Boß kein Neid

Zwischenzeitlich hatte ich das für mich folgendermaßen sortiert: Als ich P. das erste Mal begegnete, damals in den 90ern, da sah er wirklich extrem gut aus. In späteren Jahren dann eher so, als ob es ihm sehr gut ginge. Aber während ich so auf der Straße saß, zwischen lauter jungen Antifas, die diesen wirklich gut erhaltenen Fuffziger mit vollem Haar anhimmelten, da hörte ich auf, mich anzulügen. P. hatte mir einfach einiges voraus. Und dann noch ein bisschen mehr.

Als Anwalt ist er seiner Sache treu geblieben und berichtete von der Bühne auf der Demo zum Sonnenblumenhaus von seinem Erleben dreißig Jahre zuvor. Relativ kleinteilig schilderte er die Scharmützel um den Versuch, die Nazis aufzuhalten.

Die Absicht, gleich am Anfang die Straße zu übernehmen. Das Pogrom zu beenden, bevor es überhaupt richtig losging. Das Hinundher zwischen den beteiligten Gruppen, die Inkonsequenz. Das Ergebnis ist bekannt. Irgendwann, ich fing tatsächlich beinahe an, mich zu langweilen, unterbrach P. selber seine detaillierten Schilderungen: „Aber warum erzähle ich das alles?“

Während ich grade noch dachte: „Ja genau, warum erzählst du das?“, musste ich mir erläutern lassen, wie wenig, zumindest nach P.s Einschätzung, gefehlt hatte zu einer Situation, in der von Lichtenhagen ein ganz anderes Signal ausgegangen wäre. „Entschlossen und verantwortungsvoll“. Das war sein Mantra, mit dem er die Möglichkeit und daraus folgend die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns beschrieb.

Da wurde mir bewusst, dass P. sich tatsächlich als Subjekt der Geschichte sieht. Nicht in narzisstischer Selbstüberhöhung, sondern als Grundvoraussetzung politischer Arbeit. Einfach die Gewissheit, dass sein Handeln (im Konzert mit anderen selbstverständlich), den Lauf der Dinge entscheidend ändern kann. Keine Spur Nihilismus.

Ich hatte bisher nicht die Gelegenheit, ihn zu fragen, ob das intuitiv funktioniert oder ein bewusst gewählter Weg ist, mit der Resignation umzugehen, die ja auch er gelegentlich spüren muss. Eine Handhabe für die Angst, die eigene und die der Menschen, die er zu ermutigen sucht. Ich möchte glauben, dass man damit glücklicher sein kann. Und zielstrebiger.

Es hat noch eine ganze Weile – Jahre geradezu – gedauert, bis mir aufging, dass P.s Herangehensweise ihn ja zuallererst zum Subjekt seiner eigenen Geschichte macht. Das was er tut, nicht das was andere ihm antun, ist das was ihn definiert. Kein Opfer.

Ja selbstverständlich sieht der besser aus. Ist keine Frage der Frisur, ist eine der Haltung. Und da bin ich gleich gar nicht mehr neidisch. Denn das kann ich auch hinkriegen. Sofort Morgen. Bestimmt.

im Bild oben: lauter gut aussehende junge Menschen

Winterfest

Das Faszinierende an politisch motivierter Repression ist, wie unbemerkt sie oft stattfindet. Ich glaube es ist in der allgemeinen Öffentlichkeit gänzlich unbekannt, erstens mit welcher Härte die Polizei schon immer gegen alles Linke (vermeintlich „linksextremistische“) vorgeht und zweitens, welche Ausmaße das auch im weiteren Umfeld der eigentlichen Zielpersonen annehmen kann. Der Verfolgungsdruck steigt ja ins geradezu Unermessliche, wenn kriminelle oder terroristische Vereinigung unterstellt wird. Umso verdienstvoller ist, dass die taz gelegentlich Raum gibt für eine etwas ausführlichere Berichterstattung.

Die Tage erst erschien ein recht breit angelegtes Stück über die völlig überzogenen Maßnahmen bezüglich des Budapest-Antifa-Komplexes. Obacht beim Lesen, schon der Einstieg ist recht grafisch. Bezüge werden auch zur Klimabewegung hergestellt, deren Aktive ja ebenfalls einer Kriminalisierung ausgesetzt sind, die in keinerlei Verhältnis steht zu den jeweiligen Aktionsformen.

