Umblättern 2024

Nach längerer Zeit in der äußere und innere Umstände mich hinderten, ganze Bücher zu lesen, hatte sich das schon 2023 wieder etwas eingerenkt. Es folgte ein gutes Jahr mit ordentlich Strecke auf der Leseliste. Nachfolgend eine Bilanz. Zuerst ein größerer Bogen, der gar nicht beabsichtigt war und mir nachträglich aufgefallen ist. Weiter unten dann noch so eine Art Top 5, die als extra Empfehlung verstanden werden soll, falls die Sachen nicht ohnehin schon bekannt sind.

Bei meiner Buchauswahl versuche ich nach Möglichkeit was halbwegs zeitgenössisches zu wechseln mit älteren Sachen, so genannten Klassikern und anderes, zum Teil über Jahre liegen gebliebenes. Ein paar Wiederholungstaten sind dabei, Prüfung der Wirkung und Bedeutung mal wichtig gewesener Werke, aber hauptsächlich für mich neues. Das ist ja das schöne an Büchern. Die können uralt sein, alle kennen sie, aber irgendwann lese ich sie zum ersten Mal, beginne ich, ein mir bis dahin völlig unbekanntes Werk zu erkunden. „Zu spät“ wird nur das erste ungelesene Buch auf dem Nachttisch im Hospiz sein. Man ahnt es, ich bereite eine große Beichte vor. Gemach, gemach, kommt später.

Ohne sie gesucht zu haben, schien einiges an Gemeinsamkeiten auf, Themen, die sich durch mehrere Bücher zogen. Am auffälligsten war die Mehrfachbegegnung mit dem Motiv der Identitätskonstruktion aus mehreren voneinander unabhängigen Persönlichkeitsbestandteilen. Besonders interessant dabei etwas, das ich den Aushandlungsprozess zwischen rechter und linker Gehirnhälfte nennen würde. Die Frage, wie Gefühl und rationelles Denken sich zueinander verhalten.

Bemerkenswert schön und spannend fand ich Susanna Clarkes „Piranesi“ (2020). Die Geschichte eines Menschen an einem traum-haften Ort, einem Gebäude unbekannten Ausmaßes mit palastartigen weiten Räumen, in denen es außer Statuen und ein paar rätselhaften Artefakten nichts weiter gibt, die dazu gelegentlich von Fluten eines Meeres heimgesucht werden. Zwischen naiver Weltwahrnehmung und simplen Alltags-Wiederholungen und -Beobachtungen durch die Titelfigur, wird nach und nach das Geheimnis dieses Ortes aufgedeckt. Clarke benutzt in der Geschichte zu großem Effekt okkultistische Motive. Das ist auf jeden Fall sehr unterhaltsam und wer will, kann sich ohne weiteres in dem Haus voller Statuen wiederfinden, wo ein Ozean durch die Säle der unteren Ebenen spült, und sich darin verlieren.

In Kelly Links „White Cat, Black Dog“ (2023, an „Book of Love“, das zu großer Aufmerksamkeit in diesem Jahr rausgekommen ist, wollte ich nicht als erstes ran, ich mein, 600 Seiten…), wird mittels überraschend neu aufbereiteter Märchenmotive noch mal eine Spur tiefer gegangen. Weg von der individuellen Entfremdungserfahrung des modernen Menschen hin zu der Schicht kulturell vererbten Wissens um die durchlässige Membran zwischen empirischer Wirklichkeit und Traumwelt. Im Zweifelsfall lässt sie ihre Figuren dann noch einschlägige Substanzen zu Hilfe nehmen, was erzählerisch auch ganz zauberhaft funktioniert. Katzen die Dope anbauen, Gespräche mit den Tieren des Waldes auf Pilzen, alles dabei.

„And shall machines surrender“ von Benjanun Sriduangkaew (2019) geht das Thema gewissermaßen von der technischen Seite an. In ihrer Zukunftswelt voller Arbeitsmigrant*innen und Kriegsflüchtlingen sind Maschinen und Menschen soweit verschmolzen, das Identität insgesamt völlig neu verhandelt wird. Dabei finden die verschiedenen Anteile der Persönlichkeit auch physische Entsprechungen. Ich bin beim Lesen immer mal wieder so halb rausgeflogen aus der Story die so ein bisschen Krimi, ein bisschen Liebesgeschichte ist, aber die aufgemachten Konzepte hatten dann doch immer wieder genug Sog, um mich zurückzuholen. Für die grade mal 100 Seiten war da jedenfalls extrem viel drin, unter anderem ein sehr verspielter Umgang mit dem ganzen Pronomen-Wirrwarr. Ist in deutscher Sprache wahrscheinlich nur sehr schwer reproduzierbar.

