Wer wen überlebt

9.000 Kirschbäume wurden ab 1990 mit Spenden aus Japan rund um Berlin gepflanzt, gut 1.000 davon auf oder am alten Mauerstreifen. In Treptow an der Kiefholzstraße findet sich so ein Stück Kirschblütenweg und es ist wirklich beeindruckend. Umittelbar vor den Osterfeiertagen brachen die Blüten auf.

Ich finde die Geste immer noch schön, ein Stück lebendiges Japan zu verschenken. So eine Art Freiheitsstatue, aber ohne die Fackel und den ganzen Bombast. Klar, das war damals die Promoaktion eines Fernsehsenders, wer weiß, was da die unmittelbare Marketinghoffnung war. Aber was bleibt, ist doch was ganz ansehnliches. Da picknicken Leute drunter und dann posten sie Bilder von Blüten in ihre Social-Media-Feeds. Schöne Nachhaltigkeit.

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Man hört dieser Tage mal wieder von JK Rowling. Einerseits wird ihre Buchreihe neu verfilmt. Andererseits ist sie Teil der medialen und juristischen Kampagne zur Delegitimierung von Transpersonen. Und diese Kampagne hatte grad was zu bejubeln mit dem Urteil des britischen Supreme Court, der Geschlecht per Beschluss biologistisch und somit als binäre Kategorie definiert.

Die Schriftstellerin, die durch die Bücher über eine Internatsschule für Zauberer und Zaubererinnen (auf keinen Fall Zauberer*innen oder Zauberer:innen, wie wir jetzt wissen) zur Multimillionärin wurde, feiert mit Zigarre und Spritz ihren Erfolg auf dem Weg, eine ohnehin marginalisierte Gruppe Menschen, mit aller Gewalt zurück in ihre prekären Nischen zu verdrängen. Ordnung muss schließlich sein. Wer hätte gedacht, dass die Autorin sich aus ihrem eigenen Werk ausgerechnet Dolores Umbridge zum Vorbild nehmen würde.

Achja, das Werk…

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Ursula K. Le Guin wurde 2005 vom Guardian zu Rowling befragt. Die Idee, dass auch in den Welten der Fantasyliteratur eine Art Ausbildung für Magie integriert werden sollte, kam ja schon recht ausführlich in der initialen Earthsea-Trilogie (rund um 1970) vor. Le Guin sieht nachvollziehbarerweise kein direktes Plagiat, wie einige ihrer Fans, zeigt aber deutliches Unbehagen mit Rowlings Schweigen, wenn es um Fragen literarischer Traditionen und Herkünfte geht.

Auch an anderer Stelle macht Le Guin den großen Abstand nochmals deutlich: “Her book, in fact, could hardly be more different from mine, in style, spirit, everything.” Sie kritisiert aber nochmals, dass Rowling so tut, als gäbe es keine Herkunft, keine Vorgänger(*innen, sry). Besonders hart im Guardian: “She has many virtues, but originality isn’t one of them.”

Allerdings frage ich mich seit ich dieses Zitat kenne und “A Wizard of Earthsea” gelesen habe, was wohl die virtues, die Tugenden also der JK Rowling jenseits nicht vorhandener Orginalität sein sollen. Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, Fantasie und Begabung zu Charakterentwicklung oder Storytelling scheinen nicht dazuzugehören. Jedenfalls nicht im Vergleich zu Le Guin.

Die Earthsea-Bücher tragen uns, soweit wir uns denn auf das Genre einlassen wollen, zum Kern des Menschseins. Sie zeigen, dass die größten Auseinandersetzungen in der Regel gar nicht mit äußeren Antagonist:innen, sondern im Inneren des Selbst stattfinden. Schon allein deshalb, weil der “Feind” viel schneller erkannt werden kann als das “Ich”. Le Guins Geschichten bieten Auswege an, die keine Siege sind, sondern ein Verstehen.

“I know that there is only one power that is real and worth the having. And that is the power, not to take, but to accept.” – Ich weiß, dass es nur eine Kraft gibt, die wirklich und es wert ist, sie zu haben. Und das ist die Kraft, nicht zu nehmen, sondern zu akzeptieren.

Bisschen viel Tao für einige vielleicht, aber tausendmal besser, als die Bonbon-Bürokratie der Potter-Bücher, wo am Ende alle Jungs ihre Mädchen bekommen und das bei Geburt zugesprochene Geschlecht nebst zugehöriger Organe artig durchs Leben tragen. Irgendwie lustig auch, dass man sich zwar einen Bahnsteig zwischen 9 und 10, aber kein Geschlecht jenseits von 0 und 1 vorstellen kann.

Als Leser jedenfalls gestatte ich mir davon auszugehen, dass Le Guins Ged aus Earthsea nicht nur seine Schöpferin lange überleben wird, sondern auch Harry Potter und JK Rowling. Letztere verkauft halt ein Buch über einen Jungen, der auf eine Zauberschule geht.

