Zeitreisen

Kein Vergeben, kein Vergessen? Jetzt sind es schon wieder zwei Jahre, seit ich das letzte Mal beruflich mit Lichtenhagen beschäftigt war. Die großen Aufschläge, Reden und Demonstrationen sind halt den runden Jubiläen vorbehalten. Alle fünf oder 10 Jahre wird gewogen und präsentiert. Dazwischen aber liegen die kleinen Stiche, die bewussten und unbewussten Verschiebungen der Einschätzung, die Änderung der Umstände, im besten Falle neue Erkenntnisse und Ideen, die in der Summe wieder neue Reden und Aufsätze ergeben.

Insofern sind die Ereignisse derer gedacht wird, nie vorbei. Sie werden durch die Beschäftigung Teil der jeweiligen Gegenwart, beeinflussen sie in die eine oder andere Richtung und verändern damit mögliche Zukünfte. Das täten sie aber auch dann, wenn man sich der Konfrontation verweigert. So hat das ganze Erinnern und Aufarbeiten bekanntermaßen noch einen weiteren Sinn: als Schlüssel zur vorgefundenen Gegenwart nämlich.

Es gibt diesen Satz bei Ursula K. Le Guin. In „The Dispossessed“ (eine Auswahl der deutschen Verleihtitel: „Planet der Habenichtse“, „Die Enteigneten“, „Freie Geister“) heißt es: „But when Shevek took her metaphor and recast it in his terms, explaining that, unless the past and the future were made part of the present by memory and intention, there was, in human terms, no road, nowhere to go, she nodded before he was half done.“*

Shevek, die Hauptfigur des Buches, beschäftigt sich mit einer Theorie der Zeit, die in der Geschichte des Hainish-Universums ein noch fehlendes Element hin zur Möglichkeit des Reisens in Überlichtgeschwindigkeit darstellt. Besonders wichtig ist dabei das Konzept der Simultaneity, der Gleichzeitigkeit (ungefähr). Le Guins Gedankenexperiment einer anarchistischen Gesellschaft erhält dadurch zusätzliche Tiefe in philosophischen (die missgünstigen Antagonisten Sheveks würden sagen: „esoterischen“) Betrachtungen zu Zeit, die wiederum auf den Sinn des Lebens und dessen Verlauf angewendet werden. Fragen von Schicksal und Selbstbestimmtheit, Ungewissheit und Kontrolle die sowieso immer wieder auftauchen im Hainish-Zyklus, werden ohne große Bemäntelung direkt verhandelt. Solche Science Fiction bedarf eventuell keiner weiterer Verschlüsselungen, vor allem dann nicht, wenn sie sich schon plausibel auf fremden Planeten bewegt und mit der Technologie zur Überbrückung des unendlichen Raumes zwischen den Welten befasst.

Dass die Gegenwart -jetzt- ist, erschließt sich dabei von selbst. Dass Vergangenheit und Zukunft aber gleichzeitig in dieser Gegenwart sind, als Bedingungen und Teil untrennbar mit ihr verbunden, ist eben keine esoterische Metaphorik, sondern von drängender politischer Aktualität. Das gilt für den Planeten der Habenichtse genauso wie für diesen. Antifaschismus ist die Verkörperung dieser Gedanken, da er wie kaum eine andere politische Idee, zwangsläufig Zeit transzendiert, sowohl in der Theorie, als auch in der Praxis. Antifaschismus ist der feste Punkt im Heute, an dem sich Vergangenheit und Zukunft als Warnung und Versprechen treffen.

Wer hingegen den Schlussstrich ziehen will, schneidet sich nicht nur von der Vergangenheit ab, sondern auch und vor allem vom Heute. Die Zukunft kann unter diesen Bedingungen nur als unabwendbare Apokalypse gedacht werden. Wenn du sagst: „Das ist doch alles lange her jetzt.“, weiß ich, wie unleugbar gegenwärtig es ist. Wenn du sagst: „Nach mir die Sintflut“, weiß ich, dass du längst ertrunken bist. Die Erinnerung, an die Verbrechen des Faschismus zum Beispiel, oder an Lichtenhagen, an Hanau, ist der Rettungsring. Wer den ausschlägt, stellt sich absichtlich auf die Seite derer, denen nie vergeben werden kann. Nicht gestern, nicht heute, nicht morgen.