In „The Company Town“ von Madelyn Ashby (2016) schließlich, wird „das andere“ komplett ausgelagert. Das fand ich sehr faszinierend konstruiert, auch mit großer Liebe zu den Figuren. Das ganze spielt auf einer überdimensionierten Ölplattform. Diese Stadt mitten im Meer hat ein ganz eigenes soziales Gefüge, das durch Gewaltverbrechen und die Übernahme der Konstruktion durch ein Familienunternehmen auseinanderzubrechen droht. Die Hauptfigur ist eine Bodyguard für (gewerkschaftlich organisierte!) Sexworkerinnen, die anders als die meisten Menschen in dieser Welt, an sich keine genetischen oder sonstigen Veränderungen hat vornehmen lassen. Da gefiel mir die Auflösung jedoch nicht so gut, ein bisschen feige fast, gemessen an der Geschichte, die da vorher aufgebaut wird. War so ein Buch, das für mich gerne ein paar Seiten eher hätte aufhören können, aber nunja, bei Hans-Christian Andersen wird das hässliche Entlein am Ende ja auch noch was.

Definitiv am überzeugendsten für mich war aber die Geschichte von Falk/Ramarren in „City of Illusions“ (1967), womit wir beim Geständnis angelangt wären: Ursula K. Le Guin. Nie zuvor gelesen, immer wieder vor mir her geschoben. Jetzt aber, einmal durch den Hainish-Zyklus durch, fühle ich mich als wäre ich gewachsen mit diesem Universum, das sie da erfunden hat. Ich bin sehr glücklich damit, dass das möglich ist. Was mich neben quasi allem noch besonders abholt, ist der sehr umsichtige erzählerische Umgang mit, vor allem tödlicher, Gewalt. Die muss sich bei Le Guin immer plausibel aus der Geschichte ableiten, ist nicht einfach nur blutige Tapete an der die Handlung vorbei eilt. Das ist dabei gar nicht irgendwie hippiesk naiv, sondern sehr überlegt.

In „The Word for World is Forest“ (mit einem interessanten Konzept der Verbindung von „Weltzeit und Traumzeit“ übrigens) wird dazu noch deutlich gemacht, wie naiv die gewohnheitsgemäße Gewaltanwendung ist. Das Buch wird gelegentlich als schwächstes aus dem Zyklus kritisiert. Einerseits folge ich dahingehend, als dass die Handlung relativ vorhersehbar ist, und Vietnam wirklich sehr unmissverständlich mitschwingt. Wenn allerdings als Maluspunkt für Le Guin die zu schablonenhafte Figur des Davidson, ohne emotionale Tiefe und differenziertes Innenleben, angeführt wird, muss ich ein bisschen lachen. Anders als die der uneingeschränkt guten Indigenen, ist die Rolle des rassistischen, sexistischen und grausam selbstherrlichen Kolonialisten ja nun wirklich absolut glaubwürdig und hyperrealistisch. Ich weiß nicht, ob es Selver gibt, Captain Davidson aber ist bis heute so lebendig wie je.

Aber zurück zum Thema, Falk aus „City of Illusions“ nämlich: „And he knew he was not even a man but at best kind of half-being, trying to find his wholeness by setting out aimlessly to cross a continent under uninterested stars.“ (etwa: „Und er wusste, dass er nicht einmal ein Mann war, bestenfalls eine Art Halbling, der seine Vollständigkeit zu finden suchte, indem er sich anschickte, einen Kontinent ziellos unter desinteressierten Sternen zu queren.“) Ein deutlicheres Bild für das Bemühen um Entdeckung und Integration von Verdrängtem und Verlorenem in ein kohärentes Selbst lässt sich kaum vorstellen.