Was besonders erschreckt, sind die angedeuteten Ermüdungs- und Resignationserscheinungen. Leipzig zum Beispiel: „Menschen, die sich vorher grüßten und guten Kontakt hatten, taten plötzlich so, als würden sie sich nicht kennen.“ Diese unter dem Druck sich verstärkende Vereinzelung ist ja das genaue Gegenteil dessen, was man sich als Reaktion wünschen würde. Aber so ist das leider, wenn schon die lose Bekanntschaft zu bestimmten Personen genügt, um dergestalt ins Visier zu geraten, dass man sich mal 4.30 Uhr morgens einer rabiaten Hausdurchsuchung gegenübersieht. Da wird Distanzierung jetzt nicht die völlig unverständlichste Vorbeugemaßnahme sein. Solidarität hat ihren Preis – und man sollte vorsichtig mit dem Urteil darüber sein, welche Gründe den gegebenenfalls zu hoch erscheinen lassen. Die Perspektive wird ja auch nicht unbedingt besser.

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Ein sehr interessantes Gespräch mit Jeanette Hofmann, Professorin für Internetpolitik an der FU Berlin, hat das Weizenbaum-Institut veröffentlicht. Ganz ohne Umschweife ordnet sie den ganzen Desinformations-Kladderadatsch als das ein was es ist: Politisches Handeln zur Mobilisierung und nicht primär ein Werkzeug zur Manipulation: „Die offen zur Schau getragene Gleichgültigkeit gegenüber dem Wahrheitsgehalt von Informationen ist […} weniger Unkenntnis als eine politische Verortung. Und die Idee des Fact-Checking oder De-Bunkings übersieht diese Qualität.“

Dessen ungeachtet wird fleißig weiter gefactcheck und entlarvt. Manchmal wird vielleicht kurz innegehalten und sich gewundert, warum das so kunstvoll mit dem journalistischen Florett erlegte Lügenmonster immer wieder aufsteht. Aber irgendwie folgt nichts aus diesem Moment der Irritation. Man möchte eben weiterhin objektiv über den Dingen stehen. Manchmal frage ich mich, ob mein früherer Berufsstand die Welt, die er zu beschreiben vorgibt, je verstanden hat. Wenn ich an all die Gesprächsrunden und Konferenzen denke, erinnere ich mich vor allem an durch keinerlei Empirie begründbare Selbstgewissheit, die mir oft als Ausdruck von Hilflosigkeit erschien. Gelegentlich war sie sogar nur eine seltsame Bockigkeit gegenüber der von den gelernten Regeln abweichenden Realität.

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Dankbar sein kann ich mal wieder Frédéric Valin für einen Hinweis. Und zwar im nd auf auf „Das Schweigen meines Vaters“ von Mauricio Rosencof, erschienen bei Assoziation A. Obwohl bei den einschlägigen Medien recht breit rezipiert, wär mir das evtl. durchgerutscht. Der Tupamaros-Veteran und Dichter Rosencof nähert sich in der fragmentarischen Erzählung vor dem Hintergrund seiner eigenen barbarischen langjährigen Haft der Geschichte seiner aus dem polnischen Shtetl stammenden Familie. Der Vater, und etwas später Mutter und Bruder, waren noch einige Jahre vorm deutschen Überfall auf Polen ausgewandert. Die meisten Verwandten wurden ermordet.

Was mir neben all den Dingen, die Valin zum Werk bemerkt, noch sehr stark aufgefallen ist: die zärtliche Humanität die das Buch durchzieht. Das mag ein wenig kitschig klingen, aber mir leuchtet da immer wieder in Bildern von Verbundenheit und Widerstand eine tief empfundene Menschlichkeit entgegen. Die wiegt umso stärker, weil sie gegen die schonungslosen Szenen aus der Vernichtungsmaschinerie steht. Keine Sorge, das Buch halluziniert keine falsche Hoffnung im Angesicht von Auschwitz. Das Leben kann nicht schön sein, wenn es an die Rampe von Birkenau gezwungen wird.

So lange aber jemand erzählt – so erzählt wie Rosencof – ist das Leben immerhin noch hier.

Let’s dance

Die nachhaltigste Angst ist die, die sich körperlich manifestiert. Die den Weg in die Sehnen und Knochen gefunden hat und dort alles in Spannung hält. Angst, die im Gedärm rumort, noch bevor du ihr einen Namen geben kannst. Oft sogar bevor du überhaupt merkst, dass sie schon wieder aus unbekannter Tiefe nach oben treibt, dir den Appetit verdirbt, den Schlaf raubt, die Luft abschnürt.

