Der Hölle Rache

Zur Oper gekommen bin ich mit knapp 30 Jahren. Es war nicht das Interesse am Musiktheater, was mich dahin brachte, sondern Geld. Als Aushilfe in der Bühnentechnik, als Kulissenschieber also, hatte ich dann über ein paar Jahre Gelegenheit, mich bezahlt durch den Kanon zu hören und an vorderster Front die These bestätigt zu sehen, dass es sich bei der Oper um eine erstarrte Kunstform handelt, die zwar eine lange Vergangenheit, aber wohl kaum eine nennenswerte Zukunft haben könnte.

Die Staatsoper in Berlin gab (gibt?) sich aber auch wirklich kaum Mühe, irgendwie innovativ aufzufallen. Die hauseigenen Inszenierungen, die ich so sah, waren alle sehr konventionell, sehr gefällig noch dazu. Das war schon die passende Begleitung während nebenan das Kommandantenhaus von Bertelsmann mit pseudo-historischer Fassade hingeklotzt wurde, so wie später das unsägliche Stadtschloss. Diese ganze Guido-Knopp-Architektur fand seine Entsprechung in den bombastischen Bühnenbildern. Die beiden spannendsten Inszenierungen die ich dort sah, waren dementsprechend Gastspiele, eines von Sasha Waltz, eines von Robert Wilson.

Und doch ist da etwas passiert mit mir. Des großen Luxus’, so oft die Staatskapelle hören zu können, war ich mir von Anfang bewusst. Auch wenn ich nichts in Bühnennähe zu tun hatte, nutze ich deshalb Vorstellungsschichten, um möglichst die ganzen Opern zu hören, statt im Casino zu versumpfen.

Hyperpopulär war zu der Zeit die Zauberflöte in der Everding-Inszenierung mit dem „Orginal“-Schinkel-Bühnenbild. Das ist das mit dem legendären Sternenhimmel, vor dem die Königin der Nacht singt. Ich weiß nicht mehr, wer in meiner Zeit dort die Königin gegeben hat, aber das war die Sängerin, deren Stimme einmal durch mich hindurchgefahren ist und die sich wie eine eiskalte Hand um meine Wirbelsäule legte. Da ergreift mich noch immer ein Schauer, wenn ich dran denke. Ich habe der Hölle Rache so oft in ihrem Herzen nicht einfach nur kochen gehört, sondern auch gespürt – nicht schlecht für eine erstarrte Kunstform.

Jahrelang habe ich nach einer Aufnahme gesucht, die auch nur einigermaßen nahe an diese Erfahrung ran kam. Nach vielen nicht überzeugenden Versuchen schien mir letztlich eine Einspielung von Diana Damrau ein hinreichender Näherungswert zu sein. Es ist eben doch etwas anderes, ob man am Bühnenrand, wenige Meter von der Diva entfernt von ihrer Aura eingefangen wird oder die Sache aus der Konserve kommt. Da geht halt immer etwas verloren, dachte ich. Dafür kommt bei Damrau übrigens immer noch mächtig was rüber.

Vor ein paar Tagen, es war so ein Rabbit-hole-Moment, in dem man kurz davor ist, dass gesamte Weltwissen via Wikipedia zu inhalieren, las ich den Eintrag zur zweiten Arie der Königin der Nacht. Dort wird unter Trivia erwähnt, dass das Stück eines der Tondokumente sei, die mit den Voyager-Sonden über die Grenzen des Sonnensystems ausgesandt wurden. Und zwar in einer Aufnahme von Edda Moser mit dem Orchester der bayerischen Staatsoper.

Kann man sich ja mal anhören, dachte ich.

„Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“ – Moser packt nicht einfach nur mit der eiskalten Hand zu, nein, ein druckvolles blau-züngelndes Feuer verzehrt alles in ihrer Reichweite. „Tod und Verzweiflung flammet um mich her!“ Was da aus den Lautsprechern kommt, ist genau das. Tod, Verzweiflung, Flammen. Schon beim ersten Mal Hören dachte ich, dass sie allein mit furchtbarer Wut das Orchester vor sich hertreibt und fragte mich, was eigentlich der Dirigent von Beruf ist. „Verstoßen sei auf ewig“.

Ja, und dann liest man zur Entstehung der Aufnahme, dass Edda Moser 1972 bei Ankunft in München erfuhr, dass die Frau des Dirigenten Sawallisch (aus welchen Gründen auch immer) veruchte, sie aus der Produktion zu drängen. Der Produzent setzte sich in Mosers Interesse durch und Sawallisch ließ ihr dann im Studio die Wahl, welche Arie zuerst eingespielt werden solle. Sie wählte Nummer zwei. One-take-Aufnahme. In der Tat Stoff für die Sterne.

