Ein einfacher Vorsatz

Wie meistens komme ich erst nach Abschluss des Chaos Communication Congress‘ dazu, mir einige der Talks dort anzuschauen. Diesmal wird es sicher noch mindestens eine Woche dauern, bis ich loslegen kann. Ausnahme ist der Vortrag von Bianca Kastl und Martin Tschirsich zur Elektronischen Patientenakte.

Die knappe Zusammenfassung? Es ist einfach unfassbar, was da in gerade mal zwei Wochen in die freie Wildbahn entlassen wird (zunächst in einigen Testregionen, ab Mitte Februar dann deutschlandweit für alle, die nicht widersprochen haben). Falls Sie es nicht schon getan haben, der dringende Rat: Opt out! Ernsthaft, man kann daran nicht teilnehmen. Ich weiß schon, „nix zu verbergen“, aber Gesundheitsdaten?

Die sollten schon sehr sicher aufbewahrt werden und der Zugriff dürfte nur unter besonders strikter Kontrolle möglich sein. Wenn die Daten einmal draußen sind, lässt sich das nie wieder einfangen. Hepatitis C? Wissen dann alle, die es wissen wollen. Rezept für ein Duloxetin-Präparat? Bingo. Hämorrhoidenleiden? Glückwunsch.

Selbstverständlich ist die digitale Akte eine gute Idee, aber die Umsetzung scheint so dramatisch unsicher, das es schon erschütternd ist, dass es medial nicht mehr dazu gibt, als ein paar laue Servicestücke. Gerade erst beim rbb, wo zum Datenschutz lapidar festgestellt wird: „Ein Risiko von Datenklau und Hackerangriffen besteht im digitalen Raum allerdings immer, die Nutzung solcher Technologien bleibt also auch immer eine persönliche Abwägung.“

Die von Kastl und Tschirsich in ihrem Vortrag beschriebenen Angriffe sind dermaßen trivial in der Durchführung, dass schon nicht mehr von einfachen Schwachstellen und dem unvermeidlichen Restrisiko die Rede sein kann. Die beschriebene Infrastruktur scheint von Grund auf nicht geeignet zu sein, auch nur basale Anforderungen an die Sicherheit der überaus sensiblen Daten zu gewährleisten. Das ist eine Information, die ganz hilfreich für die persönliche Abwägung sein könnte. Aber ok.

Es geht dabei noch nicht mal um die schon lange bekannten obskuren Wege, auf denen die individuellen Daten nur pseudonymisiert (also bei Kenntnis des geeigneten Schlüssel zurückverfolgbar) statt anonymisiert für „Forschung“ gesammelt werden sollen. Forschung in Anführungszeichen, da Karl Lauterbach schon stolz eine Kooperation mit Google, Facebook und OpenAI avisiert. Was soll da schon schief gehen…

Es geht auch nicht um das ganz generelle Problem der zentralen Sammlung so vieler Datensätze in einer Infrastruktur mit buchstäblich hunderten Stakeholdern auf der nationalen Ebene (Krankenkassen und Dienstleistern zB), die wiederum jeweils teils Zehntausende Angestellte haben. Wie viel Vertrauen soll man zu deren Rechtemanagement und IT-Sicherheit haben?

Wenn man diese ganzen internen Gefahrenstellen mal außer acht lässt, bleibt immer noch die im Vortrag demonstrierte Außentäterperspektive. Es wird gezeigt, wie leicht es ist, sich eine Gesundheitskarte zu beschaffen. Die genügt dann bereits, um auf die Einzelakte zuzugreifen. Es gibt keine PIN, kein Identitätsnachweis. Einfach nichts ist vorgesehen, um da den Zugriff, der auch das Schreiben und Löschen in der ePA beinhaltet, weiter zu sichern.

Genauso wird demonstriert, wie leicht es auf mehreren Wegen ist, sich die Rechte von Leistungserbringer*innen (in der Regel also Praxen) zu verschaffen und damit Zugriff auf die Akten aller Patient*innen der vergangenen 90 Tage. Die der vollständigen Akten übrigens, da sich in der Verwaltung der ePA ja nicht granular unterscheiden lässt, welche Ärzt*innen welche Unterlagen bekommen.

Drittens wird demonstriert wie leicht es ist, sich den Zugang zu den ePAs beim Versicherungsstammdatendienst zu erschleichen. 70 Millionen Akten auf einen Schlag.

Insgesamt weisen Kastl und Tschirsich also mehrere Wege nach, auf denen Stand Mitte Dezember der unbefugte Zugriff auf theoretisch alle elektronischen Patientenakten möglich ist. Was soll man dazu noch sagen außer: Opt out!

oben im Bild: am Ende des Regenbogens liegt die sichere ePA

Umblättern 2024

Nach längerer Zeit in der äußere und innere Umstände mich hinderten, ganze Bücher zu lesen, hatte sich das schon 2023 wieder etwas eingerenkt. Es folgte ein gutes Jahr mit ordentlich Strecke auf der Leseliste. Nachfolgend eine Bilanz. Zuerst ein größerer Bogen, der gar nicht beabsichtigt war und mir nachträglich aufgefallen ist. Weiter unten dann noch so eine Art Top 5, die als extra Empfehlung verstanden werden soll, falls die Sachen nicht ohnehin schon bekannt sind.

