Vorbei, vorbei

Neulich stolperte ich auf Mastodon über einen interessanten Gedanken. Ausgehend von der gemeinhin geteilten Beobachtung, dass eventuell die Baseballschlägerjahre zurück seien, stelle sich doch die Frage, wie genau die eigentlich mal zu Ende gegangen wären. Das vorgetragene Erkenntnisinteresse erschließt sich sofort: „Gibt es hier Muster aus der näheren Historie, die sich aufs Heute übertragen und wiederholen lassen?“

Ich kann immerhin sagen, wann die Baseballschlägerjahre vorbei waren: In dem Moment wo ich aus der Betonburg meiner Jugend raus war. Da genügte bereits das Jahr Wehrdienst als Abstand. Auslandsaufenthalt, Studium, Wohnen im Stadtzentrum taten ihr übriges.

Spät in den 90ern, das Rostocker JAZ war zu der Zeit noch sehr zentral gelegen zwischen Fußgängerzone und Universitätsimmobilien, spielte ich dort an einem Abend Billard mit einem mir bis dahin nicht bekannten ein paar Jahre jüngeren Menschen. Im halbkaputten Schummerlicht, mit dem Blick ohnehin die meiste Zeit auf dem Tisch, war ich mir nicht ganz sicher, aber der schien mir ein recht großes Feuermal auf der einen Gesichtshälfte zu haben. Dass das aber ein Bluterguss war, realisierte ich erst, nachdem er erzählte wo er herkam, wie ich aus den Neubaugebieten des Rostocker Nordwestens nämlich und dass er grad wegen Schmerzen etwas Mühe habe, aufzutreten. Zum Gesicht eine beiläufige Bewegung. Ein echter Mecklenburger eben. „Achso ja, das auch. Das is frisch.“

Achso ja, vorbei für mich.

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Wieder reingezogen wurde ich dann um die Jahrtausendwende. Meine Versuche, in Berlin journalistisch zu landen, führten mich eher unwillig zurück nach Wismar, nach Greifswald, nach Dessau. Ich kam aus dem Osten, hatte hier und da noch lose Kontakte. Niemand konnte die Toten erklären. Selbst sie zu zählen ist ja bis heute ein schwieriges Unterfangen. Ich habs nicht lange ausgehalten. Hinterbliebenen gegenübersitzen, deren Schmerz für eine Öffentlichkeit zu moderieren, die es entweder nicht hören will oder schon weiß, dass der Osten halt so ist… Das war ein bisschen zuviel Gewicht auf das Gepäck drauf, dass ich, immer noch ziemlich jung, ohnehin schon mit mir rumtrug.

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Meine andere Erinnerung stammt ungefähr aus derselben Zeit, ein bisschen später vielleicht, wahrscheinlich Landtagswahlkampf 2002 in MV. Ich wohnte schon eine ganze Weile nicht mehr dort, die Heimatbesuche wurden sporadischer. Mich verwunderte damals beim Gang durch Rostock-Schmarl, dass anders als früher die Faschos gar nicht mehr zur Bewachung ihrer Wahlplakate patroullierten. Ja, aber klar doch, niemand überklebte oder riss die ab. Vorbei, vorbei.

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Das wäre mein Muster aus der näheren Historie. Selbstverständlich gibt es Konjunkturen bestimmter Gewaltformen und Ausbrüche, die konkreten Umständen entwachsen, oftmals von Zufällen geprägt, die sich dann gegenseitig verstärken oder abflachen. Das Gefühl einer Verbesserung zu bestimmten Zeiten ist jedoch bisweilen nur eines der eigenen Nichtbetroffenheit. Bedrohungspotential ist eben schwer von außen messbar. Wer nicht sehr genau hinschaut, übersieht den Schatten des Baseballschlägers leicht. Einige der Antworten im besagten Mastodon-Thread zielen denn auch ein wenig in diese Richtung.

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Radikalisierung und Brutalisierung können als einigermaßen stetiger Prozess beschrieben werden, der aber eher schubweise, in Abständen sichtbar wird. Die sind einerseits geprägt von den offensichtlichen Konjunkturen, andererseits aber auch von beiläufiger Ignoranz oder dem aktiven Nichtsehenwollen der Mehrheitsgesellschaft.

Es kann durchaus sein, dass die Geschichte der sogenannten Baseballschlägerjahre so unvollständig geschrieben ist, dass nicht einmal klar ist ob und wann sie je zu Ende waren. Die Frage, wie sie in historischer Analogie zu bekämpfen wären, ließe sich demzufolge derzeit auch nur als negativer Ausschluss, als „so nicht“, beantworten. David Begrich macht das zum Beispiel bei den Blättern mit einem knappen, informierten und klaren Beitrag wider das schon in den 1990ern offensichtlich fehlgeleitete Konzept der akzeptierenden Jugendsozialarbeit mit den Rechtsextremen.

