Rohdiamanten

Von manchen Büchern möchte ich nicht, dass sie aufhören. Das muss mir nicht unbedingt bewusst sein. Dann macht sich unterschwellig das Gefühl bemerkbar, indem sich unwillkürlich die Lesegeschwindigkeit verringert. Nach jedem Kapitel lege ich das Buch zur Seite. Das Lesen wegprokrastinieren. Während die ersten zwei Drittel in wenigen Tagen verschlungen waren, braucht es für das letzte dann mindestens doppelt so viel Zeit.

Bei Joe Westmorelands vor ein paar Wochen neu aufgelegtem autofiktionalen Roman „Tramps like us“ war es mal wieder soweit. In gewisser Weise schmerzlich, denn der Unwille zum Ende zu kommen, liegt im Stoff begründet. Worauf die Coming-of-age-Geschichte eines jungen Schwulen und seiner Freund*innen zwischen Mitte der 1970er und Mitte der 80er in vielen Fällen hinausläuft, ist von Anfang an klar. Westmoreland sagt, dass der Arbeitstitel des Buches „How I got HIV“ war. Gut, dass der in die Schublade gewandert ist.

Selbstverständlich stellt „Tramps“ sich der Katastrophe. Entscheidender aber ist, dass das Buch sich dem Leben seiner Protagonist*innen öffnet, den Ausgestoßenen, Verwahrlosten, Einsamen. Die finden zueinander, feiern und lieben sich. Sie halten sich mit beschissenen Jobs über Wasser, nehmen zu viele Drogen, hören gute Musik. „I want my friends to be remembered“, beschreibt Westmoreland seinen Antrieb in einem Interview aus Anlass der Neuveröffentlichung. Die Erinnerung an die Freund*innen lebendig zu halten ist ein hervorragender Grund, auch nur irgendetwas zu schreiben.

Das Schöne ist, dass es ihm tatsächlich gelingt, seiner Gang ein Stück Unsterblichkeit zu schenken, er gleichzeitig aber weit mehr erzählt. Ich habe einen Augenblick gebraucht, mich mit dem sehr zurückgenommenen, tagebuchhaften, dabei fast schon naiven Stil anzufreunden. Westmoreland legt in dieser strikt beobachtenden Collage einzelner Szenen ein Mosaik von Typen und Orten, ohne dabei oberflächlich zu verallgemeinern. Es werden keine Interpretationen mitgeliefert, dafür umso mehr Material für eigene Bewertungen. Rohdiamanten.

Die Brutalität der Herkunftsfamilie mit dem Vergewaltiger als Vater wird mit derselben nüchternen Genauigkeit beschrieben, wie eine wilde Partynacht in New Orleans oder der von AIDS und begleitenden Krankheiten verursachte körperliche Verfall der engsten Freunde. Das ist alles passiert und so soll es auch erzählt werden, weil eben nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist.

Leider sehe ich nicht so recht, dass „Tramps“ so bald in deutscher Übersetzung erscheinen wird (es ist schon eine Wunder, dass es überhaupt noch einmal gedruckt wurde, nach der völlig abenteuerlichen Publikationsgeschichte des ersten Versuchs, inklusive Herzinfarkt des Verlegers und einer geplanten Buchpremiere in New York am 11. September 2001). Schade ist das, weil es sich eben nicht um ein bisschen lokale Minderheiten-Folklore handelt. Hier liegt, eventuell gar nicht einmal unbedingt ganz bewusst so angegangen, eine Erzählweise vor, die ihre Teilchronistenpflicht ernst genug nimmt, um durch ein kleines Fenster einen doch sehr weiten Blick auf eine ganze Welt in ihrer Zeit zu öffnen.

In seinem im englischsprachigen Raum viel gefeierten und ebenfalls bislang nicht auf deutsch erschienen Debüt („Gay Bar – Why we went out“, 2021) näherte Jeremy Atherton Lin sich essayistisch einem anderen Abschnitt der selben Welt an. Da musste ich bei „Tramps“ öfter dran denken. Während Westmorelands Prosa ungeschliffener und unmittelbarer daherkommt, zeigt Lin deutlich, dass er nicht zufällig aus gebildeter intersektionaler Perspektive schreibt (inklusive gelegentlichen Namedroppings irgendwelcher hipper Philosophen :). Neben der interessant zu lesenden eigenen Geschichte als junger schwuler Asian-American Mitte der 1990er zwischen Großbritannien und den USA, reflektiert er unter anderem über die verschiedensten Diskriminierungslinien, auch über die Normierung und Borniertheiten innerhalb der Szenen. Seine Tonlage ist mir dabei sehr angenehm. Noch dazu erkenne ich vieles wieder, gerade auch wegen generationeller Nähe.