Eine andere Frage, die neben dem Identitätskonstrukt wiederholt auftauchte, war die von Sprache als Waffe, oder überhaupt unmittelbar auf die materielle Wirklichkeit wirkende Macht. Neben SF-Klassikern wie „Babel 17“ oder „Snow Crash“ vielleicht bemerkenswert „Exordia“ von Seth Dickinson (2024). Ich weiß gar nicht, wie man davon erzählen soll, ohne massiv zu spoilern. Ich fand erstaunlich, wie sehr der mich aufs Glatteis geführt hat auf den ersten Seiten. Das war zum Brüllen komisch, Sitcom-Material geradezu, und dann gibts ziemlich plötzlich kräftig aufs Maul und zwar mehrere Hundert Seiten lang. Die plausible Traumatisierungsgeschichte der Hauptfigur, einer als Kind aus dem kurdischen Krieg entkommenen jungen Frau, überwältigt dabei genauso, wie die sehr bildhafte Beschreibung einer, nunja, fraktalen Herausforderung und des schließlichen nuklearen Showdowns.

Na jetzt aber meine Stand-alone-TOP 5 in der Reihenfolge, in der ich sie in den vergangenen zwölf Monaten gelesen habe:

Debbie Urbanski „After World“ (2023). Ich hatte dazu schon mal was geschrieben. Deshalb an dieser Stelle nur noch einmal die Empfehlung und die Warnung: Das ist nix, um sich dunkle Winterabende gemütlich zu machen. Wirklich ziemlich harter Stoff.

„At the mouth of the River of Bees“ von Kij Johnson (2011, „Pinselstriche auf glattem Reispapier“ heißt anscheinend die Übersetzung ins deutsche, keine Ahnung, ob die was taugt) – eine emotional sehr ergreifende Erzählweise. Jede Geschichte in dieser Sammlung, vom Kammerspiel bis zur großen SciFi-Geschichte, ein echtes Juwel. Die Titelgeschichte allein ist tief berührend. Die ebenfalls enthaltene Novelle „The man who bridged the mist“ hat mich so tief reingezogen, dass ich richtig Lust bekam die Menschen kennenzulernen, die darin beschrieben waren. Das hätte noch ewig so weitergehen können. Starke Le-Guin-Vibes.

„153 Formen des Nichtseins“ von Slata Roschal (2022). Wer Buchpreisnominierungen verfolgt, hat davon schon gehört, für mich war das gänzlich neu. Die Geschichte der jungen Frau, Tochter russischer Juden, die als Zeugen Jehovas nach Deutschland kamen; die Abnabelung, die mitgenommenen Neurosen, die Unsicherheiten, die Verletzlichkeiten – alles sehr intim, alles sehr welthaltig. Man bemerkt in der geschliffenen, dichten Prosa die Lyrikerin. Die kleinteiligen Kapitel mit ihren immer anderen Zugängen zu den selben Ausweglosigkeiten, die dann aber doch irgendwohin führen, haben ihren je eigenen Rhythmus, der sich aber nahtlos ins Ganze fügt. Der Humor, die Ernsthaftigkeit und die sprachliche Präzision in dem Buch haben mich sehr positiv mitgenommen.

Biyi Bandele, „Yoruba Boy Running“ (2024). In den Besprechungen, die ich dazu gelesen habe, wird immer wieder der Suizid des Autors am Tag nach der Finalisierung des Manuskripts besonders herausgestellt. Man könnte mE jedoch mehr darauf abheben, wie grandios dieses Buch geschrieben ist. Anhand einer außergewöhnlichen (an reale Ereignisse angelehnten) Lebensgeschichte wird hier das Ringen um das Ende der Sklaverei in Westafrika beschrieben. Die gut 100 ersten Seiten des Buches sind dabei so unfassbar atemlos in den Wechseln zwischen wirklich rasendem Humor, brutalster Gewalt, unvermeidlichem Tod und Gemetzel, herzzerreißendem Schmerz, wie ich es so noch kaum irgendwo gelesen habe. Bandele ändert mitten im Buch den Takt der Erzählung, was zunächst etwas enttäuscht, aber absolut Sinn ergibt im weiteren Verlauf. Für jene, die es nicht auf Englisch lesen können, hoffe ich auf eine gute Übersetzung zu einem späteren Zeitpunkt. Da besteht Hoffnung, denn Bandele ist kein Geheimtip, das Vorwort der Erstausgabe zB ist von Wole Soyinka.

Mauricio Rosencof „Das Schweigen meines Vaters“ (2024). Hier hatte ich vor kurzem schon was notiert und kann hier nur noch einmal die dringende Empfehlung wiederholen.