Das Gemeine an der latenten Gewalt der Straße, das was sich einschreibt in jede deiner Zellen, ist nicht unbedingt ihr konkreter Ausbruch, das Erlebte also, sondern ihr Potential, das Künftige. Jaja, ich bin schon wieder in den 90ern. Das kommt daher, dass die partout nicht aufhören wollen.

Ich schrecke weiterhin davor zurück, allzu konkret über Angst zu schreiben. Das hat weniger mit der Sorge vor Retraumatisierung oder so etwas zu tun, und auch nicht nur mit dem Unbehagen gegenüber der Opfererzählung. Da kommen noch zwei etwas anders gelagerte Abwägungen hinzu. Da wäre zunächst die Frage von Privatheit und Sicherheit. Wieviel kann ich preisgeben, ohne die eigene Verletzlichkeit anderen als Waffe in die Hand zu geben? Außerdem bin ich gehemmt, weil ich fürchte einer Ästhetisierung anheimzufallen, die der Sache unangemessen ist. Gemeint ist: Ich möchte mir meine blutige Nase nicht schönschreiben.

An Manja Präkels‘ Texten zum Beispiel schätze ich besonders, dass es ihr in allen die ich bisher gelesen habe gelingt, die Ästhetisierung zu vermeiden. Jedoch habe ich mich bislang auch nicht getraut, „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ anzufassen. Ich kann überhaupt nicht sicher beantworten, welche Angst da schon wieder rumlungert. Die davor, dass es zu schön ist? Na, ich denke, in den kommenden ein-zwei Monaten muss da mal ein Knoten durchgeschlagen werden.

Mehr Vertrauen!

Es gibt vielleicht noch ein Drittes und das ist die Frage der Relevanz. Selbstverständlich weist die Erzählung jener Angst im Prinzip über das individuelle Erleben hinaus. Aber ist es jeweils gut genug gebaut, um nicht einfach nur Therapie vor Publikum zu sein? Autobiografisches und autofiktionales Erzählen sind ja derzeit fast der Goldstandard des öffentlichen Schreibens, da lassen sich genug misslungene Beispiele finden. Es sollte eben nicht darum gehen, eine voyeuristische Terrorlust zu bedienen. Aber worum geht es denn dann?

„Übernehmen Sie ruhig die Aufgabe einer Teilfunktion, die aber versorgen Sie genau …“ Dieses Mantra verfolgt Fühmann in „22 Tage“. Und letztlich ist das die Auflösung: Die eigene Geschichte zu erzählen ist die einzige Teilfunktion die sich wirklich genau erfüllen lässt. Das sagt noch nichts über die Form aus, aber zu malen fang ich halt nicht mehr an und meine Gedichte sind ein Rotz. Es bleibt die Prosa, als Ausweichmedium das Journalistische. Nur dauerhaft drücken kann ich mich nicht mehr.

Wenn die Angst doch so dringend zum Tanz bittet, ist die entscheidende Frage also nicht die danach, wo der nächste Ausgang zu finden ist, sondern: „Wer führt?“

im Bild oben: Dancing Queen

Lichtenhagen und ich – Episode IV

Im Moment krieg ich jede Geschichte auf Fascho gedreht. Das liegt nicht nur daran, dass die halt auch überall sind, wenn man genauer hinschaut. Nein was mich umtreibt, ist etwas anderes. Jahrzehntelang habe ich es vermieden, über Nazis im allgemeinen und die sogenannten Baseballschlägerjahre im besonderen zu schreiben. Hie und da eher widerwillig was kleines, aber nach Möglichkeit nix. Dieser Tage jedoch kann ich kaum einen Gedanken formulieren, in dem es nicht irgendwo rumhitlert. Also, what’s up?

Schon immer bin ich fasziniert von Menschen, die sich an alles mögliche aus ihrer, auch frühen, Kindheit erinnern. Die kennen sogar noch die vollen Namen ihrer Spielgefährt*innen im Kindergarten. Völlig unklar. Ich bekomme aus dem Vorschulalter bis auf ein-zwei Fetzen gar nichts zusammen. Aber auch aus späterer Kindheit/früher Jugend ragen nur extrem wenige Inseln aus einem Nebelmeer des Vergessens.