Bei meiner Buchauswahl versuche ich nach Möglichkeit was halbwegs zeitgenössisches zu wechseln mit älteren Sachen, so genannten Klassikern und anderes, zum Teil über Jahre liegen gebliebenes. Ein paar Wiederholungstaten sind dabei, Prüfung der Wirkung und Bedeutung mal wichtig gewesener Werke, aber hauptsächlich für mich neues. Das ist ja das schöne an Büchern. Die können uralt sein, alle kennen sie, aber irgendwann lese ich sie zum ersten Mal, beginne ich, ein mir bis dahin völlig unbekanntes Werk zu erkunden. „Zu spät“ wird nur das erste ungelesene Buch auf dem Nachttisch im Hospiz sein. Man ahnt es, ich bereite eine große Beichte vor. Gemach, gemach, kommt später.

Ohne sie gesucht zu haben, schien einiges an Gemeinsamkeiten auf, Themen, die sich durch mehrere Bücher zogen. Am auffälligsten war die Mehrfachbegegnung mit dem Motiv der Identitätskonstruktion aus mehreren voneinander unabhängigen Persönlichkeitsbestandteilen. Besonders interessant dabei etwas, das ich den Aushandlungsprozess zwischen rechter und linker Gehirnhälfte nennen würde. Die Frage, wie Gefühl und rationelles Denken sich zueinander verhalten.

Bemerkenswert schön und spannend fand ich Susanna Clarkes „Piranesi“ (2020). Die Geschichte eines Menschen an einem traum-haften Ort, einem Gebäude unbekannten Ausmaßes mit palastartigen weiten Räumen, in denen es außer Statuen und ein paar rätselhaften Artefakten nichts weiter gibt, die dazu gelegentlich von Fluten eines Meeres heimgesucht werden. Zwischen naiver Weltwahrnehmung und simplen Alltags-Wiederholungen und -Beobachtungen durch die Titelfigur, wird nach und nach das Geheimnis dieses Ortes aufgedeckt. Clarke benutzt in der Geschichte zu großem Effekt okkultistische Motive. Das ist auf jeden Fall sehr unterhaltsam und wer will, kann sich ohne weiteres in dem Haus voller Statuen wiederfinden, wo ein Ozean durch die Säle der unteren Ebenen spült, und sich darin verlieren.

In Kelly Links „White Cat, Black Dog“ (2023, an „Book of Love“, das zu großer Aufmerksamkeit in diesem Jahr rausgekommen ist, wollte ich nicht als erstes ran, ich mein, 600 Seiten…), wird mittels überraschend neu aufbereiteter Märchenmotive noch mal eine Spur tiefer gegangen. Weg von der individuellen Entfremdungserfahrung des modernen Menschen hin zu der Schicht kulturell vererbten Wissens um die durchlässige Membran zwischen empirischer Wirklichkeit und Traumwelt. Im Zweifelsfall lässt sie ihre Figuren dann noch einschlägige Substanzen zu Hilfe nehmen, was erzählerisch auch ganz zauberhaft funktioniert. Katzen die Dope anbauen, Gespräche mit den Tieren des Waldes auf Pilzen, alles dabei.

„And shall machines surrender“ von Benjanun Sriduangkaew (2019) geht das Thema gewissermaßen von der technischen Seite an. In ihrer Zukunftswelt voller Arbeitsmigrant*innen und Kriegsflüchtlingen sind Maschinen und Menschen soweit verschmolzen, das Identität insgesamt völlig neu verhandelt wird. Dabei finden die verschiedenen Anteile der Persönlichkeit auch physische Entsprechungen. Ich bin beim Lesen immer mal wieder so halb rausgeflogen aus der Story die so ein bisschen Krimi, ein bisschen Liebesgeschichte ist, aber die aufgemachten Konzepte hatten dann doch immer wieder genug Sog, um mich zurückzuholen. Für die grade mal 100 Seiten war da jedenfalls extrem viel drin, unter anderem ein sehr verspielter Umgang mit dem ganzen Pronomen-Wirrwarr. Ist in deutscher Sprache wahrscheinlich nur sehr schwer reproduzierbar.

In „The Company Town“ von Madelyn Ashby (2016) schließlich, wird „das andere“ komplett ausgelagert. Das fand ich sehr faszinierend konstruiert, auch mit großer Liebe zu den Figuren. Das ganze spielt auf einer überdimensionierten Ölplattform. Diese Stadt mitten im Meer hat ein ganz eigenes soziales Gefüge, das durch Gewaltverbrechen und die Übernahme der Konstruktion durch ein Familienunternehmen auseinanderzubrechen droht. Die Hauptfigur ist eine Bodyguard für (gewerkschaftlich organisierte!) Sexworkerinnen, die anders als die meisten Menschen in dieser Welt, an sich keine genetischen oder sonstigen Veränderungen hat vornehmen lassen. Da gefiel mir die Auflösung jedoch nicht so gut, ein bisschen feige fast, gemessen an der Geschichte, die da vorher aufgebaut wird. War so ein Buch, das für mich gerne ein paar Seiten eher hätte aufhören können, aber nunja, bei Hans-Christian Andersen wird das hässliche Entlein am Ende ja auch noch was.