*In der deutschen Übersetzung von Gisela Stege: „Als Shevek jedoch ihre Metapher nahm und sie ein wenig umformte, ihr erklärte, wenn man Vergangenheit und Zukunft nicht durch Erinnerung und Planung zum Bestandteil der Gegenwart mache, gebe es im menschlichen Sinne keinen Weg, kein Ziel, nickte sie, bevor er ausgesprochen hatte.“ [Ich würde „memory and intention“ an dieser Stelle statt mit „Erinnerung und Planung“ eher mit „Erinnerung und Absicht“ oder „Erinnerung und Streben“ übersetzen.]

oben im Bild: Das Dresdner Staatsschauspiel, ebenfalls mit einer Meditation über Zeit.

Spaziergang zwischen gestern und morgen

Mit P. über diese eigenartige Romantisierung des Begriffs Manufaktur ausgetauscht. Beim Spaziergang durch Neukölln waren wir an der Blutwurst-M. vorbeigekommen die mein Unbehagen gleich doppelt verkörpert. Sicher, Leute die Blutwurst mögen, schwören auf diesen Hersteller, mir aber sagt das überhaupt nicht zu. Das ist schon so seit meiner ersten Bekanntschaft mit dem rotgrauen Brei in der DDR-Schulspeisung. Verkehrsunfall war noch einer der freundlicheren Namen für die widerliche Hämoglobingrütze.

Im Unterricht hatte ich derweil gelernt, dass die Manufaktur der durchaus kritisch zu bewertende Anfang der Industrialisierung war. Durch die zunehmende Ausdifferenzierung der einzelnen Arbeitsschritte im Produktionsprozess war das eine wichtige Triebkraft in der Entfremdung der Produzent*innen von den Produkten ihrer Arbeit und eine Vorbedingung der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse. Statt Blut, Schweiß und Tränen scheint die Manufaktur heute aber eine Puppenstuben-Heile-Welt-Assoziation zu wecken, die sich ganz wunderbar zur Vermarktung dieser ganzen Fake-Landhaus-Ramschigkeit eignet. Echtholzmöbel von Zwangsarbeitern aus sibirischen Urwäldern geschlagen und am Ende dann doch ganz schnöde industriell verarbeitet, mit Blutwurst verschmiert gewissermaßen. Aber ich schweife ab.

Es soll ja um Spaziergänge gehen.

Ein Spaziergang durch den Treptower Park, hin zur Spree. Am Rosengarten Familien mit Kindern, die im Springbrunnen planschen. Je näher der Fluß kommt, umso voller wird es. Frisbees fliegen, Sonnenbäder werden genommen, ein Hauch von Strand, wenn auch ohne Badestelle. Dort, ein Paar mit echten Weingläsern. Bestimmt Grauburgunder. Alle sehen so glücklich aus. Über den Sommer bin ich zumeist im eignen Garten und nicht hier. So überrascht es mich dann doch immer wieder, wie viele Menschen es in den Park, an den Fluss zieht. War ja nicht mit zu rechnen…

Die Massen stören mich diesmal gar nicht. Die über Jahre fleißig gepflegte Misanthropie verfliegt in der Sonne, zerfließt am Wasser. Darauf ziehen Boote aller Größen ihre Runden. Obwohl, hier zwischen Stralau und Treptow bewegen sie sich recht gradlinig, streben einem Ziel zu, das mir verborgen bleibt. Am eigenartigsten sind die Stehpaddler*innen. Besonders die Solisten unter ihnen strahlen extreme Einsamkeit aus. Dabei weiß ich gar nicht zu sagen, was mir an deren Erscheinung so unglaublich disparat vorkommt.

Dabei geht es doch genau darum, dafür Worte zu finden. Für das Verborgene, das schwer zu Erklärende. Wozu sonst schreiben? Das Offensichtliche ist schon tausendfach gesagt. Ich habe keine Lust mehr. Ich will das nicht mehr lesen, ich will es auch nicht wiederholen. Deklamieren und Recht haben. Es sind beileibe genug Leitartikel geschrieben worden, vielleicht braucht es eher eine Umarmung. Eine Umarmung für die, die nicht von irgendeinem falschen Weg abgebracht werden müssen, sondern auf dem richtigen Weg angelegentlich verzweifeln.

Ein Gruß geht also hinaus an den einsamen Spaziergänger und ein Winken an die aufrechte Stehpaddlerin. Irgendwo die Spree entlang, gleich hinterm Plänterwald, ganz in der Nähe des Fährterminals Baumschulenstraße, fängt die Zukunft an. Ich warte dort auf euch.

oben im Bild: Am Neuköllner Richardplatz wird die Frage der Zukunft schon lebhaft an öffentlichen Wandzeitungen diskutiert

Außerdem: Ich versuche mich in Newsletter. Wenn Sie mögen, abonnieren Sie.