Lin ist es in diesem Nachruf auf eine untergegangene Landschaft des Begehrens sehr wichtig, der von Brüchen, Vergessen und Verschwinden geprägten Tradierung queerer (dabei vor allem schwuler) Subkulturen auf die Spur zu kommen. Denn was bedeutet es, wenn die Lebenserfahrung und Geschichte der vermeintlichen gesellschaftlichen Mehrheit wichtige Teile, wenn nicht sogar den Kern des eigenen Selbst schlicht nicht abbildet und der Arbeitsspeicher der selbst gewählten sozialen Verbindung mit jeder nachwachsenden Generation komplett auf Null gesetzt wird? Das Finden des eigenen Ortes innerhalb der schwulen/queeren Szene ist bei Westmoreland wie Lin trotz der 20 Jahre Unterschied faszinierend ähnlich.

Letzterer liefert auch eine schlüssige Erklärung für die Art der erst unsicheren und zögerlichen, dann umso explosiveren Aneignung des neuen Raums: „I didn’t know how else to learn history but to try it on.“ (etwa: „Ich wusste nicht wie Geschichte, anders als sie anzuprobieren, zu erlernen war.“) Wohlgemerkt, die eigene Geschichte, die eben nicht die der biologischen und geografischen Herkunft, sondern die eines Versprechens auf Künftiges ist. Oder wie es in „Tramps“ heißt: „Home was something in the future that had yet to be created, not someplace in the past.“ (etwa: „Zu Hause war etwas in der Zukunft erst zu erschaffendes, und nicht ein Ort in der Vergangenheit.“)

Die subversive Kraft des Wissens um eine mögliche andere Zukunft, eine Heimat nach eigenen Vorstellungen, abseits der vorgefundenen Zumutung von Welt, kann in ihrer subtilen Radikalität durchaus überraschen. Deshalb ist es schon ganz gut, gelegentlich an dieses immense positive Potential erinnert zu werden. Ich zumindest denke da nicht jeden Tag dran, aber wenn ich solche Bücher lese, immerhin ein bisschen öfter.

im Bild oben: Tom of Wrocław oder so ähnlich.

Wer das Walter-Benjamin-Zitat findet, kann sich die Jeremy-Atherton-Lin-Gedenkmedaille umhängen.

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Vorbei, vorbei

Neulich stolperte ich auf Mastodon über einen interessanten Gedanken. Ausgehend von der gemeinhin geteilten Beobachtung, dass eventuell die Baseballschlägerjahre zurück seien, stelle sich doch die Frage, wie genau die eigentlich mal zu Ende gegangen wären. Das vorgetragene Erkenntnisinteresse erschließt sich sofort: „Gibt es hier Muster aus der näheren Historie, die sich aufs Heute übertragen und wiederholen lassen?“

Ich kann immerhin sagen, wann die Baseballschlägerjahre vorbei waren: In dem Moment wo ich aus der Betonburg meiner Jugend raus war. Da genügte bereits das Jahr Wehrdienst als Abstand. Auslandsaufenthalt, Studium, Wohnen im Stadtzentrum taten ihr übriges.

Spät in den 90ern, das Rostocker JAZ war zu der Zeit noch sehr zentral gelegen zwischen Fußgängerzone und Universitätsimmobilien, spielte ich dort an einem Abend Billard mit einem mir bis dahin nicht bekannten ein paar Jahre jüngeren Menschen. Im halbkaputten Schummerlicht, mit dem Blick ohnehin die meiste Zeit auf dem Tisch, war ich mir nicht ganz sicher, aber der schien mir ein recht großes Feuermal auf der einen Gesichtshälfte zu haben. Dass das aber ein Bluterguss war, realisierte ich erst, nachdem er erzählte wo er herkam, wie ich aus den Neubaugebieten des Rostocker Nordwestens nämlich und dass er grad wegen Schmerzen etwas Mühe habe, aufzutreten. Zum Gesicht eine beiläufige Bewegung. Ein echter Mecklenburger eben. „Achso ja, das auch. Das is frisch.“

Achso ja, vorbei für mich.