Definitiv am überzeugendsten für mich war aber die Geschichte von Falk/Ramarren in „City of Illusions“ (1967), womit wir beim Geständnis angelangt wären: Ursula K. Le Guin. Nie zuvor gelesen, immer wieder vor mir her geschoben. Jetzt aber, einmal durch den Hainish-Zyklus durch, fühle ich mich als wäre ich gewachsen mit diesem Universum, das sie da erfunden hat. Ich bin sehr glücklich damit, dass das möglich ist. Was mich neben quasi allem noch besonders abholt, ist der sehr umsichtige erzählerische Umgang mit, vor allem tödlicher, Gewalt. Die muss sich bei Le Guin immer plausibel aus der Geschichte ableiten, ist nicht einfach nur blutige Tapete an der die Handlung vorbei eilt. Das ist dabei gar nicht irgendwie hippiesk naiv, sondern sehr überlegt.

In „The Word for World is Forest“ (mit einem interessanten Konzept der Verbindung von „Weltzeit und Traumzeit“ übrigens) wird dazu noch deutlich gemacht, wie naiv die gewohnheitsgemäße Gewaltanwendung ist. Das Buch wird gelegentlich als schwächstes aus dem Zyklus kritisiert. Einerseits folge ich dahingehend, als dass die Handlung relativ vorhersehbar ist, und Vietnam wirklich sehr unmissverständlich mitschwingt. Wenn allerdings als Maluspunkt für Le Guin die zu schablonenhafte Figur des Davidson, ohne emotionale Tiefe und differenziertes Innenleben, angeführt wird, muss ich ein bisschen lachen. Anders als die der uneingeschränkt guten Indigenen, ist die Rolle des rassistischen, sexistischen und grausam selbstherrlichen Kolonialisten ja nun wirklich absolut glaubwürdig und hyperrealistisch. Ich weiß nicht, ob es Selver gibt, Captain Davidson aber ist bis heute so lebendig wie je.

Aber zurück zum Thema, Falk aus „City of Illusions“ nämlich: „And he knew he was not even a man but at best kind of half-being, trying to find his wholeness by setting out aimlessly to cross a continent under uninterested stars.“ (etwa: „Und er wusste, dass er nicht einmal ein Mann war, bestenfalls eine Art Halbling, der seine Vollständigkeit zu finden suchte, indem er sich anschickte, einen Kontinent ziellos unter desinteressierten Sternen zu queren.“) Ein deutlicheres Bild für das Bemühen um Entdeckung und Integration von Verdrängtem und Verlorenem in ein kohärentes Selbst lässt sich kaum vorstellen.

Eine andere Frage, die neben dem Identitätskonstrukt wiederholt auftauchte, war die von Sprache als Waffe, oder überhaupt unmittelbar auf die materielle Wirklichkeit wirkende Macht. Neben SF-Klassikern wie „Babel 17“ oder „Snow Crash“ vielleicht bemerkenswert „Exordia“ von Seth Dickinson (2024). Ich weiß gar nicht, wie man davon erzählen soll, ohne massiv zu spoilern. Ich fand erstaunlich, wie sehr der mich aufs Glatteis geführt hat auf den ersten Seiten. Das war zum Brüllen komisch, Sitcom-Material geradezu, und dann gibts ziemlich plötzlich kräftig aufs Maul und zwar mehrere Hundert Seiten lang. Die plausible Traumatisierungsgeschichte der Hauptfigur, einer als Kind aus dem kurdischen Krieg entkommenen jungen Frau, überwältigt dabei genauso, wie die sehr bildhafte Beschreibung einer, nunja, fraktalen Herausforderung und des schließlichen nuklearen Showdowns.

Na jetzt aber meine Stand-alone-TOP 5 in der Reihenfolge, in der ich sie in den vergangenen zwölf Monaten gelesen habe:

Debbie Urbanski „After World“ (2023). Ich hatte dazu schon mal was geschrieben. Deshalb an dieser Stelle nur noch einmal die Empfehlung und die Warnung: Das ist nix, um sich dunkle Winterabende gemütlich zu machen. Wirklich ziemlich harter Stoff.

„At the mouth of the River of Bees“ von Kij Johnson (2011, „Pinselstriche auf glattem Reispapier“ heißt anscheinend die Übersetzung ins deutsche, keine Ahnung, ob die was taugt) – eine emotional sehr ergreifende Erzählweise. Jede Geschichte in dieser Sammlung, vom Kammerspiel bis zur großen SciFi-Geschichte, ein echtes Juwel. Die Titelgeschichte allein ist tief berührend. Die ebenfalls enthaltene Novelle „The man who bridged the mist“ hat mich so tief reingezogen, dass ich richtig Lust bekam die Menschen kennenzulernen, die darin beschrieben waren. Das hätte noch ewig so weitergehen können. Starke Le-Guin-Vibes.

