Wann haben Sie das letzte Mal im Theater gesessen und mit den Tränen gekämpft? Und verloren? Mir ist das vor zwei Jahren passiert und da musste ich grad wieder dran denken.
Aber von vorne.
„Ableismus“ – das klingt schon sehr nach akademischem Jargon. Es ist eben schwer, die Dichte solcher Vokabeln in verständlichere Übertragungen zu transportieren. Und wenn, dann werden das auch gerne mal Wortungetüme, die einfach nicht praktikabel und letzlich genauso unverständlich sind. „Fähigkeitsideologie“ befindet sich für mich grad noch diesseits der Grenze zum unbenutzbaren und stellt mE in dieser Übersetzung die Kritik am Ableismus gleich ganz gut mit aus.
Kennengelernt habe ich dieses Wort beim Blättern durch die halbwegs neu erschienene Geschichte des inklusiven Theaters Hora aus Zürich (dort zitiert nach Jana Zöll). Aufmerksam geworden war ich auf das Buch mit dem schönen Titel „Je langsamer, desto schneller“ durch eine Rezension in der taz. Das Theater aber hatte ich vorher schon erlebt. Leider erst einmal, vor zwei Jahren eben, in Frankfurt/Main zum Festival Politik im Freien Theater. Dabei bringt Hora seit mehr als dreißig Jahren Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen auf die Bühne, gilt als Musterbeispiel des postdramatischen Theaters, tourt immer wieder um die halbe Welt, sahnt Preise ab und so weiter, und so weiter. Hätte man auch eher schonmal anschauen können.
Na jedenfalls: Das Hora Theater auf der großen Bühne im Frankfurter Schauspielhaus zu erleben, war für mich ein großer Glücksfall, unglaublich spannend und berührend.
„Es war keinmal oder das Märchen von der Normalität“ heißt das Stück, eine Kooperation mit dem feministischen Performancekollektiv Henrike Iglesias. Die Schauspieler*innen erzählen darin von der Welt, wie sie ist und wie sie sein könnte, oder auch sein sollte. Es geht um Zurücksetzung und Selbstbehauptung, verliebt sein, Erwartungen, Enttäuschungen, Tanzen, Traurigkeit, Lebensfreude. Einmal quer durch die ganze Bandbreite menschlicher Erfahrung.
Und an einer Stelle erzählt eine Darstellerin vom angegafft und angefeindet werden im Bus oder in der Tram. Sie steht da, allein, vorne auf dieser riesigen, ziemlich spartanisch ausgestatteten Bühne und erzählt, wie sie das alles nervt und verletzt, beschreibt so eine hässliche Szene und schließt (ungefähr in diesem Wortlaut und jenem Schweizer Sound): „Und dann hab ich Feuer gespuckt und bin nach Hause geflogen.“
Dieser Satz hat mich über Monate verfolgt. Bis heute hallt der nach. Dieser gewaltige Traum von Autonomie, von Souveränität, wie immer man das nennen will, hatte mich kalt erwischt und wie eine Kanonenkugel umgehauen. Da stemmte sich jemand mit aller Kraft gegen die Wände um sich herum. Für einen Moment konnte ich mich da wiedererkennen in der jungen Frau auf der Bühne. Seitdem ist mir wieder klarer, was ich mir von Kunst wünsche, Theater zumal. Egal, ob post-diesdas oder klassisches deutsches Sprechtheater: Da stehen lebende Menschen, tun und erzählen irgendwas. Ich möchte die spüren können. Alles andere ist Netflix.
Das liegt selbstverständlich nicht nur an denen da oben. Ich glaube, an jenem herbstlichen Nachmittag in Frankfurt ist mir nochmal sehr bewusst geworden, bewusster vielleicht als je zuvor, dass das eine gegenseitige Abmachung, eine Verschwörung ist, über die Rampe hinaus zwischen Bühne und Parkett. Beide Seiten müssen das wollen und können (und meine Fresse, können und wollen die Horas das). Selbst dann wird es nicht immer funktionieren, aber ohne den Versuch scheint es mir gänzlich sinnlos zu sein.
Vielleicht ist das auch die eine Fähigkeitsideologie, die man gelten lassen könnte: das Vermögen zu berühren und sich berühren zu lassen. Das immer wieder aufs neue angehen können, nicht aufgeben, Feuer spucken.
im Bild oben: Ein Schnappschuss, getätigt beim Auftauchen aus dem Frankfurter Untergrund.