Ich habe, nebenbei, auch sonst noch einiges anderes außer Science und Speculative Fiction gelesen, muss aber sagen, dass mir die inzwischen oft viel näher ist, als „ernste“ Literatur. Ich mag einfach die Opulenz und die Lust am Erzählen, am Fabulieren, und in Teilen auch am Träumen von einer anderen Zukunft, die da immer wieder durchstrahlt. Ist ja nötiger denn je.

oben im Bild: Mein Bücherstapel.

Winterfest

Das Faszinierende an politisch motivierter Repression ist, wie unbemerkt sie oft stattfindet. Ich glaube es ist in der allgemeinen Öffentlichkeit gänzlich unbekannt, erstens mit welcher Härte die Polizei schon immer gegen alles Linke (vermeintlich „linksextremistische“) vorgeht und zweitens, welche Ausmaße das auch im weiteren Umfeld der eigentlichen Zielpersonen annehmen kann. Der Verfolgungsdruck steigt ja ins geradezu Unermessliche, wenn kriminelle oder terroristische Vereinigung unterstellt wird. Umso verdienstvoller ist, dass die taz gelegentlich Raum gibt für eine etwas ausführlichere Berichterstattung.

Die Tage erst erschien ein recht breit angelegtes Stück über die völlig überzogenen Maßnahmen bezüglich des Budapest-Antifa-Komplexes. Obacht beim Lesen, schon der Einstieg ist recht grafisch. Bezüge werden auch zur Klimabewegung hergestellt, deren Aktive ja ebenfalls einer Kriminalisierung ausgesetzt sind, die in keinerlei Verhältnis steht zu den jeweiligen Aktionsformen.

Was besonders erschreckt, sind die angedeuteten Ermüdungs- und Resignationserscheinungen. Leipzig zum Beispiel: „Menschen, die sich vorher grüßten und guten Kontakt hatten, taten plötzlich so, als würden sie sich nicht kennen.“ Diese unter dem Druck sich verstärkende Vereinzelung ist ja das genaue Gegenteil dessen, was man sich als Reaktion wünschen würde. Aber so ist das leider, wenn schon die lose Bekanntschaft zu bestimmten Personen genügt, um dergestalt ins Visier zu geraten, dass man sich mal 4.30 Uhr morgens einer rabiaten Hausdurchsuchung gegenübersieht. Da wird Distanzierung jetzt nicht die völlig unverständlichste Vorbeugemaßnahme sein. Solidarität hat ihren Preis – und man sollte vorsichtig mit dem Urteil darüber sein, welche Gründe den gegebenenfalls zu hoch erscheinen lassen. Die Perspektive wird ja auch nicht unbedingt besser.

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Ein sehr interessantes Gespräch mit Jeanette Hofmann, Professorin für Internetpolitik an der FU Berlin, hat das Weizenbaum-Institut veröffentlicht. Ganz ohne Umschweife ordnet sie den ganzen Desinformations-Kladderadatsch als das ein was es ist: Politisches Handeln zur Mobilisierung und nicht primär ein Werkzeug zur Manipulation: „Die offen zur Schau getragene Gleichgültigkeit gegenüber dem Wahrheitsgehalt von Informationen ist […} weniger Unkenntnis als eine politische Verortung. Und die Idee des Fact-Checking oder De-Bunkings übersieht diese Qualität.“

Dessen ungeachtet wird fleißig weiter gefactcheck und entlarvt. Manchmal wird vielleicht kurz innegehalten und sich gewundert, warum das so kunstvoll mit dem journalistischen Florett erlegte Lügenmonster immer wieder aufsteht. Aber irgendwie folgt nichts aus diesem Moment der Irritation. Man möchte eben weiterhin objektiv über den Dingen stehen. Manchmal frage ich mich, ob mein früherer Berufsstand die Welt, die er zu beschreiben vorgibt, je verstanden hat. Wenn ich an all die Gesprächsrunden und Konferenzen denke, erinnere ich mich vor allem an durch keinerlei Empirie begründbare Selbstgewissheit, die mir oft als Ausdruck von Hilflosigkeit erschien. Gelegentlich war sie sogar nur eine seltsame Bockigkeit gegenüber der von den gelernten Regeln abweichenden Realität.