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Wieder reingezogen wurde ich dann um die Jahrtausendwende. Meine Versuche, in Berlin journalistisch zu landen, führten mich eher unwillig zurück nach Wismar, nach Greifswald, nach Dessau. Ich kam aus dem Osten, hatte hier und da noch lose Kontakte. Niemand konnte die Toten erklären. Selbst sie zu zählen ist ja bis heute ein schwieriges Unterfangen. Ich habs nicht lange ausgehalten. Hinterbliebenen gegenübersitzen, deren Schmerz für eine Öffentlichkeit zu moderieren, die es entweder nicht hören will oder schon weiß, dass der Osten halt so ist… Das war ein bisschen zuviel Gewicht auf das Gepäck drauf, dass ich, immer noch ziemlich jung, ohnehin schon mit mir rumtrug.

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Meine andere Erinnerung stammt ungefähr aus derselben Zeit, ein bisschen später vielleicht, wahrscheinlich Landtagswahlkampf 2002 in MV. Ich wohnte schon eine ganze Weile nicht mehr dort, die Heimatbesuche wurden sporadischer. Mich verwunderte damals beim Gang durch Rostock-Schmarl, dass anders als früher die Faschos gar nicht mehr zur Bewachung ihrer Wahlplakate patroullierten. Ja, aber klar doch, niemand überklebte oder riss die ab. Vorbei, vorbei.

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Das wäre mein Muster aus der näheren Historie. Selbstverständlich gibt es Konjunkturen bestimmter Gewaltformen und Ausbrüche, die konkreten Umständen entwachsen, oftmals von Zufällen geprägt, die sich dann gegenseitig verstärken oder abflachen. Das Gefühl einer Verbesserung zu bestimmten Zeiten ist jedoch bisweilen nur eines der eigenen Nichtbetroffenheit. Bedrohungspotential ist eben schwer von außen messbar. Wer nicht sehr genau hinschaut, übersieht den Schatten des Baseballschlägers leicht. Einige der Antworten im besagten Mastodon-Thread zielen denn auch ein wenig in diese Richtung.

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Radikalisierung und Brutalisierung können als einigermaßen stetiger Prozess beschrieben werden, der aber eher schubweise, in Abständen sichtbar wird. Die sind einerseits geprägt von den offensichtlichen Konjunkturen, andererseits aber auch von beiläufiger Ignoranz oder dem aktiven Nichtsehenwollen der Mehrheitsgesellschaft.

Es kann durchaus sein, dass die Geschichte der sogenannten Baseballschlägerjahre so unvollständig geschrieben ist, dass nicht einmal klar ist ob und wann sie je zu Ende waren. Die Frage, wie sie in historischer Analogie zu bekämpfen wären, ließe sich demzufolge derzeit auch nur als negativer Ausschluss, als „so nicht“, beantworten. David Begrich macht das zum Beispiel bei den Blättern mit einem knappen, informierten und klaren Beitrag wider das schon in den 1990ern offensichtlich fehlgeleitete Konzept der akzeptierenden Jugendsozialarbeit mit den Rechtsextremen.

Auch Begrich geht dabei ganz automatisch von der „Welle rechter Gewalt wie in den 1990er Jahren“ als etwas zunächst Vergangenem aus. Das ist sicher gut begründet, und vielleicht ist es ja auch einfach so, dass es verschiedene Stadien gibt, die mit messbaren Faktoren auch gut genug für eine valide Etappen-Erzählung voneinander abgrenzbar sind.

Als Baseballschlägerjahre könnte dann das konkrete, zeitlich begrenzte Geschehen bis etwa zur Jahrtausendwende bezeichnet werden. Es ließe sich argumentieren, dass dann für ein gutes Jahrzehnt die innere Radikalisierung entscheidender wird und die Konsolidierung der Szene (unter Begleitung der Verfassungsschutzbehörden, nebenbei bemerkt), inklusive Ausbildung eines im Untergrund operierenden terroristischen Organisationsteils (unter Begleitung, achundsoweiter).

Darauf folgt der Aufstieg eines lange umkämpften parlamentarisch hegemonialen Arms der Bewegung. Diese Schritte gehen aber jeweils nicht zu Ende, sondern ineinander über. Es gibt ideelle und personelle Verbindungen, Wiederholungen, auch Abweichungen. Bei dieser Betrachtungsweise verliert die Ausgangsfrage, zumindest ihrem Wortsinne nach, ein wenig den Sinn. Schließlich geht sie, wenn auch nur von einem vorläufigen Abschluss, aber doch von einer irgendwie erfolgreichen Befriedung der Situation aus. Die ist so nicht erfolgt, würde ich mal vermuten. Das zeitweise Fehlen potentieller Opfer im Nahfeld und die szeneinternen Organisations- und Konsolidierungsbestrebungen hatten eventuell den Effekt einer zeitweise verminderten Straßengewalt (und nicht einmal da wäre ich mir pauschal sicher. War schon lange nicht mehr Billard spielen). Jedenfalls war das gewiss kein Zeichen des Erfolgs im Zurückdrängen der Gefahr.

