Rohdiamanten

Von manchen Büchern möchte ich nicht, dass sie aufhören. Das muss mir nicht unbedingt bewusst sein. Dann macht sich unterschwellig das Gefühl bemerkbar, indem sich unwillkürlich die Lesegeschwindigkeit verringert. Nach jedem Kapitel lege ich das Buch zur Seite. Das Lesen wegprokrastinieren. Während die ersten zwei Drittel in wenigen Tagen verschlungen waren, braucht es für das letzte dann mindestens doppelt so viel Zeit.

Bei Joe Westmorelands vor ein paar Wochen neu aufgelegtem autofiktionalen Roman „Tramps like us“ war es mal wieder soweit. In gewisser Weise schmerzlich, denn der Unwille zum Ende zu kommen, liegt im Stoff begründet. Worauf die Coming-of-age-Geschichte eines jungen Schwulen und seiner Freund*innen zwischen Mitte der 1970er und Mitte der 80er in vielen Fällen hinausläuft, ist von Anfang an klar. Westmoreland sagt, dass der Arbeitstitel des Buches „How I got HIV“ war. Gut, dass der in die Schublade gewandert ist.

Selbstverständlich stellt „Tramps“ sich der Katastrophe. Entscheidender aber ist, dass das Buch sich dem Leben seiner Protagonist*innen öffnet, den Ausgestoßenen, Verwahrlosten, Einsamen. Die finden zueinander, feiern und lieben sich. Sie halten sich mit beschissenen Jobs über Wasser, nehmen zu viele Drogen, hören gute Musik. „I want my friends to be remembered“, beschreibt Westmoreland seinen Antrieb in einem Interview aus Anlass der Neuveröffentlichung. Die Erinnerung an die Freund*innen lebendig zu halten ist ein hervorragender Grund, auch nur irgendetwas zu schreiben.

Das Schöne ist, dass es ihm tatsächlich gelingt, seiner Gang ein Stück Unsterblichkeit zu schenken, er gleichzeitig aber weit mehr erzählt. Ich habe einen Augenblick gebraucht, mich mit dem sehr zurückgenommenen, tagebuchhaften, dabei fast schon naiven Stil anzufreunden. Westmoreland legt in dieser strikt beobachtenden Collage einzelner Szenen ein Mosaik von Typen und Orten, ohne dabei oberflächlich zu verallgemeinern. Es werden keine Interpretationen mitgeliefert, dafür umso mehr Material für eigene Bewertungen. Rohdiamanten.

Die Brutalität der Herkunftsfamilie mit dem Vergewaltiger als Vater wird mit derselben nüchternen Genauigkeit beschrieben, wie eine wilde Partynacht in New Orleans oder der von AIDS und begleitenden Krankheiten verursachte körperliche Verfall der engsten Freunde. Das ist alles passiert und so soll es auch erzählt werden, weil eben nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist.

Leider sehe ich nicht so recht, dass „Tramps“ so bald in deutscher Übersetzung erscheinen wird (es ist schon eine Wunder, dass es überhaupt noch einmal gedruckt wurde, nach der völlig abenteuerlichen Publikationsgeschichte des ersten Versuchs, inklusive Herzinfarkt des Verlegers und einer geplanten Buchpremiere in New York am 11. September 2001). Schade ist das, weil es sich eben nicht um ein bisschen lokale Minderheiten-Folklore handelt. Hier liegt, eventuell gar nicht einmal unbedingt ganz bewusst so angegangen, eine Erzählweise vor, die ihre Teilchronistenpflicht ernst genug nimmt, um durch ein kleines Fenster einen doch sehr weiten Blick auf eine ganze Welt in ihrer Zeit zu öffnen.

In seinem im englischsprachigen Raum viel gefeierten und ebenfalls bislang nicht auf deutsch erschienen Debüt („Gay Bar – Why we went out“, 2021) näherte Jeremy Atherton Lin sich essayistisch einem anderen Abschnitt der selben Welt an. Da musste ich bei „Tramps“ öfter dran denken. Während Westmorelands Prosa ungeschliffener und unmittelbarer daherkommt, zeigt Lin deutlich, dass er nicht zufällig aus gebildeter intersektionaler Perspektive schreibt (inklusive gelegentlichen Namedroppings irgendwelcher hipper Philosophen :). Neben der interessant zu lesenden eigenen Geschichte als junger schwuler Asian-American Mitte der 1990er zwischen Großbritannien und den USA, reflektiert er unter anderem über die verschiedensten Diskriminierungslinien, auch über die Normierung und Borniertheiten innerhalb der Szenen. Seine Tonlage ist mir dabei sehr angenehm. Noch dazu erkenne ich vieles wieder, gerade auch wegen generationeller Nähe.

Lin ist es in diesem Nachruf auf eine untergegangene Landschaft des Begehrens sehr wichtig, der von Brüchen, Vergessen und Verschwinden geprägten Tradierung queerer (dabei vor allem schwuler) Subkulturen auf die Spur zu kommen. Denn was bedeutet es, wenn die Lebenserfahrung und Geschichte der vermeintlichen gesellschaftlichen Mehrheit wichtige Teile, wenn nicht sogar den Kern des eigenen Selbst schlicht nicht abbildet und der Arbeitsspeicher der selbst gewählten sozialen Verbindung mit jeder nachwachsenden Generation komplett auf Null gesetzt wird? Das Finden des eigenen Ortes innerhalb der schwulen/queeren Szene ist bei Westmoreland wie Lin trotz der 20 Jahre Unterschied faszinierend ähnlich.