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Dankbar sein kann ich mal wieder Frédéric Valin für einen Hinweis. Und zwar im nd auf auf „Das Schweigen meines Vaters“ von Mauricio Rosencof, erschienen bei Assoziation A. Obwohl bei den einschlägigen Medien recht breit rezipiert, wär mir das evtl. durchgerutscht. Der Tupamaros-Veteran und Dichter Rosencof nähert sich in der fragmentarischen Erzählung vor dem Hintergrund seiner eigenen barbarischen langjährigen Haft der Geschichte seiner aus dem polnischen Shtetl stammenden Familie. Der Vater, und etwas später Mutter und Bruder, waren noch einige Jahre vorm deutschen Überfall auf Polen ausgewandert. Die meisten Verwandten wurden ermordet.

Was mir neben all den Dingen, die Valin zum Werk bemerkt, noch sehr stark aufgefallen ist: die zärtliche Humanität die das Buch durchzieht. Das mag ein wenig kitschig klingen, aber mir leuchtet da immer wieder in Bildern von Verbundenheit und Widerstand eine tief empfundene Menschlichkeit entgegen. Die wiegt umso stärker, weil sie gegen die schonungslosen Szenen aus der Vernichtungsmaschinerie steht. Keine Sorge, das Buch halluziniert keine falsche Hoffnung im Angesicht von Auschwitz. Das Leben kann nicht schön sein, wenn es an die Rampe von Birkenau gezwungen wird.

So lange aber jemand erzählt – so erzählt wie Rosencof – ist das Leben immerhin noch hier.

Let’s dance

Die nachhaltigste Angst ist die, die sich körperlich manifestiert. Die den Weg in die Sehnen und Knochen gefunden hat und dort alles in Spannung hält. Angst, die im Gedärm rumort, noch bevor du ihr einen Namen geben kannst. Oft sogar bevor du überhaupt merkst, dass sie schon wieder aus unbekannter Tiefe nach oben treibt, dir den Appetit verdirbt, den Schlaf raubt, die Luft abschnürt.

Das Gemeine an der latenten Gewalt der Straße, das was sich einschreibt in jede deiner Zellen, ist nicht unbedingt ihr konkreter Ausbruch, das Erlebte also, sondern ihr Potential, das Künftige. Jaja, ich bin schon wieder in den 90ern. Das kommt daher, dass die partout nicht aufhören wollen.

Ich schrecke weiterhin davor zurück, allzu konkret über Angst zu schreiben. Das hat weniger mit der Sorge vor Retraumatisierung oder so etwas zu tun, und auch nicht nur mit dem Unbehagen gegenüber der Opfererzählung. Da kommen noch zwei etwas anders gelagerte Abwägungen hinzu. Da wäre zunächst die Frage von Privatheit und Sicherheit. Wieviel kann ich preisgeben, ohne die eigene Verletzlichkeit anderen als Waffe in die Hand zu geben? Außerdem bin ich gehemmt, weil ich fürchte einer Ästhetisierung anheimzufallen, die der Sache unangemessen ist. Gemeint ist: Ich möchte mir meine blutige Nase nicht schönschreiben.

An Manja Präkels‘ Texten zum Beispiel schätze ich besonders, dass es ihr in allen die ich bisher gelesen habe gelingt, die Ästhetisierung zu vermeiden. Jedoch habe ich mich bislang auch nicht getraut, „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ anzufassen. Ich kann überhaupt nicht sicher beantworten, welche Angst da schon wieder rumlungert. Die davor, dass es zu schön ist? Na, ich denke, in den kommenden ein-zwei Monaten muss da mal ein Knoten durchgeschlagen werden.

Mehr Vertrauen!

Es gibt vielleicht noch ein Drittes und das ist die Frage der Relevanz. Selbstverständlich weist die Erzählung jener Angst im Prinzip über das individuelle Erleben hinaus. Aber ist es jeweils gut genug gebaut, um nicht einfach nur Therapie vor Publikum zu sein? Autobiografisches und autofiktionales Erzählen sind ja derzeit fast der Goldstandard des öffentlichen Schreibens, da lassen sich genug misslungene Beispiele finden. Es sollte eben nicht darum gehen, eine voyeuristische Terrorlust zu bedienen. Aber worum geht es denn dann?

„Übernehmen Sie ruhig die Aufgabe einer Teilfunktion, die aber versorgen Sie genau …“ Dieses Mantra verfolgt Fühmann in „22 Tage“. Und letztlich ist das die Auflösung: Die eigene Geschichte zu erzählen ist die einzige Teilfunktion die sich wirklich genau erfüllen lässt. Das sagt noch nichts über die Form aus, aber zu malen fang ich halt nicht mehr an und meine Gedichte sind ein Rotz. Es bleibt die Prosa, als Ausweichmedium das Journalistische. Nur dauerhaft drücken kann ich mich nicht mehr.