Wenn sie also nicht im engeren Sinne zu Ende gingen, kommen sie dann überhaupt wieder, die Baseballschlägerjahre? Die konkrete Situation der allgemeinen Gesetz- und Zukunftslosigkeit auf dem Gebiet des ökonomisch, politisch und kulturell implodierten einen deutschen Staates hat ja derzeit keine unmittelbare Entsprechung (künftige Näherungen durch Klimakatastrophe und sonstige übermächtige Faktoren sind da nicht ausgeschlossen).

Auch hat sich die Personalsituation ja geändert – und das nicht unbedingt zugunsten der progressiven Kräfte. Der parlamentarische Arm allein macht da schon einen bedeutenden Unterschied. Das Gaslighting der 90er Jahre war schlimm genug, die aktive Organisationsarbeit durch eine bundesweit etablierte Struktur ist da eine erheblich andere Nummer. Bestimmte Erscheinungsformen mögen da selbstverständlich ähnlich sein, ihre Einbettung aber hat eine völlig andere Qualität.

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Aber auch auf der anderen Seite hat sich einiges getan. Ich denke zum Beispiel, dass Austausch und Gegenwehr mehr geworden sind und ein größeres, wenn auch in Teilen vages Bewusstsein für die Dringlichkeit des Handelns besteht. Sowas wie die organisierten Anreisen von Unterstützer*innen zu den ganzen Provinz-CDS zum Beispiel wäre vor 30 Jahren so nicht passiert. Es hätte diese CSDs schon gar nicht gegeben. Gut, dass es jetzt anders versucht wird.

Der aktuelle Stand präsentiert bei allen Ähnlichkeiten seine eigenen Herausforderungen und Kämpfe, für die Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden können und müssen. Dennoch wird diese Phase irgendwann ihren eigenen Namen bekommen. Einen der vielleicht mal nicht die Waffe der Faschos in sich trägt, sondern mehr vom Widerstand erzählt. Und wenn man sich anschaut, wo im Moment die vorderste Kampflinie verläuft, ob nun in Bernau oder im Bundestag, würde ich sagen, wird das irgendwas mit Regenbogen oder so sein.

im Bild oben: Es wird nicht leichter…

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Die Rechnung bitte

Die Erinnerungen an den 40. Jahrestag sind etwas verwaschen, wahrscheinlich eine Melange aus mehreren als Schüler in der DDR erlebten Jubiläen. Es gab da gewisse Überlappungen zwischen den Anlässen, Reden, Fahnen, Gesang, Applaus. Eine Art vereinheitlichter Liturgie aus Kyrie, Credo und so weiter. Also versuchte ich mir das konkreter werden zu lassen in der Vergegenwärtigung der Friedensfahrt.

Dieses Fahrrad-Etappenrennen war in jedem Mai ein mit Spannung erwartetes Ereignis. Die Junge Welt druckte zum Beginn, ich glaube doppelseitig, den Tourplan und dann jeden Tag ein auszuschneidendes Passfoto des Gewinners, das in einen dafür vorgesehen Rahmen in diesen Plan eingeklebt werden konnte. Ich habe Olaf Ludwig und Uwe Ampler recht oft und enthusiastisch geleimt. Panini dall’oriente.

Ich dachte, die Friedensfahrt von 1985 sei die mit Etappen in der Ukraine gewesen, aber nein, das war erst ein Jahr später, wie mich die Wikipedia erinnert. Wenige Tage nach Tschernobyl ausgerechnet, weswegen die meisten westlichen Teams auf den Start verzichteten. Der Witz vom strahlenden Sieger bot sich an und wurde auch ad infinitum gerissen.

Nein, ‘85 gab es nur einen kurzen Ausflug nach Moskau, ansonsten die Traditionsroute durch die Tschechoslowakei, Polen und die DDR. Olaf Ludwig, der aus heute nicht mehr rekonstruierbaren Gründen mein Idol war (wahrscheinlich einfach der Sog des Erfolgs), konnte wegen Krankheit leider nicht teilnehmen. ‘86 dann wieder strahlender usw.