Die Kindheit in jenem unmöglichen Land zugebracht zu haben, verdunkelt ja sowieso einiges. Erinnerung an die DDR ist recht häufig Klischee und Langeweile. Das ist es vielleicht, was mich an Mehlis, Hauswald oder auch Klöppel zunehmend interessiert. Wie über deren Bilder doch noch einmal eine andere Geschichte erzählt wird, als die von Stasi, Spreewaldgurken und FKK.

Meine Geschichte sehe ich da noch nicht unbedingt, aber immerhin. Neben dieser ganzen abgeschmackten Super-Illu-Sentimentalität die das DDR-Bild der Leute, die ja selber dabei gewesen waren, zu dominieren scheinen, steht aber noch etwas anderes schier unüberwindlich in der Sicht, zumindest in meiner: das brennende Sonnenblumenhaus.

Jede Erzählung der DDR (und damit meiner Kindheit) aus heutiger Sicht funktioniert nur in Kenntnis ihres unrühmlichen Endes und ihrer Nachspielzeit, der Pogrome der frühen 1990er. Die ostdeutschen Baseballschläger sind narrativ (you gotta love your vocabulary) untrennbar verwoben mit den vierzig Jahren davor. Wie sollte es auch anders sein. Neben den Verbrechen jener Zeit und der Zerstörung so vieler Leben, nicht nur der Ermordeten, haben die Faschos so aber noch etwas kaputt gemacht, die Erzählung vom Leben selber nämlich.

Die Ungeheuerlichkeit des damaligen Geschehens, die beiden Guerickeschen Halbkugeln aus Schmerzen und Angst haben den ganzen anderen Erinnerungen auf Jahrzehnte den Sauerstoff geraubt, sie vollständig in ihrem dunklen Vakuum erstickt. Vielleicht bin ich den Raritäten der DDR-dissidenten Literatur ja auch deshalb ein paar Jahre lang so nachgejagt, weil ich Botschaften aus einer Welt lesen wollte, in der eine andere Zukunft vorstellbar war als die mit der verwesungssüßen „Wir-hattens-doch-so-schön“-Klebrigkeit auf der einen und den Prügelnazis auf derselben Seite. Irgendwas wo ich glücklich sein könnte. Irgendwas ohne Brandgeruch.

Das machen Nazis, ob real oder metaphorisch: alles immerzu in Brand setzen. Wie banal werden die gewöhnlichen Erlebnisse einer gewöhnlichen Jugend vor dem Hintergrund der ständigen Bedrohung. An die Namen der Schläger erinnere ich mich übrigens noch recht gut (und nicht nur ich, wie ich beim 30-jährigen Klassentreffen in vergangenem Sommer feststellen durfte). Die haben den evolutionär geschulten Panikbutton aktiviert. Das Gesicht der Gefahr war anscheinend die wichtigste Information und die hat schon damals alles verdrängt. Die Namen und Gesichter der Sitznachbar*innen im Grundschulalter zum Beispiel.

Lichtenhagen ist nicht der Schlüssel zu meiner Erinnerung, Lichtenhagen ist das in schweren Ketten liegende Schloss davor. Schreiben ist eventuell ein Schlüssel. Einer, dem ich mich lange verweigert habe, weil es nicht sonderlich schön ist, sich einzugestehen, dass das eigene Leben, Fühlen und Denken so massiv beeinflusst ist von denen. Bloß kein Opfer sein.

Es ist ja schon unter normalen Umständen ein immer wieder empörender Zustand, welche Impulse aus tiefster Vergangenheit in ein erwachsenes Dasein hineinwirken. Wie schwer es ist, das erstens zu sehen und sich zweitens davon zumindest in Teilen frei zu machen, ist bekannt. Millionen an irgendwelchen blöden Eltern abgearbeitete Therapiestunden senden Urlaubsgrüße aus der Hölle. Kindheitsmuster, Ödipus und was nicht alles, ok, heilen sie mich, Frau Doktor. Aber Faschos? Echt jetzt? Ich will nicht drüber reden.

… to be continued (ganz offensichtlich)

oben im Bild: Mecklenburger Allee 19 in Rostock-Lichtenhagen

Muskelgedächtnis

Das Gespräch war erbaulich gewesen. Ein Wiedersehen nach langer Zeit. Abgleich und Austausch. Erwachsene Routine beim Füllen der Lücken. Samtene Übereinkunft darin, welche Fragen offen bleiben können. Es gibt so Vieles, das im Vagen bleiben muss mit den Vielen, die wir viel zu selten treffen. Wie geht’s denn sonst so? Ach, muss ja.