Letzterer liefert auch eine schlüssige Erklärung für die Art der erst unsicheren und zögerlichen, dann umso explosiveren Aneignung des neuen Raums: „I didn’t know how else to learn history but to try it on.“ (etwa: „Ich wusste nicht wie Geschichte, anders als sie anzuprobieren, zu erlernen war.“) Wohlgemerkt, die eigene Geschichte, die eben nicht die der biologischen und geografischen Herkunft, sondern die eines Versprechens auf Künftiges ist. Oder wie es in „Tramps“ heißt: „Home was something in the future that had yet to be created, not someplace in the past.“ (etwa: „Zu Hause war etwas in der Zukunft erst zu erschaffendes, und nicht ein Ort in der Vergangenheit.“)

Die subversive Kraft des Wissens um eine mögliche andere Zukunft, eine Heimat nach eigenen Vorstellungen, abseits der vorgefundenen Zumutung von Welt, kann in ihrer subtilen Radikalität durchaus überraschen. Deshalb ist es schon ganz gut, gelegentlich an dieses immense positive Potential erinnert zu werden. Ich zumindest denke da nicht jeden Tag dran, aber wenn ich solche Bücher lese, immerhin ein bisschen öfter.

im Bild oben: Tom of Wrocław oder so ähnlich.

Wer das Walter-Benjamin-Zitat findet, kann sich die Jeremy-Atherton-Lin-Gedenkmedaille umhängen.

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Arbeiten, sprechen, atmen

Beim Wühlen im Netz auf den Text gestoßen worden, mit dem Josefine Soppa in diesem Jahr den Wortmeldungen Literaturpreis für kritische Kurztexte gewonnen hat (nachzulesen auf der Webseite der Wortmeldungen oder in Buchform bestellbar bei der Buchhandlung des Vertrauens oder gleich beim Verbrecherverlag). „Klick Klack, der Bergfrau erwacht“ – der Titel allein ist ne Wucht und der einführend zitierte Wortwechsel von Weizenbaums Chatbot Eliza gibt die Richtung vor. Eingabe: „Krieg ist der Vater aller Dinge.“, Ausgabe: „Erzählen sie mir mehr über ihre Familie!“ Und das tut sie dann auch.

Die verwendeten Bilder und Assoziationen sind unglaublich stark. Die Idee, den sukzessiven Verlust der Sprechbefähigung beim an Parkinson erkrankten Vater und sein Kämpfen um sinnvollen Ausdruck analog zur Präsentation sogenannter künstlicher Intelligenz zu setzen, ist sehr spannend ausgebaut. Mich nimmt überhaupt das Spiel von sehr körperlicher Beschreibung hin zu abstrakten Konzepten der Sinnbildung sehr gut mit.

Am meisten beschäftigt mich an „Klick klack“ der Abschnitt, der da beginnt mit einem Bezug auf Frédéric Valins Kritik an einer bestimmten Literatur der Arbeiter*innenkinder. Während der aber durchaus parteiisch und ziemlich gnadenlos auf den darin enthaltenen Verrat der Kinder an ihren Eltern und deren Klasse hin zuspitzt, entscheidet sich Soppa zumindest im vorliegenden Text für eine andere Option. Zunächst einmal nicht einfach gehen (wie zB. der von V. kritisierte Eribon). Die ganze Widersprüchlichkeit bleibt mit ihr, dem kleinen Baby und dem verschwindenden Vater in einem Raum. Quasi eingesperrt. Es wird eine intergenerationelle Kontinuität entworfen. Im sinnlosen Arbeiten, im Nicht-richtig-sprechen-können und zu guter Letzt im Atmen. Wieder zurück vom Abstrakten hin zum Konkreten, zum Körperlichen. Das strahlt tiefe menschliche Wärme aus.

Das Gefühl der Unterlegenheit, das Imposter-Syndrom der Aufsteiger*innen, die im Versuch, ihrer Herkunft zu entkommen schier zerbrechen, illustriert Soppa wiederum mit der Maschine. Auch wenn mir die Symbolik, die sie der KI, „dem größten aller Arbeiter*innenkinder“ überhilft, ein bisschen zu romantisierend daherkommt, funktioniert sie zweifellos als Spiegelung unseres Daseins.

Und dann kommt ein ganz faszinierender Satz: „Das Paradigma, KI nicht* zu vermenschlichen, dient auch dazu, eine „Aura der Immaterialität“ aufrechtzuerhalten und die menschliche Arbeit und Ausbeutung, die unzähligen prekären Biographien, die wörtlich in ihrer Schrift sind, zu verbergen.“ Faszinierend deshalb, weil der für mich mit genau der gegenteiligen Aussage richtig wäre, also: „Das Paradigma, KI zu vermenschlichen, dient auch dazu, die menschliche Arbeit und Ausbeutung, die unzähligen prekären Biographien zu verbergen.“

Tatsächlich würde ich behaupten, dass die large language models, die wir als KI bezeichnen, von den Nutzer*innen als selbständige Entitäten ohne Herkunftsgeschichte wahrgenommen werden. Gerade in der Anthropomorphisierung existieren sie losgelöst von der ganzen menschlichen Arbeit, die da hineingeflossen ist. Insofern ist die KI dann aber vielleicht doch eine geeignete Repräsentanz der Arbeiter*innenkinder. Nur eben mehr noch auf der von Valin beschriebenen Flugbahn: als eiskalte Verräterin ihrer Klasse im Dienste der herrschenden Verhältnisse und ihrer Statthalter*innen.

*meine Hervorhebung

oben im Bild: Sky’s the limit.

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Vorbei, vorbei

Neulich stolperte ich auf Mastodon über einen interessanten Gedanken. Ausgehend von der gemeinhin geteilten Beobachtung, dass eventuell die Baseballschlägerjahre zurück seien, stelle sich doch die Frage, wie genau die eigentlich mal zu Ende gegangen wären. Das vorgetragene Erkenntnisinteresse erschließt sich sofort: „Gibt es hier Muster aus der näheren Historie, die sich aufs Heute übertragen und wiederholen lassen?“

Ich kann immerhin sagen, wann die Baseballschlägerjahre vorbei waren: In dem Moment wo ich aus der Betonburg meiner Jugend raus war. Da genügte bereits das Jahr Wehrdienst als Abstand. Auslandsaufenthalt, Studium, Wohnen im Stadtzentrum taten ihr übriges.