Jedenfalls, das Ende des zweiten Weltkrieges war 1985 genauso weit weg, wie in die andere Richtung das aktuelle Jahr. Der direkte Kontakt zu Zeitzeug:innen, Widerstandskämpfer:innen beispielsweise und KZ-Überlebenden war schon allein über Vorträge in der Schule und andere Aktivitäten die der Festigung unserer sozialistischen Persönlichkeit dienen sollten, noch regelmäßig gegeben. Der seltsame erinnerungspolitische Spagat, gleichzeitig besiegt und befreit zu sein, funktionierte ganz reibungsarm für mich. Wir waren die Guten, eine Nation aus Jung- und Thälmannpionieren. Selbstverständlich waren wir befreit worden.

Anders als Gleichaltrige in vielen anderen Familien, war ich außerdem nicht mit Altvorderen konfrontiert, die der offiziellen Linie zum Beispiel mit eigenen Heldengeschichten aus dem Krieg widersprachen. Die Verwandten, mit denen ich näher zu tun hatte, waren ziemlich linientreu und außerdem schlicht zu jung, um selber Täter oder überhaupt irgendetwas aktives gewesen zu sein. Auf dem Nachttisch der einen Urgroßmutter ein Foto von einem Mann in Uniform. Die einzige direkte Verbindung zu – ja, wozu eigentlich? Das war so fremd, dass sich dieser kurze Moment bis heute eingeprägt hat. Ein gerahmtes Bild in der Wohnung der mir ansonsten unvertrauten, vielleicht zweimal überhaupt nur getroffenen Person.

Die Beschäftigung mit deutscher Schuld und Verantwortung verließ bald darauf wegen bekannter historischer Umstände den offiziellen Pfad, oder besser: der Pfad war weg. Der Bogen zurück kam dann vor allem über Shoa-Erinnerung. Ohne Wertung gesprochen, als Beobachtung eher, habe ich das Gefühl, dass der Krieg darüber in den Hintergrund trat. In der DDR also hauptsächlich heldenhafte Sowjetarmee und kommunistischer Widerstand. Danach Fokus auf Genozid und Gerechte unter den Völkern. Immer auf der guten Seite, immer bereit.

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„Auf unserem Boden“ – das ist die vielleicht am häufigsten in den Interviews auftauchende Wendung in Swetlana Alexijewitschs „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“. Da klingt das Entsetzen über und ein Quell der Widerstandskraft gegen den Aggressor durch. In den Protokollen der Soldatinnen, Krankenpflegerinnen, Fliegerinnen, Partisaninnen … wird vieles sichtbar gemacht. Verbitterung, Liebe, Ungerechtigkeit, (zum Teil bestialische) Gewalt, tiefe Verletzungen körperlicher wie seelischer Art, Heldinnenmut. Es gibt Spuren von Kritik an blinder Gefolgschaft, schlechter Versorgung, schwacher militärischer Führung.

Wie ein roter Faden zieht sich aber die Bindung zum eigenen Land, auch im ganz physischen Sinn, durch die Erzählungen. Aus Nebenbemerkungen wird deutlich, dass das schon vor 40 Jahren (das Buch erschien 1985) ein der Generation eigenes Phänomen, zumindest in dieser starken Ausprägung, zu sein scheint. Kleine Entschuldigungsfloskeln, im Sinne von, „so sind wir erzogen worden“, „haben geglaubt“, „anders als die jungen Leute heute“ deuten da Veränderungen in Haltung und Wahrnehmung an.

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„Ich erinnere mich, wie ein verwundeter deutscher Soldat die Hände in die Erde krallte, er hatte Schmerzen, doch ein russischer Soldat sagte zu ihm: ‚Hände weg, das ist meine Erde! Deine ist da, wo du hergekommen bist …‘“ Maria Wassiljewna Pawlowez, Partisanenärztin (aus S. Alexijewitsch, „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“)

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Auf unserem Boden.

Kein Zweifel bleibt bei den Interviewten an der Alternativlosigkeit. Sie wollten und mussten aktiv teilnehmen. Sozusagen Teil der Geschichte werden, sie nicht einfach nur geschehen lassen, sie nicht einfach anderen überlassen. Der darin schwelende Widerspruch zum tradierten Geschlechterbild wird dann wieder in der Nachkriegszeit problematisch. Die da beschriebenen Szenen von Zurückweisung und Verachtung lasen sich für mich fast schwerer als die Berichte von den Kriegsgräueln.