„153 Formen des Nichtseins“ von Slata Roschal (2022). Wer Buchpreisnominierungen verfolgt, hat davon schon gehört, für mich war das gänzlich neu. Die Geschichte der jungen Frau, Tochter russischer Juden, die als Zeugen Jehovas nach Deutschland kamen; die Abnabelung, die mitgenommenen Neurosen, die Unsicherheiten, die Verletzlichkeiten – alles sehr intim, alles sehr welthaltig. Man bemerkt in der geschliffenen, dichten Prosa die Lyrikerin. Die kleinteiligen Kapitel mit ihren immer anderen Zugängen zu den selben Ausweglosigkeiten, die dann aber doch irgendwohin führen, haben ihren je eigenen Rhythmus, der sich aber nahtlos ins Ganze fügt. Der Humor, die Ernsthaftigkeit und die sprachliche Präzision in dem Buch haben mich sehr positiv mitgenommen.

Biyi Bandele, „Yoruba Boy Running“ (2024). In den Besprechungen, die ich dazu gelesen habe, wird immer wieder der Suizid des Autors am Tag nach der Finalisierung des Manuskripts besonders herausgestellt. Man könnte mE jedoch mehr darauf abheben, wie grandios dieses Buch geschrieben ist. Anhand einer außergewöhnlichen (an reale Ereignisse angelehnten) Lebensgeschichte wird hier das Ringen um das Ende der Sklaverei in Westafrika beschrieben. Die gut 100 ersten Seiten des Buches sind dabei so unfassbar atemlos in den Wechseln zwischen wirklich rasendem Humor, brutalster Gewalt, unvermeidlichem Tod und Gemetzel, herzzerreißendem Schmerz, wie ich es so noch kaum irgendwo gelesen habe. Bandele ändert mitten im Buch den Takt der Erzählung, was zunächst etwas enttäuscht, aber absolut Sinn ergibt im weiteren Verlauf. Für jene, die es nicht auf Englisch lesen können, hoffe ich auf eine gute Übersetzung zu einem späteren Zeitpunkt. Da besteht Hoffnung, denn Bandele ist kein Geheimtip, das Vorwort der Erstausgabe zB ist von Wole Soyinka.

Mauricio Rosencof „Das Schweigen meines Vaters“ (2024). Hier hatte ich vor kurzem schon was notiert und kann hier nur noch einmal die dringende Empfehlung wiederholen.

Ich habe, nebenbei, auch sonst noch einiges anderes außer Science und Speculative Fiction gelesen, muss aber sagen, dass mir die inzwischen oft viel näher ist, als „ernste“ Literatur. Ich mag einfach die Opulenz und die Lust am Erzählen, am Fabulieren, und in Teilen auch am Träumen von einer anderen Zukunft, die da immer wieder durchstrahlt. Ist ja nötiger denn je.

oben im Bild: Mein Bücherstapel.

Boß kein Neid

Zwischenzeitlich hatte ich das für mich folgendermaßen sortiert: Als ich P. das erste Mal begegnete, damals in den 90ern, da sah er wirklich extrem gut aus. In späteren Jahren dann eher so, als ob es ihm sehr gut ginge. Aber während ich so auf der Straße saß, zwischen lauter jungen Antifas, die diesen wirklich gut erhaltenen Fuffziger mit vollem Haar anhimmelten, da hörte ich auf, mich anzulügen. P. hatte mir einfach einiges voraus. Und dann noch ein bisschen mehr.

Als Anwalt ist er seiner Sache treu geblieben und berichtete von der Bühne auf der Demo zum Sonnenblumenhaus von seinem Erleben dreißig Jahre zuvor. Relativ kleinteilig schilderte er die Scharmützel um den Versuch, die Nazis aufzuhalten.

Die Absicht, gleich am Anfang die Straße zu übernehmen. Das Pogrom zu beenden, bevor es überhaupt richtig losging. Das Hinundher zwischen den beteiligten Gruppen, die Inkonsequenz. Das Ergebnis ist bekannt. Irgendwann, ich fing tatsächlich beinahe an, mich zu langweilen, unterbrach P. selber seine detaillierten Schilderungen: „Aber warum erzähle ich das alles?“

Während ich grade noch dachte: „Ja genau, warum erzählst du das?“, musste ich mir erläutern lassen, wie wenig, zumindest nach P.s Einschätzung, gefehlt hatte zu einer Situation, in der von Lichtenhagen ein ganz anderes Signal ausgegangen wäre. „Entschlossen und verantwortungsvoll“. Das war sein Mantra, mit dem er die Möglichkeit und daraus folgend die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns beschrieb.

Da wurde mir bewusst, dass P. sich tatsächlich als Subjekt der Geschichte sieht. Nicht in narzisstischer Selbstüberhöhung, sondern als Grundvoraussetzung politischer Arbeit. Einfach die Gewissheit, dass sein Handeln (im Konzert mit anderen selbstverständlich), den Lauf der Dinge entscheidend ändern kann. Keine Spur Nihilismus.