Also lieber in die Zukunft geschaut. Wir vergleichen die Erwartung an das kommende Jahr. Die politischen Erwartungen, ohje. Was will man denn noch wissen von diesem Land? Welche Geschichten sollen uns noch was erzählen, das nicht längst bekannt wäre? Es ist doch allen klar, was und wer da kommt. Chronistenpflicht, schön und gut, aber darüber hinaus?

Und dann werden wir zügig einig, was wir doch noch hören möchten. Lernen wollen wir von denen, die sich weiterhin dagegen stemmen. Von jenen, die die Verhältnisse nicht als unveränderbar hinzunehmen bereit sind. Eines vor allem will man wissen: Woher zieht ihr eure Kraft?

Eine gute Fragestellung, nicht wahr.

Da träume ich gleich von bewegenden, ermutigenden, und mitreißenden Antworten. Bin ganz beseelt von meiner Fantasie. Allein das powert mich ganz schön hoch.

Erzähle überall gerührt davon. Auch J., schon lange tätig im zivilgesellschaftlichen Bereich, mit guten Kontakten in die Fläche. „Jaja, wir haben die Einrichtungen vor Ort befragt. Einmal, was so auf sie zukommt, angesichts der neuen Mehrheiten, dann woher sie noch ihre Kraft schöpfen, und zuletzt was sie konkret an Hilfe gebrauchen könnten. Die zweite Frage wurde von den meisten übergangen. Einfach nicht beantwortet.“

Einfach nicht beantwortet.

Lassen wir das sacken. Wie so viele nur noch Phantomstrom auf den Batterien haben. Und wenn auch der verflackert ist, geht es trotzdem weiter. Nur nicht denken an den Abgrund, der an jeder Faser, jedem Muskel zieht.

Das wäre vielleicht das zeitgemäße Held*innenepos: eine Geschichte dauerhafter Erschöpfung im Kampf gegen ein Monster, das gierig Unzählige verschlingt. Obwohl das ja in gewisser Weise auch Teil des traditionellen Epos ist. Nur, dass wir für gewöhnlich nicht mit den Verlierern und Verlorenen, sondern auf dem Rücken der Recken reisen, die am Ende strahlen.

Klar, die gute Nachricht ist: Das Monster wird zum Schluß immer besiegt. Das lehren uns die Geschichten. Die Frage ist, zu welchem Preis und wer den Preis bezahlt. Die Knochen der unterwegs Geschlagenen sind zwar häufig präsent in der Erzählung. Aber mehr als Kulisse am Wegesrand, Warnung vor Unvorsicht und Überheblichkeit zum Beispiel.

Was aber, wenn die vielen früh Gefallenen gar nicht hochmütig waren. Sondern einfach nicht mehr wussten, woher sie noch Kraft ziehen sollten und schließlich der Gewalt der Gravitation erlagen. „Es ist die alte Geschichte von Dornröschen: Hunderte Ritter mußten elend im Gestrüpp krepieren, und vor dem einen, dem letzten dann öffnete sich das Tor“, schreibt Franz Fühmann (22 Tage). Aber mussten sie wirklich? Und viel wichtiger, müssen sie immer und immer wieder?

Woher also nehmen wir die Kraft? Aus dem Wissen, dass nicht alles naturgesetzliche Unabänderlichkeit ist, auch wenn es sich bisweilen so anfühlt. Geschichte wird schließlich immer noch gemacht. Das ist keine Drohung. Ganz im Gegenteil.

Reicht diese Erkenntnis aber für die Energiezufuhr? Ach, muss ja. Für den Anfang zumindest. Und für den Fortgang weniger Vagheiten vielleicht; dafür mehr Treffen, Gespräche, Austausch und Abgleich.

Im Bild oben: Das letzte was hundert Ritter sahen.

Zeitreisen

Kein Vergeben, kein Vergessen? Jetzt sind es schon wieder zwei Jahre, seit ich das letzte Mal beruflich mit Lichtenhagen beschäftigt war. Die großen Aufschläge, Reden und Demonstrationen sind halt den runden Jubiläen vorbehalten. Alle fünf oder 10 Jahre wird gewogen und präsentiert. Dazwischen aber liegen die kleinen Stiche, die bewussten und unbewussten Verschiebungen der Einschätzung, die Änderung der Umstände, im besten Falle neue Erkenntnisse und Ideen, die in der Summe wieder neue Reden und Aufsätze ergeben.