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Debattenbeiträge zu Sondervermögen, Waffenlieferungen, Wehrpflicht und so weiter gibt es ja im Überschuss. Die Unmittelbarkeit der Kriegsdrohung wird da sehr unterschiedlich empfunden, die potentielle eigene Betroffenheit ebenso. Ich finde gut, dass es dabei auch hörbare Wortmeldungen aus der Generation derer gibt, die am ehesten einberufen würden. Trotzdem kommt mir da einiges schief vor. Häufig wird der individuelle Entscheidungsspielraum überschätzt, denke ich. Wenn das Faktische mit Panzern vor dem Hoftor steht, entwickelt es doch noch einmal eine ganz eigene Macht, und die wirkt nicht unbedingt in vorhersehbarer Weise. Egal, geschenkt.

Zu sagen, dass man nicht bereit sei, für irgendwelche abstrakten Ideen, einen ohnehin abgelehnten status quo gar, zu sterben oder zu töten, ist individuell eine völlig ehrenwerte und zu respektierende (im Sinne von: niemand sollte zu gegenteiligem Handeln gezwungen werden) Einstellung. Als politisch über die einzelne Person hinausweisende Idee, wird das aber ein bisschen dünn.

Ein Problem entsteht in meinem Verständnis nämlich, wenn organisierter Antimilitarismus oder Pazifismus so unterkomplex argumentiert, wie es leider immer wieder vorkommt. Waffen ganz allgemein, oder meinetwegen auch nur bestimmte Waffen abzulehnen ist ok. Nicht darüber nachzudenken (oder aktiv darüber zu schweigen) aber, welche Folgen so ein Programm hat, kommt mir entweder politisch naiv oder intellektuell unredlich vor.

Jede Handlung hat ihren Preis. Wie hoch er ist und wer ihn bezahlt, das sollte schon Teil der Überlegung sein. Das gilt selbstverständlich auch für die Frage danach, warum die Gewährleistung der Verteidigungsfähigkeit eines Landes sich automatisch in Kapitalgewinnen privater Anleger widerspiegeln muss und in letzter Konsequenz immer nur als Zwangsmaßnahme vorstellbar zu sein scheint.

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Vor einigen Tagen ein zufälliges Gespräch mit einer jungen Frau aus der Ukraine. Sie lebt und arbeitet in Kiew. Grad war sie auf Urlaub, eine Freundin besuchen, mal durchatmen. Sonst mache sie das gelegentlich bei der Familie ganz im Westen des Landes. Da sei die Lage etwas entspannter.

Eingeprägt hat sich mir die Schilderung ihrer Einkaufsroutine unter Angriffsbedingungen. Je nachdem, wie weit die in der Warnapp angezeigten russischen Drohnengeschwader noch von der Stadt entfernt sind, falle die Entscheidung für den eiligen Weg zum teureren Laden oder den etwas weiter entfernten für günstigere Besorgungen.

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Zur Aussetzung der Wehrpflicht (auch schon wieder fast 15 Jahre her, meine Güte…) hatte ich ein gewisses Unbehagen. Nicht, weil ich es den jungen Männern nicht gönnte, dass ihnen der Zwangsdienst erspart bleibt. Ich nehme diesem Staat das gestohlene Jahr bis heute übel. Auch nicht, weil ich eine irgendwie ausgereifte verteidigungspolitische Position gehabt hätte oder habe, die eine allgemeine Wehrpflicht erfordert. Oder überhaupt irgendeine verteidigungspolitische Position. Bin ja kein stellvertetender Bezirkskassier irgendeines SPD-Ortsverbands.

Nur die, die gerne in den Krieg ziehen wollen, die „Soldat“ für einen erstrebenswerten Beruf halten, denen traue ich bis heute nicht so recht über den Weg. Die alleine zu lassen mit den ganzen Knarren – nunja.

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„Das war wie gesagt Stalingrad … Die schlimmsten Tage des Krieges … Aber ich konnte trotzdem nicht töten. Einen Menschen einfach sterben lassen … Mein Brillantstück du … Man kann nicht ein Herz für den Hass haben und eins für die Liebe. Der Mensch hat nur ein Herz, und ich dachte immer daran, mein Herz zu bewahren.“ Tamara Stepanowna Umnjagina, Garde-Unteroffizier, Sanitätsinstrukteurin (aus S. Alexijewitsch, „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“)

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Tatsächlich würde ich gerne, zumindest solange es noch Armeen und Gewehre gibt, zuallererst die, die glaubwürdig nicht töten wollen, bewaffnen. Stärker sind sie sowieso, aber dann könnten sie auch einmal den andren zügiger die Rechnung präsentieren.

im Bild oben: Statue im sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow

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Wir sind alle nur menschlich

Nach Durchsicht alter Lesebühnentexte habe ich immerhin einen gefunden, der die wenig glorreiche Rostocker Jugend zum Thema hatte. Circa 2003 also, mit vielleicht zehn Jahren Abstand (plus die knapp 250 km zwischen Lichtenhagen und Friedrichshain), habe ich da auf ein paar Lacher kalkuliert. Warum auch nicht. Nachfolgend dokumentiert der Versuch, eine (in der Sache tatsächlich komplett wahre) eher traurige Geschichte bühnentauglich zu machen.