Ich hatte bisher nicht die Gelegenheit, ihn zu fragen, ob das intuitiv funktioniert oder ein bewusst gewählter Weg ist, mit der Resignation umzugehen, die ja auch er gelegentlich spüren muss. Eine Handhabe für die Angst, die eigene und die der Menschen, die er zu ermutigen sucht. Ich möchte glauben, dass man damit glücklicher sein kann. Und zielstrebiger.

Es hat noch eine ganze Weile – Jahre geradezu – gedauert, bis mir aufging, dass P.s Herangehensweise ihn ja zuallererst zum Subjekt seiner eigenen Geschichte macht. Das was er tut, nicht das was andere ihm antun, ist das was ihn definiert. Kein Opfer.

Ja selbstverständlich sieht der besser aus. Ist keine Frage der Frisur, ist eine der Haltung. Und da bin ich gleich gar nicht mehr neidisch. Denn das kann ich auch hinkriegen. Sofort Morgen. Bestimmt.

im Bild oben: lauter gut aussehende junge Menschen

Winterfest

Das Faszinierende an politisch motivierter Repression ist, wie unbemerkt sie oft stattfindet. Ich glaube es ist in der allgemeinen Öffentlichkeit gänzlich unbekannt, erstens mit welcher Härte die Polizei schon immer gegen alles Linke (vermeintlich „linksextremistische“) vorgeht und zweitens, welche Ausmaße das auch im weiteren Umfeld der eigentlichen Zielpersonen annehmen kann. Der Verfolgungsdruck steigt ja ins geradezu Unermessliche, wenn kriminelle oder terroristische Vereinigung unterstellt wird. Umso verdienstvoller ist, dass die taz gelegentlich Raum gibt für eine etwas ausführlichere Berichterstattung.

Die Tage erst erschien ein recht breit angelegtes Stück über die völlig überzogenen Maßnahmen bezüglich des Budapest-Antifa-Komplexes. Obacht beim Lesen, schon der Einstieg ist recht grafisch. Bezüge werden auch zur Klimabewegung hergestellt, deren Aktive ja ebenfalls einer Kriminalisierung ausgesetzt sind, die in keinerlei Verhältnis steht zu den jeweiligen Aktionsformen.

Was besonders erschreckt, sind die angedeuteten Ermüdungs- und Resignationserscheinungen. Leipzig zum Beispiel: „Menschen, die sich vorher grüßten und guten Kontakt hatten, taten plötzlich so, als würden sie sich nicht kennen.“ Diese unter dem Druck sich verstärkende Vereinzelung ist ja das genaue Gegenteil dessen, was man sich als Reaktion wünschen würde. Aber so ist das leider, wenn schon die lose Bekanntschaft zu bestimmten Personen genügt, um dergestalt ins Visier zu geraten, dass man sich mal 4.30 Uhr morgens einer rabiaten Hausdurchsuchung gegenübersieht. Da wird Distanzierung jetzt nicht die völlig unverständlichste Vorbeugemaßnahme sein. Solidarität hat ihren Preis – und man sollte vorsichtig mit dem Urteil darüber sein, welche Gründe den gegebenenfalls zu hoch erscheinen lassen. Die Perspektive wird ja auch nicht unbedingt besser.

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Ein sehr interessantes Gespräch mit Jeanette Hofmann, Professorin für Internetpolitik an der FU Berlin, hat das Weizenbaum-Institut veröffentlicht. Ganz ohne Umschweife ordnet sie den ganzen Desinformations-Kladderadatsch als das ein was es ist: Politisches Handeln zur Mobilisierung und nicht primär ein Werkzeug zur Manipulation: „Die offen zur Schau getragene Gleichgültigkeit gegenüber dem Wahrheitsgehalt von Informationen ist […} weniger Unkenntnis als eine politische Verortung. Und die Idee des Fact-Checking oder De-Bunkings übersieht diese Qualität.“

Dessen ungeachtet wird fleißig weiter gefactcheck und entlarvt. Manchmal wird vielleicht kurz innegehalten und sich gewundert, warum das so kunstvoll mit dem journalistischen Florett erlegte Lügenmonster immer wieder aufsteht. Aber irgendwie folgt nichts aus diesem Moment der Irritation. Man möchte eben weiterhin objektiv über den Dingen stehen. Manchmal frage ich mich, ob mein früherer Berufsstand die Welt, die er zu beschreiben vorgibt, je verstanden hat. Wenn ich an all die Gesprächsrunden und Konferenzen denke, erinnere ich mich vor allem an durch keinerlei Empirie begründbare Selbstgewissheit, die mir oft als Ausdruck von Hilflosigkeit erschien. Gelegentlich war sie sogar nur eine seltsame Bockigkeit gegenüber der von den gelernten Regeln abweichenden Realität.

