Drei #rc3-Talks, die ich besonders informativ fand (und die mich fachlich nicht total überfordert haben)

Ein paar Sachen stehen noch auf meiner Liste. Bei denen die ich bisher sah, hab ich zu den folgenden tatsächlich Notizen gemacht, weil ichs so spannend fand. Einmal Pandemie-Management, einmal bissel Cyborg-Grusel und einmal digitale Souveränität (nicht das mit dem Nationalstaat, sondern das mit dem Individuum :).

Diagramm einer Versuchsanordnung mit verschiedenen Digitalen Stationen, in deren mitte ein stilisierter Hacker
Liebe diese Darstellung eines Hackers in den slides von „Listen to your heart“

Bianca Kastls Vortrag „Digitalisierung. In einer Pandemie. Im Gesundheitsamt!“ ist allerorten zitiert, der am häufigsten gestreamte Beitrag und mir auch zigmal auf Twitter in die Timeline gespült worden. Die Vortragende kam in der Diskussion um die Luca-App schon im Laufe des vergangenen Jahres zu einiger Prominenz über die Techbubble hinaus. Das Thema brennt einfach.

Neben auch für interessierte Laien verdaulichen konkreten technischen Erläuterungen, inklusive einiger vernichtender Anmerkungen zur Luca-App, finde ich vor allem den abstrakten Rahmen des Talks sehr instruktiv. Kastl steigt nicht zufällig mit dem Hinweis ein, dass es sich um einen „Meta-Talk“ handele. Denn tatsächlich lassen sich aus den Erfahrungen der Zusammenarbeit zwischen Verwaltung und digitalen Expert*innen, wie sie hier geschildert werden, eine Menge wichtiger Lehren ziehen.

Allein die rhetorisch gestellte Frage, ob es im Prozess der Digitalisierung der Datenerfassung von Gesundheitsämtern bis RKI nun darum gehe, einen möglichst schnellen aktuellen Überblick zu bekommen oder die bestehende Verwaltungsstruktur digital nachzubauen, verweist überdeutlich auf eines der grundsätzlichsten Verständigungsprobleme zwischen analoger und digitaler Welt. Ein befreundeter Journalist nannte diesen Effekt der „Elektrifizierung des Bestehenden“ für seinen Bereich gelegentlich „Printernet“.

Dabei ist diese Unbeweglichkeit gegenüber dem Rationalisierungspotential der Digitalisierung üblicherweise nicht einmal böswilliger Natur, sondern einfach nur Ausdruck von Unkenntnis und einer gewissen Lernträgheit, die anscheinend wenigstens teilweise überwunden werden konnte angesichts der besonderen Herausforderungen der letzten zwei Jahre. Letztlich nicht einmal so lange, diese Zeit. Die geschilderten Erfahrungen sind zum größten Teil nicht einmal 12 Monate alt und doch klingt es völlig angemessen, wenn Kastl den März 2021 „damals“ nennt.

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Sehr viel technischer, zumindest im ersten Teil, ist der Vortrag „Listen to Your Heart“ über die Sicherheit moderner Herzschrittmacher und anderer per Funk gesteuerter und ausgelesener Implantate von Endres Puschner und Christoph Saatjohann. Knapp gesagt gibt/gab es hackbare Lücken an den Geräten und Kommunikationswegen. Inwieweit realistischerweise hier Manipulationen stattfinden werden, bleibt unserer Phantasie überlassen. So halb beruhigend stellt Puschner fest, dass veränderte Daten im Zweifelsfall einer zwischengeschalteten medizinischen Fachkraft auffallen müssten. Na, bon chance. Im zweiten Teil des Talks berichtet Saatjohann von testweisen DSGVO-Abfragen für Daten, die in rauen Mengen bei diesen Geräten anfallen, und es ist, kurzgesagt, ein Trauerspiel. Ganz offensichtlich ist der Aufholbedarf bei den Patient*innenrechten gewaltig.

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Nicht uninteressant auch das Podium „System Change mit Instagram?? Social Media und die Zivilgesellschaft“ wo Vertreter*innen der üblichen Verdächtigen aus der Klimabewegung mit Netzaktiven in einer Art konstruktiver Ratlosigkeit über das Dilemma der großen Reichweiten auf Scheißplattformen reden. Schön fand ich padeluuns (Digitalcourage) gewissermaßen selbstkritischen Verweis auf jahrzehntelanges „Nerdversagen“, die Unfähigkeit also, alternative, hinreichend attraktive Plattformen zur Kommunikation im Netz zu etablieren. Obwohl man da wahrscheinlich nicht den gewaltigen Sog außer Acht lassen darf, den Venture Kapital auf das quafilizierte Personal nunmal hat. Wer eine Idee hat die funktioniert, kann die halt auch teuer verkaufen. And why wouldn‘t you, dachten sicher viele unterwegs.