Insofern sind die Ereignisse derer gedacht wird, nie vorbei. Sie werden durch die Beschäftigung Teil der jeweiligen Gegenwart, beeinflussen sie in die eine oder andere Richtung und verändern damit mögliche Zukünfte. Das täten sie aber auch dann, wenn man sich der Konfrontation verweigert. So hat das ganze Erinnern und Aufarbeiten bekanntermaßen noch einen weiteren Sinn: als Schlüssel zur vorgefundenen Gegenwart nämlich.

Es gibt diesen Satz bei Ursula K. Le Guin. In „The Dispossessed“ (eine Auswahl der deutschen Verleihtitel: „Planet der Habenichtse“, „Die Enteigneten“, „Freie Geister“) heißt es: „But when Shevek took her metaphor and recast it in his terms, explaining that, unless the past and the future were made part of the present by memory and intention, there was, in human terms, no road, nowhere to go, she nodded before he was half done.“*

Shevek, die Hauptfigur des Buches, beschäftigt sich mit einer Theorie der Zeit, die in der Geschichte des Hainish-Universums ein noch fehlendes Element hin zur Möglichkeit des Reisens in Überlichtgeschwindigkeit darstellt. Besonders wichtig ist dabei das Konzept der Simultaneity, der Gleichzeitigkeit (ungefähr). Le Guins Gedankenexperiment einer anarchistischen Gesellschaft erhält dadurch zusätzliche Tiefe in philosophischen (die missgünstigen Antagonisten Sheveks würden sagen: „esoterischen“) Betrachtungen zu Zeit, die wiederum auf den Sinn des Lebens und dessen Verlauf angewendet werden. Fragen von Schicksal und Selbstbestimmtheit, Ungewissheit und Kontrolle die sowieso immer wieder auftauchen im Hainish-Zyklus, werden ohne große Bemäntelung direkt verhandelt. Solche Science Fiction bedarf eventuell keiner weiterer Verschlüsselungen, vor allem dann nicht, wenn sie sich schon plausibel auf fremden Planeten bewegt und mit der Technologie zur Überbrückung des unendlichen Raumes zwischen den Welten befasst.

Dass die Gegenwart -jetzt- ist, erschließt sich dabei von selbst. Dass Vergangenheit und Zukunft aber gleichzeitig in dieser Gegenwart sind, als Bedingungen und Teil untrennbar mit ihr verbunden, ist eben keine esoterische Metaphorik, sondern von drängender politischer Aktualität. Das gilt für den Planeten der Habenichtse genauso wie für diesen. Antifaschismus ist die Verkörperung dieser Gedanken, da er wie kaum eine andere politische Idee, zwangsläufig Zeit transzendiert, sowohl in der Theorie, als auch in der Praxis. Antifaschismus ist der feste Punkt im Heute, an dem sich Vergangenheit und Zukunft als Warnung und Versprechen treffen.

Wer hingegen den Schlussstrich ziehen will, schneidet sich nicht nur von der Vergangenheit ab, sondern auch und vor allem vom Heute. Die Zukunft kann unter diesen Bedingungen nur als unabwendbare Apokalypse gedacht werden. Wenn du sagst: „Das ist doch alles lange her jetzt.“, weiß ich, wie unleugbar gegenwärtig es ist. Wenn du sagst: „Nach mir die Sintflut“, weiß ich, dass du längst ertrunken bist. Die Erinnerung, an die Verbrechen des Faschismus zum Beispiel, oder an Lichtenhagen, an Hanau, ist der Rettungsring. Wer den ausschlägt, stellt sich absichtlich auf die Seite derer, denen nie vergeben werden kann. Nicht gestern, nicht heute, nicht morgen.


*In der deutschen Übersetzung von Gisela Stege: „Als Shevek jedoch ihre Metapher nahm und sie ein wenig umformte, ihr erklärte, wenn man Vergangenheit und Zukunft nicht durch Erinnerung und Planung zum Bestandteil der Gegenwart mache, gebe es im menschlichen Sinne keinen Weg, kein Ziel, nickte sie, bevor er ausgesprochen hatte.“ [Ich würde „memory and intention“ an dieser Stelle statt mit „Erinnerung und Planung“ eher mit „Erinnerung und Absicht“ oder „Erinnerung und Streben“ übersetzen.]

oben im Bild: Das Dresdner Staatsschauspiel, ebenfalls mit einer Meditation über Zeit.