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Dankbar sein kann ich mal wieder Frédéric Valin für einen Hinweis. Und zwar im nd auf auf „Das Schweigen meines Vaters“ von Mauricio Rosencof, erschienen bei Assoziation A. Obwohl bei den einschlägigen Medien recht breit rezipiert, wär mir das evtl. durchgerutscht. Der Tupamaros-Veteran und Dichter Rosencof nähert sich in der fragmentarischen Erzählung vor dem Hintergrund seiner eigenen barbarischen langjährigen Haft der Geschichte seiner aus dem polnischen Shtetl stammenden Familie. Der Vater, und etwas später Mutter und Bruder, waren noch einige Jahre vorm deutschen Überfall auf Polen ausgewandert. Die meisten Verwandten wurden ermordet.

Was mir neben all den Dingen, die Valin zum Werk bemerkt, noch sehr stark aufgefallen ist: die zärtliche Humanität die das Buch durchzieht. Das mag ein wenig kitschig klingen, aber mir leuchtet da immer wieder in Bildern von Verbundenheit und Widerstand eine tief empfundene Menschlichkeit entgegen. Die wiegt umso stärker, weil sie gegen die schonungslosen Szenen aus der Vernichtungsmaschinerie steht. Keine Sorge, das Buch halluziniert keine falsche Hoffnung im Angesicht von Auschwitz. Das Leben kann nicht schön sein, wenn es an die Rampe von Birkenau gezwungen wird.

So lange aber jemand erzählt – so erzählt wie Rosencof – ist das Leben immerhin noch hier.

Let’s dance

Die nachhaltigste Angst ist die, die sich körperlich manifestiert. Die den Weg in die Sehnen und Knochen gefunden hat und dort alles in Spannung hält. Angst, die im Gedärm rumort, noch bevor du ihr einen Namen geben kannst. Oft sogar bevor du überhaupt merkst, dass sie schon wieder aus unbekannter Tiefe nach oben treibt, dir den Appetit verdirbt, den Schlaf raubt, die Luft abschnürt.

Das Gemeine an der latenten Gewalt der Straße, das was sich einschreibt in jede deiner Zellen, ist nicht unbedingt ihr konkreter Ausbruch, das Erlebte also, sondern ihr Potential, das Künftige. Jaja, ich bin schon wieder in den 90ern. Das kommt daher, dass die partout nicht aufhören wollen.

Ich schrecke weiterhin davor zurück, allzu konkret über Angst zu schreiben. Das hat weniger mit der Sorge vor Retraumatisierung oder so etwas zu tun, und auch nicht nur mit dem Unbehagen gegenüber der Opfererzählung. Da kommen noch zwei etwas anders gelagerte Abwägungen hinzu. Da wäre zunächst die Frage von Privatheit und Sicherheit. Wieviel kann ich preisgeben, ohne die eigene Verletzlichkeit anderen als Waffe in die Hand zu geben? Außerdem bin ich gehemmt, weil ich fürchte einer Ästhetisierung anheimzufallen, die der Sache unangemessen ist. Gemeint ist: Ich möchte mir meine blutige Nase nicht schönschreiben.

An Manja Präkels‘ Texten zum Beispiel schätze ich besonders, dass es ihr in allen die ich bisher gelesen habe gelingt, die Ästhetisierung zu vermeiden. Jedoch habe ich mich bislang auch nicht getraut, „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ anzufassen. Ich kann überhaupt nicht sicher beantworten, welche Angst da schon wieder rumlungert. Die davor, dass es zu schön ist? Na, ich denke, in den kommenden ein-zwei Monaten muss da mal ein Knoten durchgeschlagen werden.

Mehr Vertrauen!

Es gibt vielleicht noch ein Drittes und das ist die Frage der Relevanz. Selbstverständlich weist die Erzählung jener Angst im Prinzip über das individuelle Erleben hinaus. Aber ist es jeweils gut genug gebaut, um nicht einfach nur Therapie vor Publikum zu sein? Autobiografisches und autofiktionales Erzählen sind ja derzeit fast der Goldstandard des öffentlichen Schreibens, da lassen sich genug misslungene Beispiele finden. Es sollte eben nicht darum gehen, eine voyeuristische Terrorlust zu bedienen. Aber worum geht es denn dann?

„Übernehmen Sie ruhig die Aufgabe einer Teilfunktion, die aber versorgen Sie genau …“ Dieses Mantra verfolgt Fühmann in „22 Tage“. Und letztlich ist das die Auflösung: Die eigene Geschichte zu erzählen ist die einzige Teilfunktion die sich wirklich genau erfüllen lässt. Das sagt noch nichts über die Form aus, aber zu malen fang ich halt nicht mehr an und meine Gedichte sind ein Rotz. Es bleibt die Prosa, als Ausweichmedium das Journalistische. Nur dauerhaft drücken kann ich mich nicht mehr.