Auch Begrich geht dabei ganz automatisch von der „Welle rechter Gewalt wie in den 1990er Jahren“ als etwas zunächst Vergangenem aus. Das ist sicher gut begründet, und vielleicht ist es ja auch einfach so, dass es verschiedene Stadien gibt, die mit messbaren Faktoren auch gut genug für eine valide Etappen-Erzählung voneinander abgrenzbar sind.

Als Baseballschlägerjahre könnte dann das konkrete, zeitlich begrenzte Geschehen bis etwa zur Jahrtausendwende bezeichnet werden. Es ließe sich argumentieren, dass dann für ein gutes Jahrzehnt die innere Radikalisierung entscheidender wird und die Konsolidierung der Szene (unter Begleitung der Verfassungsschutzbehörden, nebenbei bemerkt), inklusive Ausbildung eines im Untergrund operierenden terroristischen Organisationsteils (unter Begleitung, achundsoweiter).

Darauf folgt der Aufstieg eines lange umkämpften parlamentarisch hegemonialen Arms der Bewegung. Diese Schritte gehen aber jeweils nicht zu Ende, sondern ineinander über. Es gibt ideelle und personelle Verbindungen, Wiederholungen, auch Abweichungen. Bei dieser Betrachtungsweise verliert die Ausgangsfrage, zumindest ihrem Wortsinne nach, ein wenig den Sinn. Schließlich geht sie, wenn auch nur von einem vorläufigen Abschluss, aber doch von einer irgendwie erfolgreichen Befriedung der Situation aus. Die ist so nicht erfolgt, würde ich mal vermuten. Das zeitweise Fehlen potentieller Opfer im Nahfeld und die szeneinternen Organisations- und Konsolidierungsbestrebungen hatten eventuell den Effekt einer zeitweise verminderten Straßengewalt (und nicht einmal da wäre ich mir pauschal sicher. War schon lange nicht mehr Billard spielen). Jedenfalls war das gewiss kein Zeichen des Erfolgs im Zurückdrängen der Gefahr.

Wenn sie also nicht im engeren Sinne zu Ende gingen, kommen sie dann überhaupt wieder, die Baseballschlägerjahre? Die konkrete Situation der allgemeinen Gesetz- und Zukunftslosigkeit auf dem Gebiet des ökonomisch, politisch und kulturell implodierten einen deutschen Staates hat ja derzeit keine unmittelbare Entsprechung (künftige Näherungen durch Klimakatastrophe und sonstige übermächtige Faktoren sind da nicht ausgeschlossen).

Auch hat sich die Personalsituation ja geändert – und das nicht unbedingt zugunsten der progressiven Kräfte. Der parlamentarische Arm allein macht da schon einen bedeutenden Unterschied. Das Gaslighting der 90er Jahre war schlimm genug, die aktive Organisationsarbeit durch eine bundesweit etablierte Struktur ist da eine erheblich andere Nummer. Bestimmte Erscheinungsformen mögen da selbstverständlich ähnlich sein, ihre Einbettung aber hat eine völlig andere Qualität.

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Aber auch auf der anderen Seite hat sich einiges getan. Ich denke zum Beispiel, dass Austausch und Gegenwehr mehr geworden sind und ein größeres, wenn auch in Teilen vages Bewusstsein für die Dringlichkeit des Handelns besteht. Sowas wie die organisierten Anreisen von Unterstützer*innen zu den ganzen Provinz-CDS zum Beispiel wäre vor 30 Jahren so nicht passiert. Es hätte diese CSDs schon gar nicht gegeben. Gut, dass es jetzt anders versucht wird.

Der aktuelle Stand präsentiert bei allen Ähnlichkeiten seine eigenen Herausforderungen und Kämpfe, für die Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden können und müssen. Dennoch wird diese Phase irgendwann ihren eigenen Namen bekommen. Einen der vielleicht mal nicht die Waffe der Faschos in sich trägt, sondern mehr vom Widerstand erzählt. Und wenn man sich anschaut, wo im Moment die vorderste Kampflinie verläuft, ob nun in Bernau oder im Bundestag, würde ich sagen, wird das irgendwas mit Regenbogen oder so sein.

im Bild oben: Es wird nicht leichter…

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Mittelschicht und Meckerei ohne Links

Zwei Texte, gelesen in den letzten Tagen. Einer über die geile, actionreiche Debatte um die Mittelschicht als etwas verschwommen definiertes Ideal. Und einer über die ach so böse, böse Technik, die uns alle zu Zombies macht.

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Nils C. Kumkar und Uwe Schimank reflektieren beim Merkur den großen Erfolg der Gesellschaftsanalyse von Andreas Reckwitz in „Das Ende der Illusionen“ und lassen es gleich am Anfang ordentlich knallen: „Reckwitz prägt also nicht deshalb die Debatte, weil seine Diagnose »stimmt«, sondern weil sie »passt«.“ Es wird von den beiden statt dessen nämlich eine erhebliche Differenz zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und gesellschaftlicher Selbstbeobachtung angenommen.