Die Verantwortung der reichweitenstarken Klimaorganisationen für einen system change auch in der digitalen Welt wurde betont, also Leute gezielt zu den Alternativen ziehen. Mir erschien der vorsichtige Einwand von Pauline Brünger (FFF) ganz bedenkenswert, dass es da vielleicht eine Analogie zwischen der (in die Irre führenden) Individualisierung der Verantwortung für die Klimakrise (iss vegan, flieg nicht usw) und der für eine Bewältigung des Problems mit den Großkonzernen im Netz (mach Facebook aus und Google auch usw.) gibt.

Mir war das zu kurz, aber zum Glück kümmert sich Bits und Bäume ja weiter um das Thema. Der eigenverantwortlichen Vertiefung steht also nichts im Wege. Wenn ich mich jetzt nur an mein Mastodon-Login erinnern könnte. Bin mir ziemlich sicher, mal eins gehabt zu haben… Naja.

Update: Mastodon-Login gefunden! https://mastodon.social/@abgelegt

Kunst, Kabale, Katholizismus

Georg Seeßlen bei Zeit Online mit einem sehr erbaulichen (und sehr ausführlichen) Text zur Wirklichkeitsproduktion im Film unter besonderer Beachtung der technischen Entwicklung und Digitalisierung und die bislang gerade der perfekten CGI gesetzten Grenzen. Veränderte Sehgewohnheiten, die technologische Dehn- und Beugbarkeit von Raum und Zeit nimmt S. zum Ausgangspunkt, um über die mögliche Zukunft des Mediums zu spekulieren. Den ökonomischen Rahmen im Bewusstsein ist dieser prophetische Blick recht pessimistisch geraten.

Besonders faszinierend für mich (cineastisch ziemlich ungebildet) war beim Lesen übrigens ein Nebenaspekt relativ am Anfang, die Erläuterung eines Unterschieds zwischen dem „ich sehe“ und „wir sehen“ nämlich, eines Glaubensgefälles das entsteht zwischen Filmkonsum allein daheim und dem im Kino. Frage mich nun, ob in der unbewussten Wahrnehmung dieses Unterschieds einer der Gründe liegt, dass ich, obwohl gerne und oft Filme schauend, nie ein sonderlich enthusiastischer Kinogänger war.

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Auch sehr lesenswert ein langes Stück von Dirk Ludigs bei queer.de, zum Scheitern eines queeren Kulturhauses in Berlin. Selbst ohne persönliche Bekanntschaft mit Beteiligten an diesem Desaster ist das ganz interessanter Stoff über transfeindliche Kabale, hartleibige Arroganz, Spekulation auf Fördergelder und überhaupt die berühmte Berliner Mischung aus Planlosigkeit, Unfähigkeit und Selbstzufriedenheit.

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Ganz toll Stefan Hunglinger in der taz mit einer Reportage über das erzreaktionäre, rechtskatholische Milieu in Berlin, „fernab von chaotisch-bunten Familiengottesdiensten, von zeitgenössischer Theologie und der allgegenwärtigen Naturwissenschaft“. Die gute alte Zeit, die jene sich zurückwünschen ist schon etwas länger her und es gruselt einen nur daran zu denken, dass es nicht nur gänzlich abseitige und einflusslose Spinner sind, die sich da Oblaten auf die Zunge legen lassen.

lies Jerofejew nicht! vorm einschlafen

Screenshot youtube, Porträt von Wenedikt Jerofejew mit dem Untertitel: "I stopped going to militäry classes"
Warum Jerofejew von der Uni flog

Bisschen schlecht durch die Nacht gekommen letztens, wegen eines Buchs, das mich emotional ganz schön angegangen ist. Schwierige Sache sowas, Sensibilität ist schließlich wieder out, irgendwelche langhaarigen TV-Filosofn wollen Bockbier und Männlichkeit retten, aber mich berühren Kunstwerke einfach zu leicht. Anlässlich des Todes von Sondheim verschiedene Versionen von „Send in the clowns“ gehört – Trä-nen-schlei-er (außer bei Sinatra natürlich).

Und gerade eben also Wenedikt Jerofejews „Die Reise nach Petuschki“ (Übersetzung von Natascha Spitz) gelesen. Diese apokalyptische Vision, die da doch etwas unvermittelt im letzten Viertel einsetzt, ist keine ideale Einschlaflektüre. Jaja, sooo unvermittelt kommt das selbstverständlich wiederum nicht; wenn man ein bisschen aufpasst, ist auch der ganze lockere Witz davor schon latent bedrohlich. Aus allen Poren schwitzt da die tiefe Religiosität, (enttäuschte) Heilserwartung fließt mit jedem Gramm Wodka, am Ende kommen zwangsläufig die vier Reiter, so steht‘s halt schon immer geschrieben.

Das Bild ist ein Screenshot von Youtube, wo es einen BBC-Film gibt, relativ kurz vorm Tod des Autors entstanden, über Leben und Werk, also vor allem Petuschki.