Spät in den 90ern, das Rostocker JAZ war zu der Zeit noch sehr zentral gelegen zwischen Fußgängerzone und Universitätsimmobilien, spielte ich dort an einem Abend Billard mit einem mir bis dahin nicht bekannten ein paar Jahre jüngeren Menschen. Im halbkaputten Schummerlicht, mit dem Blick ohnehin die meiste Zeit auf dem Tisch, war ich mir nicht ganz sicher, aber der schien mir ein recht großes Feuermal auf der einen Gesichtshälfte zu haben. Dass das aber ein Bluterguss war, realisierte ich erst, nachdem er erzählte wo er herkam, wie ich aus den Neubaugebieten des Rostocker Nordwestens nämlich und dass er grad wegen Schmerzen etwas Mühe habe, aufzutreten. Zum Gesicht eine beiläufige Bewegung. Ein echter Mecklenburger eben. „Achso ja, das auch. Das is frisch.“

Achso ja, vorbei für mich.

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Wieder reingezogen wurde ich dann um die Jahrtausendwende. Meine Versuche, in Berlin journalistisch zu landen, führten mich eher unwillig zurück nach Wismar, nach Greifswald, nach Dessau. Ich kam aus dem Osten, hatte hier und da noch lose Kontakte. Niemand konnte die Toten erklären. Selbst sie zu zählen ist ja bis heute ein schwieriges Unterfangen. Ich habs nicht lange ausgehalten. Hinterbliebenen gegenübersitzen, deren Schmerz für eine Öffentlichkeit zu moderieren, die es entweder nicht hören will oder schon weiß, dass der Osten halt so ist… Das war ein bisschen zuviel Gewicht auf das Gepäck drauf, dass ich, immer noch ziemlich jung, ohnehin schon mit mir rumtrug.

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Meine andere Erinnerung stammt ungefähr aus derselben Zeit, ein bisschen später vielleicht, wahrscheinlich Landtagswahlkampf 2002 in MV. Ich wohnte schon eine ganze Weile nicht mehr dort, die Heimatbesuche wurden sporadischer. Mich verwunderte damals beim Gang durch Rostock-Schmarl, dass anders als früher die Faschos gar nicht mehr zur Bewachung ihrer Wahlplakate patroullierten. Ja, aber klar doch, niemand überklebte oder riss die ab. Vorbei, vorbei.

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Das wäre mein Muster aus der näheren Historie. Selbstverständlich gibt es Konjunkturen bestimmter Gewaltformen und Ausbrüche, die konkreten Umständen entwachsen, oftmals von Zufällen geprägt, die sich dann gegenseitig verstärken oder abflachen. Das Gefühl einer Verbesserung zu bestimmten Zeiten ist jedoch bisweilen nur eines der eigenen Nichtbetroffenheit. Bedrohungspotential ist eben schwer von außen messbar. Wer nicht sehr genau hinschaut, übersieht den Schatten des Baseballschlägers leicht. Einige der Antworten im besagten Mastodon-Thread zielen denn auch ein wenig in diese Richtung.

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Radikalisierung und Brutalisierung können als einigermaßen stetiger Prozess beschrieben werden, der aber eher schubweise, in Abständen sichtbar wird. Die sind einerseits geprägt von den offensichtlichen Konjunkturen, andererseits aber auch von beiläufiger Ignoranz oder dem aktiven Nichtsehenwollen der Mehrheitsgesellschaft.

Es kann durchaus sein, dass die Geschichte der sogenannten Baseballschlägerjahre so unvollständig geschrieben ist, dass nicht einmal klar ist ob und wann sie je zu Ende waren. Die Frage, wie sie in historischer Analogie zu bekämpfen wären, ließe sich demzufolge derzeit auch nur als negativer Ausschluss, als „so nicht“, beantworten. David Begrich macht das zum Beispiel bei den Blättern mit einem knappen, informierten und klaren Beitrag wider das schon in den 1990ern offensichtlich fehlgeleitete Konzept der akzeptierenden Jugendsozialarbeit mit den Rechtsextremen.

Auch Begrich geht dabei ganz automatisch von der „Welle rechter Gewalt wie in den 1990er Jahren“ als etwas zunächst Vergangenem aus. Das ist sicher gut begründet, und vielleicht ist es ja auch einfach so, dass es verschiedene Stadien gibt, die mit messbaren Faktoren auch gut genug für eine valide Etappen-Erzählung voneinander abgrenzbar sind.

Als Baseballschlägerjahre könnte dann das konkrete, zeitlich begrenzte Geschehen bis etwa zur Jahrtausendwende bezeichnet werden. Es ließe sich argumentieren, dass dann für ein gutes Jahrzehnt die innere Radikalisierung entscheidender wird und die Konsolidierung der Szene (unter Begleitung der Verfassungsschutzbehörden, nebenbei bemerkt), inklusive Ausbildung eines im Untergrund operierenden terroristischen Organisationsteils (unter Begleitung, achundsoweiter).