Wenn die Angst doch so dringend zum Tanz bittet, ist die entscheidende Frage also nicht die danach, wo der nächste Ausgang zu finden ist, sondern: „Wer führt?“

im Bild oben: Dancing Queen

Lichtenhagen und ich – Episode IV

Im Moment krieg ich jede Geschichte auf Fascho gedreht. Das liegt nicht nur daran, dass die halt auch überall sind, wenn man genauer hinschaut. Nein was mich umtreibt, ist etwas anderes. Jahrzehntelang habe ich es vermieden, über Nazis im allgemeinen und die sogenannten Baseballschlägerjahre im besonderen zu schreiben. Hie und da eher widerwillig was kleines, aber nach Möglichkeit nix. Dieser Tage jedoch kann ich kaum einen Gedanken formulieren, in dem es nicht irgendwo rumhitlert. Also, what’s up?

Schon immer bin ich fasziniert von Menschen, die sich an alles mögliche aus ihrer, auch frühen, Kindheit erinnern. Die kennen sogar noch die vollen Namen ihrer Spielgefährt*innen im Kindergarten. Völlig unklar. Ich bekomme aus dem Vorschulalter bis auf ein-zwei Fetzen gar nichts zusammen. Aber auch aus späterer Kindheit/früher Jugend ragen nur extrem wenige Inseln aus einem Nebelmeer des Vergessens.

Die Kindheit in jenem unmöglichen Land zugebracht zu haben, verdunkelt ja sowieso einiges. Erinnerung an die DDR ist recht häufig Klischee und Langeweile. Das ist es vielleicht, was mich an Mehlis, Hauswald oder auch Klöppel zunehmend interessiert. Wie über deren Bilder doch noch einmal eine andere Geschichte erzählt wird, als die von Stasi, Spreewaldgurken und FKK.

Meine Geschichte sehe ich da noch nicht unbedingt, aber immerhin. Neben dieser ganzen abgeschmackten Super-Illu-Sentimentalität die das DDR-Bild der Leute, die ja selber dabei gewesen waren, zu dominieren scheinen, steht aber noch etwas anderes schier unüberwindlich in der Sicht, zumindest in meiner: das brennende Sonnenblumenhaus.

Jede Erzählung der DDR (und damit meiner Kindheit) aus heutiger Sicht funktioniert nur in Kenntnis ihres unrühmlichen Endes und ihrer Nachspielzeit, der Pogrome der frühen 1990er. Die ostdeutschen Baseballschläger sind narrativ (you gotta love your vocabulary) untrennbar verwoben mit den vierzig Jahren davor. Wie sollte es auch anders sein. Neben den Verbrechen jener Zeit und der Zerstörung so vieler Leben, nicht nur der Ermordeten, haben die Faschos so aber noch etwas kaputt gemacht, die Erzählung vom Leben selber nämlich.

Die Ungeheuerlichkeit des damaligen Geschehens, die beiden Guerickeschen Halbkugeln aus Schmerzen und Angst haben den ganzen anderen Erinnerungen auf Jahrzehnte den Sauerstoff geraubt, sie vollständig in ihrem dunklen Vakuum erstickt. Vielleicht bin ich den Raritäten der DDR-dissidenten Literatur ja auch deshalb ein paar Jahre lang so nachgejagt, weil ich Botschaften aus einer Welt lesen wollte, in der eine andere Zukunft vorstellbar war als die mit der verwesungssüßen „Wir-hattens-doch-so-schön“-Klebrigkeit auf der einen und den Prügelnazis auf derselben Seite. Irgendwas wo ich glücklich sein könnte. Irgendwas ohne Brandgeruch.

Das machen Nazis, ob real oder metaphorisch: alles immerzu in Brand setzen. Wie banal werden die gewöhnlichen Erlebnisse einer gewöhnlichen Jugend vor dem Hintergrund der ständigen Bedrohung. An die Namen der Schläger erinnere ich mich übrigens noch recht gut (und nicht nur ich, wie ich beim 30-jährigen Klassentreffen in vergangenem Sommer feststellen durfte). Die haben den evolutionär geschulten Panikbutton aktiviert. Das Gesicht der Gefahr war anscheinend die wichtigste Information und die hat schon damals alles verdrängt. Die Namen und Gesichter der Sitznachbar*innen im Grundschulalter zum Beispiel.

Lichtenhagen ist nicht der Schlüssel zu meiner Erinnerung, Lichtenhagen ist das in schweren Ketten liegende Schloss davor. Schreiben ist eventuell ein Schlüssel. Einer, dem ich mich lange verweigert habe, weil es nicht sonderlich schön ist, sich einzugestehen, dass das eigene Leben, Fühlen und Denken so massiv beeinflusst ist von denen. Bloß kein Opfer sein.

Es ist ja schon unter normalen Umständen ein immer wieder empörender Zustand, welche Impulse aus tiefster Vergangenheit in ein erwachsenes Dasein hineinwirken. Wie schwer es ist, das erstens zu sehen und sich zweitens davon zumindest in Teilen frei zu machen, ist bekannt. Millionen an irgendwelchen blöden Eltern abgearbeitete Therapiestunden senden Urlaubsgrüße aus der Hölle. Kindheitsmuster, Ödipus und was nicht alles, ok, heilen sie mich, Frau Doktor. Aber Faschos? Echt jetzt? Ich will nicht drüber reden.

