noch die vollen Namen ihrer Spielgefährt*innen im Kindergarten. Völlig unklar. Ich bekomme aus dem Vorschulalter bis auf ein-zwei Fetzen gar nichts zusammen. Aber auch aus späterer Kindheit/früher Jugend ragen nur extrem wenige Inseln aus einem Nebelmeer des Vergessens.

Die Kindheit in jenem unmöglichen Land zugebracht zu haben, verdunkelt ja sowieso einiges. Erinnerung an die DDR ist recht häufig Klischee und Langeweile. Das ist es vielleicht, was mich an Mehlis, Hauswald oder auch Klöppel zunehmend interessiert. Wie über deren Bilder doch noch einmal eine andere Geschichte erzählt wird, als die von Stasi, Spreewaldgurken und FKK.

Meine Geschichte sehe ich da noch nicht unbedingt, aber immerhin. Neben dieser ganzen abgeschmackten Super-Illu-Sentimentalität die das DDR-Bild der Leute, die ja selber dabei gewesen waren, zu dominieren scheinen, steht aber noch etwas anderes schier unüberwindlich in der Sicht, zumindest in meiner: das brennende Sonnenblumenhaus.

Jede Erzählung der DDR (und damit meiner Kindheit) aus heutiger Sicht funktioniert nur in Kenntnis ihres unrühmlichen Endes und ihrer Nachspielzeit, der Pogrome der frühen 1990er. Die ostdeutschen Baseballschläger sind narrativ (you gotta love your vocabulary) untrennbar verwoben mit den vierzig Jahren davor. Wie sollte es auch anders sein. Neben den Verbrechen jener Zeit und der Zerstörung so vieler Leben, nicht nur der Ermordeten, haben die Faschos so aber noch etwas kaputt gemacht, die Erzählung vom Leben selber nämlich.

Die Ungeheuerlichkeit des damaligen Geschehens, die beiden Guerickeschen Halbkugeln aus Schmerzen und Angst haben den ganzen anderen Erinnerungen auf Jahrzehnte den Sauerstoff geraubt, sie vollständig in ihrem dunklen Vakuum erstickt. Vielleicht bin ich den Raritäten der DDR-dissidenten Literatur ja auch deshalb ein paar Jahre lang so nachgejagt, weil ich Botschaften aus einer Welt lesen wollte, in der eine andere Zukunft vorstellbar war als die mit der verwesungssüßen „Wir-hattens-doch-so-schön“-Klebrigkeit auf der einen und den Prügelnazis auf derselben Seite. Irgendwas wo ich glücklich sein könnte. Irgendwas ohne Brandgeruch.

Das machen Nazis, ob real oder metaphorisch: alles immerzu in Brand setzen. Wie banal werden die gewöhnlichen Erlebnisse einer gewöhnlichen Jugend vor dem Hintergrund der ständigen Bedrohung. An die Namen der Schläger erinnere ich mich übrigens noch recht gut (und nicht nur ich, wie ich beim 30-jährigen Klassentreffen in vergangenem Sommer feststellen durfte). Die haben den evolutionär geschulten Panikbutton aktiviert. Das Gesicht der Gefahr war anscheinend die wichtigste Information und die hat schon damals alles verdrängt. Die Namen und Gesichter der Sitznachbar*innen im Grundschulalter zum Beispiel.

Lichtenhagen ist nicht der Schlüssel zu meiner Erinnerung, Lichtenhagen ist das in schweren Ketten liegende Schloss davor. Schreiben ist eventuell ein Schlüssel. Einer, dem ich mich lange verweigert habe, weil es nicht sonderlich schön ist, sich einzugestehen, dass das eigene Leben, Fühlen und Denken so massiv beeinflusst ist von denen. Bloß kein Opfer sein.

Es ist ja schon unter normalen Umständen ein immer wieder empörender Zustand, welche Impulse aus tiefster Vergangenheit in ein erwachsenes Dasein hineinwirken. Wie schwer es ist, das erstens zu sehen und sich zweitens davon zumindest in Teilen frei zu machen, ist bekannt. Millionen an irgendwelchen blöden Eltern abgearbeitete Therapiestunden senden Urlaubsgrüße aus der Hölle. Kindheitsmuster, Ödipus und was nicht alles, ok, heilen sie mich, Frau Doktor. Aber Faschos? Echt jetzt? Ich will nicht drüber reden.

… to be continued (ganz offensichtlich)

oben im Bild: Mecklenburger Allee 19 in Rostock-Lichtenhagen