Darauf folgt der Aufstieg eines lange umkämpften parlamentarisch hegemonialen Arms der Bewegung. Diese Schritte gehen aber jeweils nicht zu Ende, sondern ineinander über. Es gibt ideelle und personelle Verbindungen, Wiederholungen, auch Abweichungen. Bei dieser Betrachtungsweise verliert die Ausgangsfrage, zumindest ihrem Wortsinne nach, ein wenig den Sinn. Schließlich geht sie, wenn auch nur von einem vorläufigen Abschluss, aber doch von einer irgendwie erfolgreichen Befriedung der Situation aus. Die ist so nicht erfolgt, würde ich mal vermuten. Das zeitweise Fehlen potentieller Opfer im Nahfeld und die szeneinternen Organisations- und Konsolidierungsbestrebungen hatten eventuell den Effekt einer zeitweise verminderten Straßengewalt (und nicht einmal da wäre ich mir pauschal sicher. War schon lange nicht mehr Billard spielen). Jedenfalls war das gewiss kein Zeichen des Erfolgs im Zurückdrängen der Gefahr.

Wenn sie also nicht im engeren Sinne zu Ende gingen, kommen sie dann überhaupt wieder, die Baseballschlägerjahre? Die konkrete Situation der allgemeinen Gesetz- und Zukunftslosigkeit auf dem Gebiet des ökonomisch, politisch und kulturell implodierten einen deutschen Staates hat ja derzeit keine unmittelbare Entsprechung (künftige Näherungen durch Klimakatastrophe und sonstige übermächtige Faktoren sind da nicht ausgeschlossen).

Auch hat sich die Personalsituation ja geändert – und das nicht unbedingt zugunsten der progressiven Kräfte. Der parlamentarische Arm allein macht da schon einen bedeutenden Unterschied. Das Gaslighting der 90er Jahre war schlimm genug, die aktive Organisationsarbeit durch eine bundesweit etablierte Struktur ist da eine erheblich andere Nummer. Bestimmte Erscheinungsformen mögen da selbstverständlich ähnlich sein, ihre Einbettung aber hat eine völlig andere Qualität.

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Aber auch auf der anderen Seite hat sich einiges getan. Ich denke zum Beispiel, dass Austausch und Gegenwehr mehr geworden sind und ein größeres, wenn auch in Teilen vages Bewusstsein für die Dringlichkeit des Handelns besteht. Sowas wie die organisierten Anreisen von Unterstützer*innen zu den ganzen Provinz-CDS zum Beispiel wäre vor 30 Jahren so nicht passiert. Es hätte diese CSDs schon gar nicht gegeben. Gut, dass es jetzt anders versucht wird.

Der aktuelle Stand präsentiert bei allen Ähnlichkeiten seine eigenen Herausforderungen und Kämpfe, für die Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden können und müssen. Dennoch wird diese Phase irgendwann ihren eigenen Namen bekommen. Einen der vielleicht mal nicht die Waffe der Faschos in sich trägt, sondern mehr vom Widerstand erzählt. Und wenn man sich anschaut, wo im Moment die vorderste Kampflinie verläuft, ob nun in Bernau oder im Bundestag, würde ich sagen, wird das irgendwas mit Regenbogen oder so sein.

im Bild oben: Es wird nicht leichter…

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Irgendwie unwahrscheinlich

„Angesichts des inflationären Gebrauchs des Wortes »faschistisch» täte eine genaue Bestimmung schon not.“ – schrieb Franz Fühmann Anfang der 1970er und seitdem ist die Lage nicht besser geworden. Sowohl die mit der Inflation, als auch die mit der Tatsache an sich. Also bin ich in der vergangenen Woche zur Weiterbildung ins Literaturforum gegangen. „Faschismus – erleben wir ein Comeback?“ hieß die Veranstaltung. Sie kann, abzüglich der durchaus ganz interessanten Fragerunde, auf Youtube (leider keine konzernfreie Option gefunden) nachgeschaut werden.

Was ich sehr interessant und anregend fand, war das allgemeine Unbehagen mit dem F-Wort selbst, bei gleichzeitiger Anerkenntnis, dass die bisherigen Versuche, den Pudding an die Wand zu nageln nicht hinreichen. Rechtspopulismus ist als beschreibende Vokabel doch etwas abgegriffen und unscharf. Der vielleicht entscheidende Satz fällt gleich am Anfang von Mario Candeias: „Wir haben Faschisten, jede Menge, aber keinen Faschismus.“ Alle Versuche, danach zu einer Einigung zu kommen, wann denn nun wirklich vom ordentlichen F. gesprochen werden kann, müssen zwangsläufig dahinter zurückfallen.

Denn spätestens, wenn wir der validen und gut begründeten Position folgen, welche die organisiert ausgeübte massenhafte und auch tödliche Gewalt und im Kern dann staatsterroristische Herrschaftsausübung als notwendige Bedingungen bezeichnet, spätestens dann kann Faschismus eigentlich nur ex-post, gewissermaßen aus dem Massengrab heraus als solcher benannt werden. Aber er ist eben als Idee, als Möglichkeit vorher präsent, wenn auch manchmal nur als unterschwellige Drohung. Auf jeden Fall aber sind seine Träger, die Faschisten, da. Wie die Teilnehmer*innen dieser Runde im Brechthaus in konstruktiver Diskussion mit dieser Spannung umgehen, fand ich wie gesagt sehr anregend.

Es gibt in dem Gespräch mehrfach Momente, wo die Vortragenden beinahe etwas lachen müssen. Ich will da nichts unterstellen, aber ich hatte schon den Eindruck, dass es dieses leicht peinlich berührte, ausweichende Lachen ist, das einen gewissen Unglauben verrät. Mindestens einmal wird es auch genauso ausgesprochen, dass bestimmte Sorgen (Stichwort: „Flucht“) irgendwie übertrieben wirken. Ich bin weiterhin der Überzeugung, dass dieser Unglauben zwar nachvollziehbar, aber völlig fehl am Platz ist. Glaubt eurem Gefühl!