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Erich Honecker schaute mir auf den Teller. Erich Honecker. Mit seinen gütigen Augen, die Lippen umspielt von einem milden Lächeln, schaute er mir auf den Teller. Es gab Milchreis. Das war nichts besonderes, in der Schulspeisung gab es oft Milchreis. An der Essensausgabe stellten sie dir den Teller hin, du gingst zu deiner Hortgruppe und setztest dich. Auf dem Tisch standen zwei Schüsseln, in denen je ein Löffel steckte. Einmal Zimt, einmal Zucker.

Zucker sollten wir schön viel nehmen auf den Milchreis. Überall sollte man sparen, bloß nicht beim Zucker. Der kam aus Kuba. Davon mussten wir ganz viel essen, um den Weltmarktpreis zu stabilisieren und so dem kleinen Bruderland kameradschaftlich unter die Arme zu greifen. Obwohl Zucker ja gar nicht gut ist für die Zähne.

Das war immer ein munterer Schlagabtausch im Politbüro, wenn die Ökonomen mit den Verantwortlichen für die Volksgesundheit diskutierten:
„Unsere Menschen müssen mehr Zucker essen, um dem Klassenfeind die Zähne zu zeigen!“
„Der Genosse Ökonom meint wohl die von Karies zerfressenen Restposten in den fauligen Mäulern unserer Menschen?“
„Ah, da hört man doch gleich wieder den Zynismus des Genossen Volksgesundheitlers. Es mangelt ihm anscheinend an der Fähigkeit, die Prioritätensetzung der Partei zu erkennen.“
„Und dem Genossen fehlt es anscheinend an Respekt vor der großen Aufgabe, die Volksgesundheit zu gewährleisten.“
„Der Genosse hat wohl schon die Zeit seines Urlaubs in Sibirien vergessen?“

Jener Genosse schwieg daraufhin und so aßen wir jede Menge Zucker. Mit Erfolg, wie ich sagen darf, zehrt Fidel Castro doch noch immer von unserem damaligen Zuckerverbrauch. Und selbst noch das kapitalistische westdeutsche Gesundheitssystem haben wir mit unseren kranken Zähnen inzwischen an den Rand des Kollaps‘ gebracht.

Gütig lächelt Erich Honecker zu allem. obwohl er bestimmt nicht mehr in meiner alten Schulspeisung hängt, wie er es damals tat, als er noch darauf zu achten hatte, dass ich mein Essen nicht gegen Matchboxautos an Sören Wagner verschacherte. Sören war der unbegabte Sproß einer Stasi-Familie und hatte vor allem einen Hang zu Hunger und Fettleibigkeit geerbt. Eigentlich ein ganz netter Kerl, den ich im Rahmen einer Pionierpatenschaft betreute. Wir machten zusammen Hausaufgaben.

Zumindest daran, dass er den Wechsel von der fünften in die sechste Klasse schaffte, war ich mitschuldig. Sören hat mir das nie vergessen. Auch nicht als herausragender Nazischläger, der er später war. In der Betonburg, die mir den größten Teil meiner Kindheit und Jugend Heimat war, galt ich dann als sein persönliches Haustier und das kam so:

Eines gar nicht so schönen Tages, ich war gerade auf dem Weg zur elterlichen Wohnung, trat mir so ein Lümmel, samt seiner 12 (in Worten: zwölf) Kumpanen in den Weg und informierte mich, dass er gehört habe, es gebe hier noch einen Linken. Ich heuchelte Entsetzen und brabbelte irgendwas von wegen, dass das ja wohl nicht die Möglichkeit wäre, und wo der wohl herkäme, dieser Linke.

Mit einem reichen Erfahrungsschatz versehen, wusste ich natürlich, worauf das alles hinauslaufen würde. Und, wie konnte es anders sein, unterbrach mich der Wegelagerer unwirsch und meinte, dass er gehört habe, dass ich dieser Linke sein soll.