Berühren und berührt werden können. Wut scheint eine recht nachdrückliche kreative Kraft in Bewegung zu setzen, denke ich immer öfter. Zumindest dann, wenn sie wie ein Laserstrahl gebündelt jeden Panzer durchbrennt. Ich jedenfalls spreche da sehr gut drauf an.

im Bild oben: Erstarrt und doch irgendwie dynamisch.

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Feuer

Wann haben Sie das letzte Mal im Theater gesessen und mit den Tränen gekämpft? Und verloren? Mir ist das vor zwei Jahren passiert und da musste ich grad wieder dran denken.

Aber von vorne.

„Ableismus“ – das klingt schon sehr nach akademischem Jargon. Es ist eben schwer, die Dichte solcher Vokabeln in verständlichere Übertragungen zu transportieren. Und wenn, dann werden das auch gerne mal Wortungetüme, die einfach nicht praktikabel und letzlich genauso unverständlich sind. „Fähigkeitsideologie“ befindet sich für mich grad noch diesseits der Grenze zum unbenutzbaren und stellt mE in dieser Übersetzung die Kritik am Ableismus gleich ganz gut mit aus.

Kennengelernt habe ich dieses Wort beim Blättern durch die halbwegs neu erschienene Geschichte des inklusiven Theaters Hora aus Zürich (dort zitiert nach Jana Zöll). Aufmerksam geworden war ich auf das Buch mit dem schönen Titel „Je langsamer, desto schneller“ durch eine Rezension in der taz. Das Theater aber hatte ich vorher schon erlebt. Leider erst einmal, vor zwei Jahren eben, in Frankfurt/Main zum Festival Politik im Freien Theater. Dabei bringt Hora seit mehr als dreißig Jahren Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen auf die Bühne, gilt als Musterbeispiel des postdramatischen Theaters, tourt immer wieder um die halbe Welt, sahnt Preise ab und so weiter, und so weiter. Hätte man auch eher schonmal anschauen können.

Na jedenfalls: Das Hora Theater auf der großen Bühne im Frankfurter Schauspielhaus zu erleben, war für mich ein großer Glücksfall, unglaublich spannend und berührend.

„Es war keinmal oder das Märchen von der Normalität“ heißt das Stück, eine Kooperation mit dem feministischen Performancekollektiv Henrike Iglesias. Die Schauspieler*innen erzählen darin von der Welt, wie sie ist und wie sie sein könnte, oder auch sein sollte. Es geht um Zurücksetzung und Selbstbehauptung, verliebt sein, Erwartungen, Enttäuschungen, Tanzen, Traurigkeit, Lebensfreude. Einmal quer durch die ganze Bandbreite menschlicher Erfahrung.

Und an einer Stelle erzählt eine Darstellerin vom angegafft und angefeindet werden im Bus oder in der Tram. Sie steht da, allein, vorne auf dieser riesigen, ziemlich spartanisch ausgestatteten Bühne und erzählt, wie sie das alles nervt und verletzt, beschreibt so eine hässliche Szene und schließt (ungefähr in diesem Wortlaut und jenem Schweizer Sound): „Und dann hab ich Feuer gespuckt und bin nach Hause geflogen.“

Dieser Satz hat mich über Monate verfolgt. Bis heute hallt der nach. Dieser gewaltige Traum von Autonomie, von Souveränität, wie immer man das nennen will, hatte mich kalt erwischt und wie eine Kanonenkugel umgehauen. Da stemmte sich jemand mit aller Kraft gegen die Wände um sich herum. Für einen Moment konnte ich mich da wiedererkennen in der jungen Frau auf der Bühne. Seitdem ist mir wieder klarer, was ich mir von Kunst wünsche, Theater zumal. Egal, ob post-diesdas oder klassisches deutsches Sprechtheater: Da stehen lebende Menschen, tun und erzählen irgendwas. Ich möchte die spüren können. Alles andere ist Netflix.

Das liegt selbstverständlich nicht nur an denen da oben. Ich glaube, an jenem herbstlichen Nachmittag in Frankfurt ist mir nochmal sehr bewusst geworden, bewusster vielleicht als je zuvor, dass das eine gegenseitige Abmachung, eine Verschwörung ist, über die Rampe hinaus zwischen Bühne und Parkett. Beide Seiten müssen das wollen und können (und meine Fresse, können und wollen die Horas das). Selbst dann wird es nicht immer funktionieren, aber ohne den Versuch scheint es mir gänzlich sinnlos zu sein.

Vielleicht ist das auch die eine Fähigkeitsideologie, die man gelten lassen könnte: das Vermögen zu berühren und sich berühren zu lassen. Das immer wieder aufs neue angehen können, nicht aufgeben, Feuer spucken.

im Bild oben: Ein Schnappschuss, getätigt beim Auftauchen aus dem Frankfurter Untergrund.