Ursula K. le Guin aber hat vom wirklichen Leben geschrieben. Das ist doch auch was schön Nachhaltiges.

im Bild oben: Hanami in Treptow

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Sozialistischer Realismus

Chemnitz ist keine sonderlich schöne Stadt. Das „sächsische Manchester“ muss ja schon in seiner Blütezeit mehr nach Industriearbeit, denn nach Lustwandelei ausgesehen haben und das soll jetzt keine unberufene Romantisierung proletarischer Lebenswelten einleiten. Grönemeyer mochte, wie wir wissen, sein Bochum ganz besonders „vor Arbeit ganz grau“. So warm sind meine Gefühle hier nicht, auch wenn Chemnitz ein Ort meiner Kindheit ist, wahrscheinlich aber kein entschieden prägender.

Meine Erinnerung ist die an eine Brache in der Mitte der Stadt. Das war eine auch in den 1980ern noch unübersehbare Kriegswunde, die nach der Wiedervereinigung denkbar hässlich überbaut wurde durch ein riesiges Parkhaus nebst Einkaufzentrum. Der früher etwas verloren herumstehende, von der fast völligen Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg verschont gebliebene Rote Turm, ist nun zweiseitig von höher aufragenden Wänden der neu erbauten Shopping-Mall umschlossen.

Stehen geblieben nach 1990 ist noch der zentrale Bau aus der DDR, der Stadhallenkomplex und gegenüber der Nischel, wie die Einheimischen den riesigen kupfernen Kopf des zwischenzeitlichen Namenspatrons der Stadt, Karl Marx, auch schon in meiner Kindheit nannten. Die Stadthalle zeigt derweil außen wie innen recht kühne Modernität. Ganz schön monumental, aber durchaus einladend dabei. Das rötliche, aus der Gegend stammende Gestein der Verkleidungen (für Geologieinteressierte: Rochlitzer Porphyr) gibt einen freundlichen rötlichen Grundton. In und um den Bau finden sich einige Kunstwerke, die auch in meinen Schulbüchern besprochen wurden. Das vielleicht bekanntest davon ist Fritz Cremers Galilei.


Bockwurstgeruch begrüßte mich im Foyer, als ich nach einem langen und sehr lehrreichen Tag bei den Chemnitzer Linuxtagen zum Kulturprogramm mit der Familie eilte: Konzert des Sächsischen Sinfonieorchesters Chemnitz e.V. Für mich war das eine Premiere, hatte ich bis zu diesem Abend doch noch kein Amateurorchester spielen hören. Das Programm: Gassenhauer. Rossinis Tell-Ouvertüre (die ganze, nicht nur der Schunkelteil am Ende) rummste ordentlich, dann Klavierkonzert Nr. 1 von Tschaikowsky. Das getragen vor allem von der zugebuchten Solistin. Dann Pause und etwas Angst vor Beethoven 5 im zweiten Teil des Konzerts.

Tatsächlich war der Kopfsatz recht breiig dahingemetzelt, aber irgendwie wurde es ab dem zweiten dann doch besser. Mit drittem und viertem Satz schien das Zusammenspiel dann schließlich wieder erbaulich zu sein. Und während der ganzen Zeit und noch lange danach versuchte ich zu verstehen, warum. Offenbar habe ich da eine kognitive Dissonanz. Beethoven, die Sinfonien zumal, ist nichts für Amateure? Dabei sollte ich genau das doch großartig finden, was ich da gesehen habe, den Zugang zur hohen Kunst vorbei an Geniekult und Perfektionismus.

Schon während des Konzerts der Gedanke, dass die auf der Bühne den Beethoven erleben, wie ich es gar nicht könnte. Nicht einfach nur konsumieren, selber heranwagen, im Zweifelsfall scheitern. Auf jeden Fall mittendrin. Später dann, weil es mich nicht loslässt, erweitert sich das um die Überlegung, dass Aneignung eben auch delegiert erfolgen kann. Das geschieht aber nur dann überzeugend, wenn die Proxies nahbar sind; mir ebenbürtig.

Wenn das glaubwürdig gelingt, wird Spezialisierung oder Arbeitsteilung vom Trennenden zum Verbindenden. Die da oben sitzen, tun das nicht, weil sie etwas besseres sind, sondern weil sie das Beste unseres Gemeinsamen präsentieren. Dann bin ich nicht mehr einfach nur passives Publikum, sondern Teil der Aufführung. Mag sein, dass das Orchester in der Chemnitzer Stadthalle gar nicht „besser“ wurde im zweiten Satz der 5. Sinfonie. Eventuell habe ich nur einfach besser zugehört. Anders. Teilnehmend. „Wer wohnt schon in Düsseldorf…“ Ja, danke Herbert.

im Bild oben: Blick auf die Bühne der Stadthalle Chemnitz

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