Es ist zwar richtig, dass derzeit keine bewaffnete SA durch die Straßen marschiert. Aber erstens wird an diversen Minderheiten, allen voran Geflüchteten, von den zuständigen staatlichen Stellen die gewaltförmige Entrechtung bereits fleißig eingeübt. Zweitens gibt es keine Empirie, die mich davon überzeugt, dass es nicht eine gefährlich große Gewaltbereitschaft in der deutschen Bevölkerung gegen die als feindlich markierten Gruppen gibt. Da gibt es eventuell ein nicht zu unterschätzendes kurzfristig aktivierbares Potential. Es bleibt dabei: Dieser Unglauben, den man gehässigerweise Naivität nennen kann, der aber in Wirklichkeit Ausdruck tiefer Menschlichkeit ist, munitioniert den F. leider zusätzlich auf. Denn die unmittelbare Bereitschaft zum voraussetzungslosen Einsatz brutaler Gewalt ist sein entscheidender taktischer Vorteil.

„Wir haben Faschisten, jede Menge“ – der Satz kann an dieser Stelle enden, denn alles was danach zu sagen wäre, ist eine Frage des Datums, und wird dann rückblickend von Historiker*innen diskutiert werden.

Tatsächlich ist das ja das eigenartige mit dem F., dass er keine kohärente Ideologie ist. Er ist ein opportunistisches Mosaik, sehr in der Situation aufgehend. Wie ein ständiges A/B-Testen läuft das ab. Womit komme ich durch, wo gibt es Hemmnisse? Wie lassen die sich umgehen? Deshalb ist der Antifaschismus ja so wichtig. Er ist die Grenzziehung, die Antwort bereits auf den Test, die Antwort auf den Faschisten, bevor es zum Faschismus kommt. Eine Aufgabe bei der die sogenannte bürgerliche Mitte bekanntermaßen ständig versagt.

Die Faschisten ohne Faschismus sind ja nebenbei auch ein invertiertes Echo jenes historischen („Hitler war’s, nicht ich.“) Faschismus ohne Faschisten. Beides aber ist irgendwie unwahrscheinlich. Und das sollte uns mit Blick auf die nähere Zukunft doch ein wenig beunruhigen, denke ich.

Fühmann nörgelte übrigens nicht nur, sondern machte auch einen Versuch, die Begrifflichkeit etwas einzugrenzen und weil er es so schön knapp zusammenfasste, zitiert es sich besser als Eco, der durchaus ähnliche Punkte aufführt: „Gemeinsam im Ideologischen scheint mir bei allen Spielarten [des Faschismus] jüngster Vergangenheit und Gegenwart: elitäre Massenverachtung bei gleichzeitiger Sehnsucht nach dem Aufgehn im Anonymen (»Magie der Viererreihe»); militanter Nationalismus bei gleichzeitigem Bemühn, eine Internationalität herzustellen; starres Schwarz-Weiß-Denken; Verherrlichung des Brutalen, Grausamen, Blutigen, Vorgesellschaftlichen bei gleichzeitiger Faszination durch Technisch-Industrielles; Verlangen nach Militarisierung des gesamten gesellschaftlichen, ja persönlichen, ja privaten Lebens bei gleichzeitiger Bejahung des anarchischen Kampfs aller gegen alle; Denunziation von Vernunft, Gewissen und Bewußtsein; Führerprinzip; Demagogie; Fanatismus; extremer Antikommunismus – und eben dies alles zusammen, nicht isoliert“ („22 Tage oder die Hälfte des Lebens“, Rostock 1973, Seite 84)

oben im Bild: Hört auf Computer!

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101

Octavia Butler, offenbar keine Anhängerin von Geniekult und göttlicher Inspiration gab jungen Autor*innen eine klare Richtung mit auf den Weg: „Schreib, jeden Tag, ob du es magst oder nicht. Scheiß auf Inspiration.“1 Sie ist gewiss nicht die einzige, die diesen Arbeitsethos anrät, aber ihre Formulierung knackt halt ganz ordentlich und wird also gerne zitiert.

Gewiss, ich habe streckenweise täglich Texte zu Papier gebracht. Das aber nur unter der ständigen Drohung von Deadlines. Das ist ein Druck, dem ich mich rückblickend betrachtet vielleicht nicht ganz zufällig ausgesetzt habe. Extrinsische Motivation. Die sanfte Peitsche der Schlussredaktion. Nicht nichts machen, stattfinden. So entstehen Gebrauchstexte, die selbstverständlich mehr Technik sind als Kunst. An wenigen guten Tagen Kunsthandwerk. Aber bis heute weiß ich nicht, wie das geht: jeden Tag schreiben. Wirklich schreiben.

Dabei wäre genau das doch nötig, um Möglichkeiten zu finden, nicht das immer Gleiche mit nur leicht variierenden Worten zu sagen. Wie so ein Journalismusbot. Nazis raus, Kapitalismus doof, Digitalisierung eine ausbeuterische Vollkatastrophe, KI für die Tonne. Da, 101 Anschläge, fertig.

In der Lesebühnenzeit, vor 20+ Jahren, da gab es so Momente. Auch nicht direkt jeden Tag, nein, aber immerhin manchmal. Und diese kurzen Blitze waren immer durch Kommunikation geprägt. Kurze Kommentare, Kritiken, überraschende Interpretationen anderer Autor*innen. Ebenfalls nicht zu unterschätzen ist ein anregender, wenn auch bisweilen nur heimlich ausgetragener Wettbewerb. Qualitativ nicht abgehängt werden zu wollen ist kein schlechter Antrieb.

Reibung erzeugt Funken. Mangelnder Austausch ist eines der größeren Probleme des solitären Arbeitens. Und solitär war das, bei allem Krawall, auch in der Redaktion. Da hat kaum jemand mal die Zeit, sich der Alltagshektik selbst für Augenblicke zu entziehen. Es wird im wesentlichen gedruckt, wie’s kommt. Da rede ich übrigens nur von den Gutwilligen. Am unverlangten Textgemetzel mit dem einige andere sich dann wiederum über die Arbeit ihrer Kolleg*innen erheben, übt man eventuell die Konfliktbefähigung, aber nicht grad das Schreiben.