Wenn die Angst doch so dringend zum Tanz bittet, ist die entscheidende Frage also nicht die danach, wo der nächste Ausgang zu finden ist, sondern: „Wer führt?“

im Bild oben: Dancing Queen

Zeitreisen

Kein Vergeben, kein Vergessen? Jetzt sind es schon wieder zwei Jahre, seit ich das letzte Mal beruflich mit Lichtenhagen beschäftigt war. Die großen Aufschläge, Reden und Demonstrationen sind halt den runden Jubiläen vorbehalten. Alle fünf oder 10 Jahre wird gewogen und präsentiert. Dazwischen aber liegen die kleinen Stiche, die bewussten und unbewussten Verschiebungen der Einschätzung, die Änderung der Umstände, im besten Falle neue Erkenntnisse und Ideen, die in der Summe wieder neue Reden und Aufsätze ergeben.

Insofern sind die Ereignisse derer gedacht wird, nie vorbei. Sie werden durch die Beschäftigung Teil der jeweiligen Gegenwart, beeinflussen sie in die eine oder andere Richtung und verändern damit mögliche Zukünfte. Das täten sie aber auch dann, wenn man sich der Konfrontation verweigert. So hat das ganze Erinnern und Aufarbeiten bekanntermaßen noch einen weiteren Sinn: als Schlüssel zur vorgefundenen Gegenwart nämlich.

Es gibt diesen Satz bei Ursula K. Le Guin. In „The Dispossessed“ (eine Auswahl der deutschen Verleihtitel: „Planet der Habenichtse“, „Die Enteigneten“, „Freie Geister“) heißt es: „But when Shevek took her metaphor and recast it in his terms, explaining that, unless the past and the future were made part of the present by memory and intention, there was, in human terms, no road, nowhere to go, she nodded before he was half done.“*

Shevek, die Hauptfigur des Buches, beschäftigt sich mit einer Theorie der Zeit, die in der Geschichte des Hainish-Universums ein noch fehlendes Element hin zur Möglichkeit des Reisens in Überlichtgeschwindigkeit darstellt. Besonders wichtig ist dabei das Konzept der Simultaneity, der Gleichzeitigkeit (ungefähr). Le Guins Gedankenexperiment einer anarchistischen Gesellschaft erhält dadurch zusätzliche Tiefe in philosophischen (die missgünstigen Antagonisten Sheveks würden sagen: „esoterischen“) Betrachtungen zu Zeit, die wiederum auf den Sinn des Lebens und dessen Verlauf angewendet werden. Fragen von Schicksal und Selbstbestimmtheit, Ungewissheit und Kontrolle die sowieso immer wieder auftauchen im Hainish-Zyklus, werden ohne große Bemäntelung direkt verhandelt. Solche Science Fiction bedarf eventuell keiner weiterer Verschlüsselungen, vor allem dann nicht, wenn sie sich schon plausibel auf fremden Planeten bewegt und mit der Technologie zur Überbrückung des unendlichen Raumes zwischen den Welten befasst.

Dass die Gegenwart -jetzt- ist, erschließt sich dabei von selbst. Dass Vergangenheit und Zukunft aber gleichzeitig in dieser Gegenwart sind, als Bedingungen und Teil untrennbar mit ihr verbunden, ist eben keine esoterische Metaphorik, sondern von drängender politischer Aktualität. Das gilt für den Planeten der Habenichtse genauso wie für diesen. Antifaschismus ist die Verkörperung dieser Gedanken, da er wie kaum eine andere politische Idee, zwangsläufig Zeit transzendiert, sowohl in der Theorie, als auch in der Praxis. Antifaschismus ist der feste Punkt im Heute, an dem sich Vergangenheit und Zukunft als Warnung und Versprechen treffen.

Wer hingegen den Schlussstrich ziehen will, schneidet sich nicht nur von der Vergangenheit ab, sondern auch und vor allem vom Heute. Die Zukunft kann unter diesen Bedingungen nur als unabwendbare Apokalypse gedacht werden. Wenn du sagst: „Das ist doch alles lange her jetzt.“, weiß ich, wie unleugbar gegenwärtig es ist. Wenn du sagst: „Nach mir die Sintflut“, weiß ich, dass du längst ertrunken bist. Die Erinnerung, an die Verbrechen des Faschismus zum Beispiel, oder an Lichtenhagen, an Hanau, ist der Rettungsring. Wer den ausschlägt, stellt sich absichtlich auf die Seite derer, denen nie vergeben werden kann. Nicht gestern, nicht heute, nicht morgen.