… to be continued (ganz offensichtlich)

oben im Bild: Mecklenburger Allee 19 in Rostock-Lichtenhagen

Packpapier

Was Seesslen in der taz zum Verschwinden der der gedruckten Zeitung schreibt, beschäftigt mich jetzt schon ein paar Tage. Ich möchte die ganze Zeit widersprechen, bin aber unschlüssig, worauf eigentlich. Entweder durchdringe ich den Text nicht so richtig oder er ist für Seesslens Verhältnisse einfach ungewöhnlich argumentiert. Üblichererweise ist das bei ihm doch immer ziemlich deutlich. Mäandernd bisweilen, ja, aber am Ende doch recht unmissverständlich durchgetaktet. Stoff zum drüber nachdenken, dran reiben. Klar und nüchtern hergeleitete Gedanken eben.

Hier aber lese ich eine ungewohnte Sentimentalität raus, die sich, wie es in ihrer Natur liegt, aus sich selbst heraus begründet und deshalb keiner weiteren Erläuterung bedarf. Oder übersehe ich was? Vielleicht fehlt mir aber auch einfach der Bezug zur Zeitung als papiernes Objekt. Ich hatte früher Abos, fand es auch ein ganz erhebend, das erste Mal so eine Zeitung mit einem Text von mir drin in der Hand zu haben. Aber, dass ich die Kulturtechnik vermissen würde, die „Rituale des Alltagslebens“, die Beobachtung „wie einer faltet, die andere hinlegt“ usw, kann ich nicht sagen.

Funny enough, ich halte die Einstellung gedruckter Zeitung ganz generell trotzdem für einen Fehler, aber nicht, weil die Nachrichten beim Übergang in ein anderes medium „ihr Wesen verändern“ (eine Charakterisierung des Prozesses die ich, nebenbei, nachvollziehen kann). Es scheint mir nur eher eine Fortsetzung des verlegerischen Missverständnisses in der Einordnung des eigenen Geschäfts. Eine Art Trotz fast. „Nee, jetzt nicht mehr gedruckt. Ätsch“. Während die Verlage nämlich den digitalen Bereich zunächst nur auf sein Marketingpotential hin abgeklopft haben und dabei über Jahre, Jahrzehnte, nichts von den journalistischen Möglichkeiten im Netz begriffen, scheinen sie nun das Marketingpotential der Printausgaben zu unterschätzen.

Selbstverständlich bringt eine gedruckte Zeitung ab einem bestimmten Punkt (Rückgang Abos, Werbung / Anstieg Druck-, Papier- und Vertriebskosten) keinen unmittelbaren Gewinn mehr. Das konnten sich selbst mäßig begabte Verleger schon vor einer ganzen Weile selber ausrechnen. In der Öffentlichkeit sichtbar zu sein, sei es an Kioskauslagen, sei es an diesen unpraktischen Zeitungshaltern in Cafés, kommuniziert aber die Marke in eine Sphäre, die sowohl von digital natives, als auch von den sentimentalen Kulturtechnikern gelegentlich betreten wird. Das spannende an so einem Marketing ist, dass die Maßnahme zur Steigerung der Wahrnehmung sich immerhin zum Teil direkt selber finanziert: durch Abos und Verkauf. Und es ist eine Form der Werbung, die mE nicht ganz so gehasst wird, wie blinkende Banner auf Webseiten oder über den unmittelbaren Werbezweck hinaus so nutzlos ist wie Plakate an Litfaßsäulen. Aber egal.

Anlass für den Seesslens Text war ja eventuell die Ankündigung der taz, im Oktober 2025 das tägliche Print einzustellen. Die Wochenendausgabe und der Onlinebetrieb sollen bleiben. Ich weiß, die Sprachregelung bei dieser „Seitenwende“ (ich hoffe, das ist selbst ausgedacht und nicht zu viel Geld für ne Agentur bei drauf gegangen) ist, dass man damit ganz vorne dran sei an der Entwicklung der Branche. Was Quatsch ist. Eine Wochenzeitung mit angeschlossenem aktuellem Onlinebetrieb ist schließlich schon ein etwas älteres Konzept. Ich glaube ich hab davon das erste Mal vor bald 30 Jahren gehört. Aber auch das ist egal.

Nicht egal ist Seesslens These, dass eine bestimmte Form ziviler und demokratischer Debatte und Öffentlichkeit an ein bestimmtes Medium, die papierne Zeitung, gebunden ist. „Behauptung“ sage ich deshalb, weil die Hauptaussage „Die Zeitungen sterben, der Demokratie geht es auch nicht besonders. Vielleicht hat das eine doch etwas mit dem anderen zu tun.“ eine Koinzidenz vielleicht ganz richtig beobachtet. Die Kausalität aber wird mir nicht hinreichend begründet. Und ich glaube, das ist es auch was mich stört. Dass das, was der Ausgangspunkt einer Überlegung sein könnte, zumindest bei diesem Text ihr Abschluss ist. Vielleicht will ich ja gar nicht widersprechen, sondern würde nur gerne mehr erfahren.