Jetzt, im Hobbysegment angekommen, ist der frühere Druck raus. Neben ein bisschen Befriedigung der Eitelkeit sind da keine tieferen Zwänge, existenzieller Art zumal, dabei. Zurück zu denen will ich sowieso nicht. Aber wie dann weiter und warum? 101 Anschläge… puh.

Der andere dringende Hinweis, den Butler in dem viel zitierten Interview noch gab, war der, dass Schreiben vor allem Lesen heiße. Das stimmt unbedingt. Ich bemerke da einen sowohl langfristigen Effekt, als auch einen unmittelbaren Zusammenhang. Je genauer und bewusster ich lese, umso dialogischer und damit produktiver wird der Prozess.

Vielleicht ist genau das ja der Anfang: Jeden Tag lesen. Richtig lesen. Und das bekomme ich inzwischen sogar schon ganz gut hin, glaube ich. 🙂

im Bild oben: Welche Stadt?

1 – „…write, every day, whether you like it or not. Screw inspiration.“ Octavia Butler, Interview by Randall Kenan, Callaloo, 1991)

Die Rechnung bitte

Die Erinnerungen an den 40. Jahrestag sind etwas verwaschen, wahrscheinlich eine Melange aus mehreren als Schüler in der DDR erlebten Jubiläen. Es gab da gewisse Überlappungen zwischen den Anlässen, Reden, Fahnen, Gesang, Applaus. Eine Art vereinheitlichter Liturgie aus Kyrie, Credo und so weiter. Also versuchte ich mir das konkreter werden zu lassen in der Vergegenwärtigung der Friedensfahrt.

Dieses Fahrrad-Etappenrennen war in jedem Mai ein mit Spannung erwartetes Ereignis. Die Junge Welt druckte zum Beginn, ich glaube doppelseitig, den Tourplan und dann jeden Tag ein auszuschneidendes Passfoto des Gewinners, das in einen dafür vorgesehen Rahmen in diesen Plan eingeklebt werden konnte. Ich habe Olaf Ludwig und Uwe Ampler recht oft und enthusiastisch geleimt. Panini dall’oriente.

Ich dachte, die Friedensfahrt von 1985 sei die mit Etappen in der Ukraine gewesen, aber nein, das war erst ein Jahr später, wie mich die Wikipedia erinnert. Wenige Tage nach Tschernobyl ausgerechnet, weswegen die meisten westlichen Teams auf den Start verzichteten. Der Witz vom strahlenden Sieger bot sich an und wurde auch ad infinitum gerissen.

Nein, ‘85 gab es nur einen kurzen Ausflug nach Moskau, ansonsten die Traditionsroute durch die Tschechoslowakei, Polen und die DDR. Olaf Ludwig, der aus heute nicht mehr rekonstruierbaren Gründen mein Idol war (wahrscheinlich einfach der Sog des Erfolgs), konnte wegen Krankheit leider nicht teilnehmen. ‘86 dann wieder strahlender usw.

Jedenfalls, das Ende des zweiten Weltkrieges war 1985 genauso weit weg, wie in die andere Richtung das aktuelle Jahr. Der direkte Kontakt zu Zeitzeug:innen, Widerstandskämpfer:innen beispielsweise und KZ-Überlebenden war schon allein über Vorträge in der Schule und andere Aktivitäten die der Festigung unserer sozialistischen Persönlichkeit dienen sollten, noch regelmäßig gegeben. Der seltsame erinnerungspolitische Spagat, gleichzeitig besiegt und befreit zu sein, funktionierte ganz reibungsarm für mich. Wir waren die Guten, eine Nation aus Jung- und Thälmannpionieren. Selbstverständlich waren wir befreit worden.

Anders als Gleichaltrige in vielen anderen Familien, war ich außerdem nicht mit Altvorderen konfrontiert, die der offiziellen Linie zum Beispiel mit eigenen Heldengeschichten aus dem Krieg widersprachen. Die Verwandten, mit denen ich näher zu tun hatte, waren ziemlich linientreu und außerdem schlicht zu jung, um selber Täter oder überhaupt irgendetwas aktives gewesen zu sein. Auf dem Nachttisch der einen Urgroßmutter ein Foto von einem Mann in Uniform. Die einzige direkte Verbindung zu – ja, wozu eigentlich? Das war so fremd, dass sich dieser kurze Moment bis heute eingeprägt hat. Ein gerahmtes Bild in der Wohnung der mir ansonsten unvertrauten, vielleicht zweimal überhaupt nur getroffenen Person.

Die Beschäftigung mit deutscher Schuld und Verantwortung verließ bald darauf wegen bekannter historischer Umstände den offiziellen Pfad, oder besser: der Pfad war weg. Der Bogen zurück kam dann vor allem über Shoa-Erinnerung. Ohne Wertung gesprochen, als Beobachtung eher, habe ich das Gefühl, dass der Krieg darüber in den Hintergrund trat. In der DDR also hauptsächlich heldenhafte Sowjetarmee und kommunistischer Widerstand. Danach Fokus auf Genozid und Gerechte unter den Völkern. Immer auf der guten Seite, immer bereit.

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„Auf unserem Boden“ – das ist die vielleicht am häufigsten in den Interviews auftauchende Wendung in Swetlana Alexijewitschs „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“. Da klingt das Entsetzen über und ein Quell der Widerstandskraft gegen den Aggressor durch. In den Protokollen der Soldatinnen, Krankenpflegerinnen, Fliegerinnen, Partisaninnen … wird vieles sichtbar gemacht. Verbitterung, Liebe, Ungerechtigkeit, (zum Teil bestialische) Gewalt, tiefe Verletzungen körperlicher wie seelischer Art, Heldinnenmut. Es gibt Spuren von Kritik an blinder Gefolgschaft, schlechter Versorgung, schwacher militärischer Führung.