*In der deutschen Übersetzung von Gisela Stege: „Als Shevek jedoch ihre Metapher nahm und sie ein wenig umformte, ihr erklärte, wenn man Vergangenheit und Zukunft nicht durch Erinnerung und Planung zum Bestandteil der Gegenwart mache, gebe es im menschlichen Sinne keinen Weg, kein Ziel, nickte sie, bevor er ausgesprochen hatte.“ [Ich würde „memory and intention“ an dieser Stelle statt mit „Erinnerung und Planung“ eher mit „Erinnerung und Absicht“ oder „Erinnerung und Streben“ übersetzen.]

oben im Bild: Das Dresdner Staatsschauspiel, ebenfalls mit einer Meditation über Zeit.

No, I don’t mean love, when I say patriotism. I mean fear. The fear of the other. And its expressions are political, not poetical: hate, rivalry, aggression. It grows in us, that fear. It grows in us year by year.

Left Hand of Darkness – Ursula K. Le Guin

Hereinspaziert [mit Update]

Die Beschleunigung ist bemerkenswert. Ohne Rücksicht. Von 30 auf 50, auf 100, auf Orkan. Ja, wer aufbauen will, muss mobilisieren, verhandeln, Kompromisse eingehen. Jeder Schritt vorwärts bremst gleichzeitig die Bewegung aus. Dem Zerstörungwerk aber ist eigen, dass es keiner großen Verabredung bedarf. Es muss nicht jeder Funke zünden. Es genügt, wenn alle ein bisschen kokeln. Muss gar nicht doll sein, Hauptsache am Ende brennts schön. (Glut und Gut und Glut und Glut und Glut…)

Besonders frustrierend ist das völlige Versagen von solch hochdotierten Kulturmanager*innen: „Als Festival wollen wir uns nicht positionieren, wir möchten für Austausch, Kommunikation, Dialog da sein.“, antwortet die Chefin der Berlinale auf die Kritik an der Einladung von Rechtsextremen. Und schämt sich dabei nicht genug, um wenigstens diesen Unfall einer Stellungnahme aus einem auch ansonsten bizarr selbstmitleidigen Interview nicht freizugeben. Ihre Chefin, die Kulturstaatsministerin deckt ihr den Rücken für diese Shitshow. Es gibt anscheinend keine Institution liberaler Bürgerlichkeit, die dem kommenden Faschismus mehr entgegensetzen möchte als ein bedauerndes Lächeln vorm weit aufgesperrten Scheunentor. Na denn: Hereinspaziert!

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Im Zuge des Traktor-Defilees der westelbischen Junker (c) @kubia) kam hie und da der Hinweis auf Fallada. Tatsächlich ein guter Anlass, „Bauern, Bonzen und Bomben“ zu lesen. Ein ganz wunderbares Buch. Mitreißende Charaktere, die fast filmischen Szenenaufbauten, die lebendigen Dialoge, die klugen Beobachtungen und schlüssigen Konstruktionen der Ränkespiele. Ich war hingerissen.

Tucholsky bemerkte in seiner Besprechung 1931 ganz treffend, dass die Bauern etwas zu kurz kommen in dem Buch und es sich eher um einen Kleinstadtroman handele. Mit dem Blick dieser Kleinstadt und seiner Elite aber wird der Konflikt vor allem in der Rückschau von bald hundert Jahren bedrohlicher, als er damals vielleicht schon scheinen wollte.

