„Der Wahrheit nachsinnen, viel Schmerz“ – der Trakl-Bezug war am Ende Lebensmotto von Franz Fühmann, dessen 100. am 15. Januar hie und da Anlass für biografische Erinnerungen und Betrachtungen ist. Sehr dicht und informiert und informierend: Lukas Betzler bei 54books.de.
Wenn ich einen mich durchs Leben begleitenden Namen aus dem Bücherschrank ziehen müsste, Fühmann wär‘s. Begonnen hat es mit dem Zufall, dass die Frau im Kiosk, über dem wir damals in Rostock wohnten, meiner Mutter „Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel“ beiseite legte. Bückware Anfang der Achtziger, wie alles von Fühmann, der durch seine Nachdichtungen klassischer Mythen zwar allgegenwärtig und doch an den Rand gedrängt war.
Gänzlich unversöhnlich mit sich selbst, blieb der Konflikt mit den vermaledeiten Verhältnissen und ihren jämmerlichen Apologeten in der DDR nicht aus. Die Zersetzung durch die Stasi erreichte Fühmann überall. Selbst Lesungen der „Dampfenden Hälse“, eines Kinderbuches also, wurden gestört oder verhindert. Dieses Land, dessen Kulturbürokratie so geistesklein war, dass sie sich zwar gerne im „kulturellen Erbe“ aus Jahrhunderten rückwärts sonnen wollte, dessen Bedeutung für das Heute aber nicht so gern diskutieren mochte, konnte jemand so umfassend interessiertes, kluges, sendungsbewusstes nur unverständig abstoßen. Ein paar Jahre zu früh gestorben, elendig am Krebs verreckt, blieb F. die mögliche Renaissance des eignen Werkes verwehrt, das einigen (auch weniger fähigen) nach der Wende noch einmal ganz ordentlich Auftrieb gab.
Auch Betzler wundert sich ein wenig, warum Fühmann trotz diverser prominenter Fürsprache in den vergangenen Jahren weiterhin so tief unter dem Radar läuft. Nunja, die Welt hat sich eben weitergedreht und die Schonungslosigkeit und gelegentlich recht deutlich hervortretende Sperrigkeit (mal ehrlich: Trakl! Vom „Bergwerks“-Fragment ganz zu schweigen) Fühmanns überfordert umso mehr, je länger er tot ist. Da greifen die Segnungen des Kapitalismus: Das Gute und Gefährliche muss ja gar nicht verboten werden, das regelt alles der Markt in die zugehörigen Nischen weg.
Außerdem ist jemand, der so dringend an die Wandlungsfähigkeit, die Veränderbarkeit des Menschen glaubt, als umerzogener Nationalsozialist und umgelernter Stalinist glauben muss, mit seinem finsteren Optimismus so dramatisch aus jeder Zeit gefallen, dass er zwar immer ein Publikum finden wird, das aber eher nicht so zahlreich. Das Fühmann-Faible wird zuverlässig ein Orchideenfach bleiben, denk ich mal.
Meine zweite Zufallsbegegnung mit ihm passierte gut 20 Jahre später in einem Antiquariat in Berlin. Beim Stöbern „22 Tage oder Die Hälfte des Lebens“ in die Hände bekommen. Pfennigware Anfang der Zweitausender, die ich in liebevoller Erinnerung an die „Dampfenden Hälse“ mit einpackte und später ohne große Erwartungen aufblätterte – und seitdem nicht mehr zugeklappt hab. Dieses kleine Bändchen, dieses Wahnsinnsbuch ist das für mich vielleicht wichtigste, das ich je gelesen hab.
Erklären die „Dampfenden Hälse“ kindgerecht, welche Universen Sprache zu öffnen vermag, ist „22 Tage“ eine praktische Umsetzung der Theorie. Dass Fühmann das mit um die 50 geschriebene Buch als seinen Eintritt in die Literatur bezeichnete, ist ganz und gar nicht kokett. Der herausragende Kritiker in ihm machte eben auch und gerade vorm eigenen Werk nicht halt. Und das wiederzuentdecken lohnt sich selbstverständlich.
Einiges von Fühmann ist weiterhin lieferbar, die „Dampfenden Hälse“ und „22 Tage“ auch noch in neueren Einzelausgaben, die genauso wie die Werksausgabe bei Hinstorff erschienen sind, einem Verlag der sonst eher auf Maritimes und Rostock spezialisiert ist und bei dem Fühmann eher zufällig gelandet war, was aber auch schon wieder ein ganz andere Geschichte aus einem längst untergegangenen Land ist.