Schulden

Auf der Berlinale den Film „Die Möllner Briefe“ gesehen. Es geht dabei um die Geschichte von hunderten Beileids- und Solidaritätsbekundungen für die Opfer und Hinterbliebenen der Anschläge vom 23. November 1992. Mehr als 27 Jahre lagen die Briefe bei der Stadt Mölln und nur durch einen Zufall erfuhr die Familie Arslan von deren Existenz. Der Film begleitet vor allem Ibrahim Arslan, der als 7-jähriger von seiner Großmutter Bahide Arslan in ein nasses Handtuch gewickelt unter dem Küchentisch überlebte, dabei, wie er ausgewählte Absender*innen besucht, wie er die Verbindung hält zu den Familien die im Haus Ratzburger Straße ihre Existenzen und Wohnungen verloren hatten und wie er mit der Ignoranz deutscher Behörden umzugehen gelernt hat.

Zu sehen, wie präsent das Trauma mehr als 30 Jahre nach dem Verbrechen für die Familie ist, für die überlebenden Geschwister, die Mutter – das ist kein einfacher Stoff. Der Film ist dabei nicht voyeristisch, vermeidet auch die Ästhetisierung des Leids. Aber er ist schon sehr dicht dran.

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Ebenfalls mit den Hinterbliebenen rechtsextrem motivierter Morde beschäftigt sich „Das deutsche Volk“, der auch auf der Berlinale Premiere hatte. Darin gibt es eine Szene, in der Emiş Gürbüz, Mutter des am 19. Februar 2020 ermordeten Sedat Gürbüz, während einer ermüdenden Diskussionen mit Offiziellen aus Hanau, irgendwann abwinkend meint, dass man die Stadt ja vergessen könne. Daraus strickt einer der Verantwortlichen ihr gegenüber den Vorwurf, sie hätte gesagt, dass sie Hanau hasse, wie sie ja auch Deutschland hasse.

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„Sie müssen doch auch sehen…“

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„… auch nicht einfach für uns …“

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Als das in Hanau passiert ist, hat mich die Stadt Hanau angerufen und gesagt: »Wie können wir denn solidarisch und respektvoll mit den Betroffenen in Hanau eine Gedenkveranstaltung organisieren?« Ich habe gesagt: »Wieso fragen Sie da nicht die Betroffenen aus Hanau?« Ibrahim Arslan im Interview mit ak, 15.11.2022

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Die taz berichtet, dass die Hanauer Stadtregierung unzufrieden mit der Führung der Hinterbliebenen, insbesondere von Emiş Gürbüz, sei. Die hatte auf der diesjährigen Gedenkveranstaltung die Kritik an der Stadt Hanau erneuert. Außerdem soll sie auf der Premiere von „Das deutsche Volk“ gesagt haben, sie hasse Deutschland, Hanau und den Hanauer Oberbürgermeister.

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„…bei allem Verständnis für die Trauer…“

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Ibrahim Arslan hat über die Jahre wiederholt darauf bestanden, dass im Zentrum der Erinnerung an Mölln die Opfer und deren Angehörige stehen müssten, dass sie nicht Statisten einer offiziellen Inszenierung sein könnten. (siehe auch: Möllner Rede im Exil)

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Die [Hanauer] SPD-Fraktionsvorsitzende Ute Schwarzenberger erklärte zudem, sie wünsche „Frau Gürbüz die Kraft, ihren Hass zu überwinden, um sich künftig respektvoll zu äußern“. aus dem taz-Beitrag.

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Respekt

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Teil der Ausstellung „Three Doors“, 2022 im Frankfurter Kunstverein, die sich unter anderem mit den rassistischen Morden von Hanau befasste, der unmittelbaren Verantwortung von Polizei und Stadt, den Ermittlungsfehlern und Nachlässigkeiten, den Folgen des alltäglichen Rassimus, waren Videostatements der Hinterbliebenen im Raum der Initative 19. Februar Hanau. Emiş Gürbüz sagt dort: „Ich will mein Kind zurück.“ Das darf die Mutter wohl. Trauern. Der Satz davor ist es, der ausdrückt, was so viele nicht hören wollen: „Deutschland schuldet mir ein Leben.“

im Bild oben: Aufkleber, so gesehen 2022 in Frankfurt/Main. Peter Beuth war von 2014-2024 hessischer Innenminister.