Wie ein roter Faden zieht sich aber die Bindung zum eigenen Land, auch im ganz physischen Sinn, durch die Erzählungen. Aus Nebenbemerkungen wird deutlich, dass das schon vor 40 Jahren (das Buch erschien 1985) ein der Generation eigenes Phänomen, zumindest in dieser starken Ausprägung, zu sein scheint. Kleine Entschuldigungsfloskeln, im Sinne von, „so sind wir erzogen worden“, „haben geglaubt“, „anders als die jungen Leute heute“ deuten da Veränderungen in Haltung und Wahrnehmung an.

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„Ich erinnere mich, wie ein verwundeter deutscher Soldat die Hände in die Erde krallte, er hatte Schmerzen, doch ein russischer Soldat sagte zu ihm: ‚Hände weg, das ist meine Erde! Deine ist da, wo du hergekommen bist …‘“ Maria Wassiljewna Pawlowez, Partisanenärztin (aus S. Alexijewitsch, „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“)

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Auf unserem Boden.

Kein Zweifel bleibt bei den Interviewten an der Alternativlosigkeit. Sie wollten und mussten aktiv teilnehmen. Sozusagen Teil der Geschichte werden, sie nicht einfach nur geschehen lassen, sie nicht einfach anderen überlassen. Der darin schwelende Widerspruch zum tradierten Geschlechterbild wird dann wieder in der Nachkriegszeit problematisch. Die da beschriebenen Szenen von Zurückweisung und Verachtung lasen sich für mich fast schwerer als die Berichte von den Kriegsgräueln.

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Debattenbeiträge zu Sondervermögen, Waffenlieferungen, Wehrpflicht und so weiter gibt es ja im Überschuss. Die Unmittelbarkeit der Kriegsdrohung wird da sehr unterschiedlich empfunden, die potentielle eigene Betroffenheit ebenso. Ich finde gut, dass es dabei auch hörbare Wortmeldungen aus der Generation derer gibt, die am ehesten einberufen würden. Trotzdem kommt mir da einiges schief vor. Häufig wird der individuelle Entscheidungsspielraum überschätzt, denke ich. Wenn das Faktische mit Panzern vor dem Hoftor steht, entwickelt es doch noch einmal eine ganz eigene Macht, und die wirkt nicht unbedingt in vorhersehbarer Weise. Egal, geschenkt.

Zu sagen, dass man nicht bereit sei, für irgendwelche abstrakten Ideen, einen ohnehin abgelehnten status quo gar, zu sterben oder zu töten, ist individuell eine völlig ehrenwerte und zu respektierende (im Sinne von: niemand sollte zu gegenteiligem Handeln gezwungen werden) Einstellung. Als politisch über die einzelne Person hinausweisende Idee, wird das aber ein bisschen dünn.

Ein Problem entsteht in meinem Verständnis nämlich, wenn organisierter Antimilitarismus oder Pazifismus so unterkomplex argumentiert, wie es leider immer wieder vorkommt. Waffen ganz allgemein, oder meinetwegen auch nur bestimmte Waffen abzulehnen ist ok. Nicht darüber nachzudenken (oder aktiv darüber zu schweigen) aber, welche Folgen so ein Programm hat, kommt mir entweder politisch naiv oder intellektuell unredlich vor.

Jede Handlung hat ihren Preis. Wie hoch er ist und wer ihn bezahlt, das sollte schon Teil der Überlegung sein. Das gilt selbstverständlich auch für die Frage danach, warum die Gewährleistung der Verteidigungsfähigkeit eines Landes sich automatisch in Kapitalgewinnen privater Anleger widerspiegeln muss und in letzter Konsequenz immer nur als Zwangsmaßnahme vorstellbar zu sein scheint.

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Vor einigen Tagen ein zufälliges Gespräch mit einer jungen Frau aus der Ukraine. Sie lebt und arbeitet in Kiew. Grad war sie auf Urlaub, eine Freundin besuchen, mal durchatmen. Sonst mache sie das gelegentlich bei der Familie ganz im Westen des Landes. Da sei die Lage etwas entspannter.

Eingeprägt hat sich mir die Schilderung ihrer Einkaufsroutine unter Angriffsbedingungen. Je nachdem, wie weit die in der Warnapp angezeigten russischen Drohnengeschwader noch von der Stadt entfernt sind, falle die Entscheidung für den eiligen Weg zum teureren Laden oder den etwas weiter entfernten für günstigere Besorgungen.

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Zur Aussetzung der Wehrpflicht (auch schon wieder fast 15 Jahre her, meine Güte…) hatte ich ein gewisses Unbehagen. Nicht, weil ich es den jungen Männern nicht gönnte, dass ihnen der Zwangsdienst erspart bleibt. Ich nehme diesem Staat das gestohlene Jahr bis heute übel. Auch nicht, weil ich eine irgendwie ausgereifte verteidigungspolitische Position gehabt hätte oder habe, die eine allgemeine Wehrpflicht erfordert. Oder überhaupt irgendeine verteidigungspolitische Position. Bin ja kein stellvertetender Bezirkskassier irgendeines SPD-Ortsverbands.

Nur die, die gerne in den Krieg ziehen wollen, die „Soldat“ für einen erstrebenswerten Beruf halten, denen traue ich bis heute nicht so recht über den Weg. Die alleine zu lassen mit den ganzen Knarren – nunja.