Henning erklärte eifrig: „Ich habe mir alles überlegt. Das Fahnentuch ist schwarz. Das ist das Zeichen unserer Trauer über diese Judenrepublik. Drin ist ein weißer Pflug: Symbol unserer friedlichen Arbeit. Aber, daß wir auch wehrhaft sein können: ein rotes Schwert. Alles zusammen die alten Farben: Schwarzweißrot.“

„Bauern, Bonzen und Bomben“, Hans Fallada

Immerhin sind die Figuren so lebendig, dass es kaum anders geht, als sich vorzustellen, wo sie wohl vier-fünf Jahre nach der beschriebenen Handlung sein würden. Da hat der zum Schriftsteller gewandelte Journalist Fallada vielleicht mehr gesehen, als ihm selbst bewusst war. Der klügere Tucholsky schwankte denn auch im Urteil zwischen Kritik und Bewunderung: „…es ist so unheimlich echt, dass es einem graut.“

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Gewiss, Geschichte wiederholt sich nicht. Das aber zunächst auch nur deshalb, weil sich die immer selben Fehler eben nicht zur exakt gleichen Summe aufaddieren, auch wenn sie immer aufs neue begangen werden. Und gnadenlos neu aufgeführt wird der immer selbe Zirkus auf jeden Fall. Sozialdemokratische Innenminister*innen werden in diesem Universum einfach nichts mehr dazu lernen, ganz zu schweigen von einer Kulturbürokratie, die ohne eigene Position irgendwelchen Austausch zu führen wünscht.

Die entscheidende Frage ist deshalb, wie viele andere mit dem Informationsvorsprung gegenüber Fallada und Tucholsky etwas anfangen können und den ganzen Fehlern angemessene Korrekturen entgegenstellen werden. Und wieviel Zeit für Mobilisierung, Verhandlung und Kompromiss im beschleunigt sich verengenden Möglichkeitsraum noch verbleibt.

[Update, 8. Feburar 2024: Die Berlinale hat die AfD-Leute wieder ausgeladen. Dass es den Mitarbeiter*innen des Festivals gelungen ist, ihre Chefs doch noch zum Jagen zu tragen, ist ein sehr großer und gar nicht selbstverständlicher Erfolg und ein gelungenes Beispiel dafür, mit welcher Kraft und Geduld an allen Ecken und Enden interveniert werden muss.]

Bild oben: Die Stiefel sind Zeichen der Bauernproteste. Zu finden dieser Tage an vielen Ortsschildern im Havelland. An einigen fanden sich auch stilisierte rote Schwerter aufgemalt oder geklebt. Wie auf dem Banner der u.a. in Falladas Buch beschriebenen Landvolkbewegung.

„Cli-fi is a genre“

Meinetwegen hätte Cory Doctorow in seiner Buchempfehlung für „After World“ von Debbie Urbanski ruhig erwähnen dürfen, wie depressiv das Buch ist. Obwohl, „relentlessly bleak“ ist bei Tageslicht betrachtet dann doch deutlich genug. Vielleicht hatte ich das überlesen. Hat dann jedenfalls nicht lange gedauert, bis ich selber drauf gekommen bin. Depressiv.

Ich weiß gar nicht so recht, wovon das Buch handelt, wenn nicht vom Gefühl der inneren Katastrophe, die mit gnadenloser Härte in Form wie Inhalt des Textes angereicht wird. Repitition, Isolierung, Unverständnis, unendlicher Schmerz, der Untergang des Ich. Der Untergang der Welt ist dabei die einzig mögliche Kulisse, aber letztlich eben nicht nur das.

Die Grausamkeit des Menschen gegen alles und sich selbst wird als Kammerstück aufgeführt. Die Erzählperspektive des [storyworker] ad39-393a-7fbc demonstriert dabei beinahe mehr Humanismus als die Menschen selber. Diese Software muss sich vom übergeordneten Prozess emly denn auch fragen lassen: „Why would you want to think like a human being?“. Diese Frage ist wiederum selber eine Antwort. „…is it possible to tell a human story without human suffering, is it possible to tell a human story without the suffering of the world“

Gewiss, „After World“ ist auch Cli-fi. Der Weltuntergang per Klimakatastrophe ist eine ausgemachte Sache, die Apokalypse aber kommt in Form eines Virus über die Menschheit. Ist die Vernichtung Erlösung? Für wen? In gewisser Weise stemmt sich das ganze Buch gegen diese doppelte Zerstörung, einmal der natürlichen Umwelt und einmal der Menschheit selber. Dass kein plausibler Ausweg angeboten wird, ist einzusehen und wohl dem Genre eigen.

Die Beschreibung der inneren Katastrophe ist anscheinend der bislang beste Weg, den kommenden Untergang als die unausweichliche Auslöschung jeder Menschlichkeit zu erzählen und nicht als unterhaltsames Spektakel. Denn dafür haben wir ja schließlich die Tagesschau.

Bild oben: Ein Mural, gesehen im Sommer in einer Unterführung in Jelenia Góra