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Smalltown Croatia

Keine Texte mehr, keine Threads. „Einfach nur eine unzusammenhängende Abfolge einzelner Seufzer, Schreie und Tobsuchtsanfälle.“ So ist es mir in einem frustrierten Moment die Tage rausgerutscht. Was soll man auch machen mit dem Trommelfeuer der schlechten Nachrichten. Schnell abgeschossene Meinungen gibt es im Dutzend an jeder Ecke und für eine ausgeruhte Motivationsrede habe ich schon vor zwei Wochen viel zu viel Kraft aufgewandt.

Tatsächlich bin ich deshalb nicht unglücklich, grad von den taz-Kolumnen eine kurze Auszeit nehmen zu können. Durchatmen. Dort kriegen die ihre Seiten auch ohne mich voll mit den ganzen Wahl- und Berlinale-Berichten. Und das Filmfestival kann ich auch an dieser Stelle hinzuziehen. Ich wohne ja in der Nähe.

„Zečji nasip“, ein kroatischer Jugendfilm hat es mir angetan. Die Geschichte ist jetzt nichts dramatisch neues. Eine Art „Smalltown Boy“, als Film halt. Die Exposition alleine macht in den ersten fünf Minuten völlig unmissverständlich klar, wo wir da sind. Diese furchtbare Männlichkeitsperformance der Dorfjugend muss gar nicht groß vertieft werden. Ein paar Andeutungen und das Gesamtbild kann vom Publikum problemlos vervollständigt werden. Wir leben ja alle auf dem selben Planeten. Zwischendurch fällt es sogar ein bisschen schwer, die Hauptfigur Marko, der wirklich sehr dringend dazugehören will, zu mögen. Aber allein schon seine zärtliche Zuneigung zum jüngeren behinderten Bruder Fićo gibt den Blick auf einen richtigen Menschen frei.

Und dann ist es eben eine Geschichte vom Drama des Andersseins in einer feindseligen Umwelt, von Eltern, die ihre Überforderung hinter grausamer Ablehnung verstecken usw usf. Alles ist sehr traurig – und sehr gut gespielt. Die Metaphern (Überschwemmung als wachsende Bedrohung, Armdrücken als durchschaubare Maske usw) sind fast ein bisschen zu abgegriffen. Aber an sich ist es auch diese Geschichte. Ich dachte beim schauen irgendwann, dass der Film gut in die 1990er gepasst hätte, als ich ungefähr so alt war, wie die Protagonisten hier.

Ich fühlte mich damals als einer Art Zwischengeneration zugehörig. Die letzte, noch verbunden mit der Zeit von Bronski Beat in der Vergangenheit und die erste, die schon Teil haben durfte an einer Art goldenen, freien Zukunft.

Gewiss, zwischendurch hatte ich gar nicht so selten das Gefühl, dass das Eis recht dünn war. All die Toleranz fühlte sich nicht so hundertprozentig gefestigt an. Dazu war die Gefahr zu nah. Ein wichtiger Autor zur Sache war zum Beispiel Gudmund Vindland („Sternschnuppen“, „Der Irrläufer“), der die schwule Emanzipation in „Chlorwegen“ in den 1970ern zum Thema hatte. Dieses ganze bigotte Pack das er da beschrieb war ja nicht weg. Dort nicht und hier nicht. Aber bald in der absoluten Minderheit. So war zumindest die Hoffnung.

Aber nein. Smalltown ist immer noch genau das. Davon handelt der Film.

Was mir sehr gut gefallen hat, ist, dass er dabei noch mit mehreren Klischees bricht. Es gibt ja immer wieder so pseudolinke Argumentationsketten, wo behauptet wird, dass der Blick auf irgendwelche skurrilen Minderheiten vom Klassenkampf und dergleichen ablenke. Als gäbe es keine queeren Arbeiter*innen oder Prekäre. „Zečji nasip“ kickt Haupt- und Nebenwidersprüche ganz beiläufig vom Tisch und zeigt den Preis, den alle zahlen für die Performance ihrer Normalität. Die ist nämlich so fragil, dass sie jeder Abweichung, Irritation oder Störung nur mit Hass und Entfernung aus der Gemeinschaft begegnen kann.

Dieses Beharren auf einem Naturzustand, den es mit allen Mitteln zu verteidigen gilt, ist billiges politisches Pulver, das derzeit fassweise verschossen wird. Das vernebelt einerseits tatsächlich die Sicht auf beispielsweise den Klassenkampf. Andererseits werden Menschen dabei getroffen. Schutzlos ausgeliefert. Und deshalb ist so ein Film wie „Zečji nasip“ leider kein Blick in die traurige Vergangenheit, sondern hochaktuell.

oben im Bild: Den Film würde ich mir auch ansehen. Wenn ich nicht schon drin leben tät.