Kumkar und Schimank kritisieren die Beschreibung der Mittelstandsgesellschaft als dominantes nicht nur von Reckwitz idealisiertes Selbstbild, weil sie empirisch so gar nicht (mehr) existiere. Die beschriebenen gesellschaftlichen Bruchlinien gäbe es nicht, weil die von Reckwitz vorausgesetzte Sortierung in „alte“ und „neue“ Mittelklasse allein schon die Differenzen innerhalb der als weitestgehend homogen angenommenen Blöcke völlig außer acht lasse. Die durch so viele politische Lager rezipierte Analyse könne demnach überhaupt nicht zur soziologischen Durchdringung möglicher gesellschaftlicher Spaltung herangezogen werden. Jedenfalls nicht, wenn man an faktischer Realität bleiben wolle.

Nun hab ich den Reckwitz gar nicht gelesen (er liegt hier irgendwo rum, auf einem virtuellem Turm des vernachlässigten Wissens), die Kritik ist mir aber lustigerweise sofort plausibel, zugegebenermaßen sicher auch deshalb, weil sie im wesentlichen dem Hassblock gegen die vermeintliche Identitätspolitik das eine oder andere Argument zu entziehen scheint. Ob sie nun aber mehr auf die Gläubigen als den Propheten zielt, oder gar beide gleichermaßen trifft, überlasse ich zunächst den Beleseneren.

Erinnert hat mich das ganze jedenfalls an die einzige Veranstaltung, der ich in meiner Freizeit, wenn die Erinnerung mir keinen Streich spielt, in den letzten 12 Monaten live in einem geschlossenen Raum beiwohnte. „Mythos Mittelschicht“. hieß die (die Aufzeichnung hat leider in der ersten Stunde einen ganz beschissenen Ton). Dort versuchten die Gäste Volkan Ağar, Julia Friedrichs und Mareice Kaiser das Problem mit dem Selbst- und Idealbild der gesellschaftlichen Mitte einzukreisen.

Die Kombination aus den dreien war an sich ganz konstruktiv, wenn auch durch schwache Moderation nicht so richtig zusammengeführt. Friedrichs zB mit dem sehr nützlichen Beharren auf einer sauberen Empirie, besonders hilfreich dabei der Hinweis darauf, dass die Einkommensmittelschicht messbar an Bedeutung verliere und vererbbares Vermögen immer entscheidender für nachhaltige Mittelklassenzugehörigkeit werde. Kaiser und Ağar dagegen mit dem auch in vielen ihrer Texte herausklingenden Balanceakt, die eigene Ausgeschlossenheitserfahrung nicht einfach nur als erbauliche Geschichte individueller Auseinandersetzungen und Aufstiege, sondern im größeren Zusammenhang der allgegenwärtigen ökonomischen Unterdrückung zu erzählen.

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Eine Sache die mich ein wenig genervt hat während und dann auch noch nach dem Lesen war ein Vorabauszug aus einem Buch beim Guardian. Um gestohlene Aufmerksamkeit geht es da, wie die Internetkonzerne unseren Fokus zerstören und welche schlimmen neurologischen und kognitiven Folgen das hat. So weit so schnarch. Normalerweise lese ich derartiges gar nicht erst vertieft, weil solche Aufsätze einfach zu oft von Unkenntnis und Ressentiments und einem furchtbar langweiligen Kulturkonservatismus geprägt sind. Jedoch war der Icherzähler schon beim Einstieg ein so unterträgliches Arschloch, das zB den Versuch beschreibt, seinem unaufmerksamen Neffen das Telefon aus der Hand zu schlagen und zwar einsieht, dass das Kind keine Schuld trage, aber der Autor sich überhaupt nicht für den eigenen autoritären Impuls zu schämen scheint, also so ein unglaubliches Arschloch, dass ich nicht so recht aufhören konnte, weil ich einfach wissen musste, was der noch für einen Mist fabriziert.

Dann wird das ganze aber sogar ganz interessant, mit Bezügen zu wissenschaftlichen Studien und insgesamt nicht unklugen Beobachtungen, allerdings, und sowas ärgert mich wirklich, ohne Links im Text zu irgendwelchen Quellen. Dafür lauter Angebereien, wohin der Autor nicht alles geflogen war, um mit irgendwelchen Koryphäen zum Thema zu plaudern. Ich mein, auch wenn es ein Buchauszug ist: Es ist 2022, und es steht auf einer Webseite. Wo ist das Problem, verdammtnochmal Links zu setzen? Oder stört das den Fokus auf den Text?

Egal, denn als ich dann mehr über den Autor erfahren wollte, musste ich lernen, dass der, Johann Hari, schon mehrfach wegen schwerer Verfehlungen gegen journalistische Berufsethik auffällig geworden ist. (Plagiate, noch mehr Plagiate, hinterhältige Kampagnen) So jemand hätte die Links zu seinen Quellen mit dem Text bei mir in der Redaktion gleich mitliefern müssen, wenn ich schon die etwas seltsame Entscheidung treffe, Werbung für ihn zu machen.

Aber was soll‘s, so wird der Turm noch zu lesender Bücher mit diesem nicht höher gemacht, bleibt mehr Zeit für Andreas Reckwitz, nicht wahr.