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„Das war wie gesagt Stalingrad … Die schlimmsten Tage des Krieges … Aber ich konnte trotzdem nicht töten. Einen Menschen einfach sterben lassen … Mein Brillantstück du … Man kann nicht ein Herz für den Hass haben und eins für die Liebe. Der Mensch hat nur ein Herz, und ich dachte immer daran, mein Herz zu bewahren.“ Tamara Stepanowna Umnjagina, Garde-Unteroffizier, Sanitätsinstrukteurin (aus S. Alexijewitsch, „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“)

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Tatsächlich würde ich gerne, zumindest solange es noch Armeen und Gewehre gibt, zuallererst die, die glaubwürdig nicht töten wollen, bewaffnen. Stärker sind sie sowieso, aber dann könnten sie auch einmal den andren zügiger die Rechnung präsentieren.

im Bild oben: Statue im sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow

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Wer wen überlebt

9.000 Kirschbäume wurden ab 1990 mit Spenden aus Japan rund um Berlin gepflanzt, gut 1.000 davon auf oder am alten Mauerstreifen. In Treptow an der Kiefholzstraße findet sich so ein Stück Kirschblütenweg und es ist wirklich beeindruckend. Umittelbar vor den Osterfeiertagen brachen die Blüten auf.

Ich finde die Geste immer noch schön, ein Stück lebendiges Japan zu verschenken. So eine Art Freiheitsstatue, aber ohne die Fackel und den ganzen Bombast. Klar, das war damals die Promoaktion eines Fernsehsenders, wer weiß, was da die unmittelbare Marketinghoffnung war. Aber was bleibt, ist doch was ganz ansehnliches. Da picknicken Leute drunter und dann posten sie Bilder von Blüten in ihre Social-Media-Feeds. Schöne Nachhaltigkeit.

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Man hört dieser Tage mal wieder von JK Rowling. Einerseits wird ihre Buchreihe neu verfilmt. Andererseits ist sie Teil der medialen und juristischen Kampagne zur Delegitimierung von Transpersonen. Und diese Kampagne hatte grad was zu bejubeln mit dem Urteil des britischen Supreme Court, der Geschlecht per Beschluss biologistisch und somit als binäre Kategorie definiert.

Die Schriftstellerin, die durch die Bücher über eine Internatsschule für Zauberer und Zaubererinnen (auf keinen Fall Zauberer*innen oder Zauberer:innen, wie wir jetzt wissen) zur Multimillionärin wurde, feiert mit Zigarre und Spritz ihren Erfolg auf dem Weg, eine ohnehin marginalisierte Gruppe Menschen, mit aller Gewalt zurück in ihre prekären Nischen zu verdrängen. Ordnung muss schließlich sein. Wer hätte gedacht, dass die Autorin sich aus ihrem eigenen Werk ausgerechnet Dolores Umbridge zum Vorbild nehmen würde.

Achja, das Werk…

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Ursula K. Le Guin wurde 2005 vom Guardian zu Rowling befragt. Die Idee, dass auch in den Welten der Fantasyliteratur eine Art Ausbildung für Magie integriert werden sollte, kam ja schon recht ausführlich in der initialen Earthsea-Trilogie (rund um 1970) vor. Le Guin sieht nachvollziehbarerweise kein direktes Plagiat, wie einige ihrer Fans, zeigt aber deutliches Unbehagen mit Rowlings Schweigen, wenn es um Fragen literarischer Traditionen und Herkünfte geht.

Auch an anderer Stelle macht Le Guin den großen Abstand nochmals deutlich: “Her book, in fact, could hardly be more different from mine, in style, spirit, everything.” Sie kritisiert aber nochmals, dass Rowling so tut, als gäbe es keine Herkunft, keine Vorgänger(*innen, sry). Besonders hart im Guardian: “She has many virtues, but originality isn’t one of them.”

Allerdings frage ich mich seit ich dieses Zitat kenne und “A Wizard of Earthsea” gelesen habe, was wohl die virtues, die Tugenden also der JK Rowling jenseits nicht vorhandener Orginalität sein sollen. Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, Fantasie und Begabung zu Charakterentwicklung oder Storytelling scheinen nicht dazuzugehören. Jedenfalls nicht im Vergleich zu Le Guin.

Die Earthsea-Bücher tragen uns, soweit wir uns denn auf das Genre einlassen wollen, zum Kern des Menschseins. Sie zeigen, dass die größten Auseinandersetzungen in der Regel gar nicht mit äußeren Antagonist:innen, sondern im Inneren des Selbst stattfinden. Schon allein deshalb, weil der “Feind” viel schneller erkannt werden kann als das “Ich”. Le Guins Geschichten bieten Auswege an, die keine Siege sind, sondern ein Verstehen.

“I know that there is only one power that is real and worth the having. And that is the power, not to take, but to accept.” – Ich weiß, dass es nur eine Kraft gibt, die wirklich und es wert ist, sie zu haben. Und das ist die Kraft, nicht zu nehmen, sondern zu akzeptieren.

Bisschen viel Tao für einige vielleicht, aber tausendmal besser, als die Bonbon-Bürokratie der Potter-Bücher, wo am Ende alle Jungs ihre Mädchen bekommen und das bei Geburt zugesprochene Geschlecht nebst zugehöriger Organe artig durchs Leben tragen. Irgendwie lustig auch, dass man sich zwar einen Bahnsteig zwischen 9 und 10, aber kein Geschlecht jenseits von 0 und 1 vorstellen kann.

Als Leser jedenfalls gestatte ich mir davon auszugehen, dass Le Guins Ged aus Earthsea nicht nur seine Schöpferin lange überleben wird, sondern auch Harry Potter und JK Rowling. Letztere verkauft halt ein Buch über einen Jungen, der auf eine Zauberschule geht.

Ursula K. le Guin aber hat vom wirklichen Leben geschrieben. Das ist doch auch was schön Nachhaltiges.

im Bild oben: Hanami in Treptow

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