Maßgeblich

Bald acht Jahre hab ich’s vor mir hergeschoben, jetzt dann doch endlich gelesen. „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ von Manja Präkels. Viel gepriesen und bepreist, völlig zu Recht selbstverständlich. Ich hatte ja auch nicht so lange gewartet, weil ich mit einem schlechten Buch gerechnet hätte. Zumal ich bis hierher alles von ihr mit größtem Gewinn gelesen hatte. Oder genauer: Für mich ist Manja Präkels die maßgebliche Stimme aus meiner Generation Ostdeutschland. Von niemand sonst fühle ich mich so genau gesehen, beschrieben und verstanden.

Was mir beim Lesen von Schnapskirschen noch deutlicher als bei den kürzeren Texten von Präkels auffällt, ist das entschiedene Beobachten. Die einfach gehaltenen Satzkonstruktionen, die verständliche Sprache ist meinem Eindruck nach nicht einfach nur zielgruppengerecht (Genre „Jugendroman“). Die Form hilft außerdem, der Versuchung zur Interpretation zu widerstehen. Vielleicht ist das auch das Problem, das ich mit so vielen Texten zu den sogenannten Baseballschlagerjahren habe. Dass sie schon seit Jahren immerzu einordnen, bewerten, herleiten usw, während das konkrete Geschehen und Erleben jener Zeit noch nicht einmal im Ansatz erzählt ist. Es wird immer eine Gemeinsamkeit der Erfahrung vorausgesetzt, ohne eine Verständigung darüber in Gang gesetzt zu haben, was eigentlich passiert ist.

Das mag vielleicht etwas seltsam klingen, aber tatsächlich fehlt es an allen Ecken und Enden an einer Dokumentation jener Zeit voller Gewalt und Angst. Die bekannten (und tatsächlich von so vielen schon wieder vergessenen) Bilder aus Lichtenhagen, Hoyerswerda usw haben „wir“ in der Regel auch nur im Fernsehen gesehen. Die gaben aber nicht die Alltäglichkeit der Bedrohung wieder. So wie Präkels es beschreibt: „Dann heulten alle. Für uns war nichts mehr drin. Sie waren überall. Und nun sogar im Fernsehen.“

Das was jeden Tag geschehen ist – oder jeden Tag geschehen konnte – davon gibt es keine spektakulären Fernsehbilder. Das wollten schon damals viele lieber nicht sehen. Nochmal Schnapskirschen:

„Sie haben Michael Müller zusammengeschlagen.“
„Schon wieder? Warum denn nur?“
„Ohne Grund.“
„Es gibt immer einen Grund.“
„Weil er lange Haare hat?“
„Das ist doch kein Grund.“
„Sag ich doch.“
„Jetzt hör aber auf!“
„Ich soll aufhören?“
„Na, ihr dürft nicht immer provozieren.“

Dieser Unglaube im Angesicht der rohen, im engeren Sinne „grundlosen“ Gewalt ist einer der wichtigen taktischen Vorteile der Faschos. Denn dieser Unglaube verlangsamt die dringend nötige Reaktion erheblich. Es ist dazu für jene, die die Gewalt erfahren, eine zusätzliche Demütigung, dass mindestens implizit ihr Erleben in Zweifel gezogen wird. Und das sogar noch, wenn die sichtbaren Spuren kaum zu leugnen sind.

Das Hinschauen zu lernen, die Wahrnehmung der Bedrohung zu schärfen, auch wenn die unmittelbare Betroffenheit noch nicht realisiert ist, dürfte angesichts der Konjunktur rechtsradikaler Menschenfeindlichkeit auf allen Ebenen, auch weiterhin sehr wichtig sein. Mit Manja Präkels lässt sich das im Blick auf die letzten gut 30 Jahre hervorragend einüben.

Apropos nicht realisierter unmittelbarer Betroffenheit sollte erwähnt werden, dass wer nichts sieht, trotzdem keineswegs entkommen wird: „Anfangs war es mir vorgekommen, als sei das Leben in der Kreisstadt trotz allem ein besseres. Langsam begriff ich, dass ich mich nur weniger auskannte und darum weniger sah.“ Wie gesagt, maßgebliche Stimme.

im Bild oben: Sonnenuntergang in Plötzensee.

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