Tja, wie soll man sich da rauswinden, vor allem wenn dafür angesichts der ersten schon niedersausenden Schläge, gar keine Zeit bleibt. Weglaufen wird auch ungemein erschwert, wenn man erst einmal am Boden festgehalten wird. Nun, ich will gar nicht groß auf die Einzelheiten eingehen. Schon allein deshalb, weil ich mich noch am selben Tag kaum an irgendetwas erinnern konnte.

Die Sache hatte aber ein ungewöhnliches Nachspiel. Sören Wagner, zu der Zeit schon mit einem recht gefestigten Ruf als Anführer einer üblen Nazibande versehen, bekam von meiner Abreibung Wind und beschloss darauf hin, dass so etwas in seinem Revier aber nicht ginge. Er erkundete also, wer da über die Stränge geschlagen hatte und klärte den Rädelsführer auf gewissermaßen familiäre Weise über die informelle Ordnungsstruktur des Stadtteils auf.

Die Blutspur auf der Straße war noch Tage später zu sehen. Auch im Haus. Meinem Haus. Dahin schleifte der gute Sören sein Opfer, also meinen Täter, nämlich, um uns einander vorzustellen. Ich weiß nicht, für wen die Situation unangenehmer war. Also, rein körperlich natürlich für den anderen. Aber auch ich fühlte mich ein wenig gedemütigt, als Sören uns, na, ich sag mal: bat, einander die Hände zu geben.

„Und du, Tobias, du entschuldigst dich jetzt, danach reden wir weiter.“ Mit Panik in den Augen entschuldigte sich Tobias bei mir. Das wäre wahrscheinlich ein guter Moment gewesen, um Gnade für ihn zu bitten. Und manchmal denke ich, dass ich das im Interesse meines Seelenheils auch hätte tun sollen.

Aber was soll ich sagen – wir sind alle nur menschlich.

im Bild oben: Erich Honecker, wie er überlebensgroß in meiner Schulspeisung hing (Bild rechtefrei aus dem Bundesarchiv)

Smalltown Croatia

Keine Texte mehr, keine Threads. „Einfach nur eine unzusammenhängende Abfolge einzelner Seufzer, Schreie und Tobsuchtsanfälle.“ So ist es mir in einem frustrierten Moment die Tage rausgerutscht. Was soll man auch machen mit dem Trommelfeuer der schlechten Nachrichten. Schnell abgeschossene Meinungen gibt es im Dutzend an jeder Ecke und für eine ausgeruhte Motivationsrede habe ich schon vor zwei Wochen viel zu viel Kraft aufgewandt.

Tatsächlich bin ich deshalb nicht unglücklich, grad von den taz-Kolumnen eine kurze Auszeit nehmen zu können. Durchatmen. Dort kriegen die ihre Seiten auch ohne mich voll mit den ganzen Wahl- und Berlinale-Berichten. Und das Filmfestival kann ich auch an dieser Stelle hinzuziehen. Ich wohne ja in der Nähe.

„Zečji nasip“, ein kroatischer Jugendfilm hat es mir angetan. Die Geschichte ist jetzt nichts dramatisch neues. Eine Art „Smalltown Boy“, als Film halt. Die Exposition alleine macht in den ersten fünf Minuten völlig unmissverständlich klar, wo wir da sind. Diese furchtbare Männlichkeitsperformance der Dorfjugend muss gar nicht groß vertieft werden. Ein paar Andeutungen und das Gesamtbild kann vom Publikum problemlos vervollständigt werden. Wir leben ja alle auf dem selben Planeten. Zwischendurch fällt es sogar ein bisschen schwer, die Hauptfigur Marko, der wirklich sehr dringend dazugehören will, zu mögen. Aber allein schon seine zärtliche Zuneigung zum jüngeren behinderten Bruder Fićo gibt den Blick auf einen richtigen Menschen frei.

Und dann ist es eben eine Geschichte vom Drama des Andersseins in einer feindseligen Umwelt, von Eltern, die ihre Überforderung hinter grausamer Ablehnung verstecken usw usf. Alles ist sehr traurig – und sehr gut gespielt. Die Metaphern (Überschwemmung als wachsende Bedrohung, Armdrücken als durchschaubare Maske usw) sind fast ein bisschen zu abgegriffen. Aber an sich ist es auch diese Geschichte. Ich dachte beim schauen irgendwann, dass der Film gut in die 1990er gepasst hätte, als ich ungefähr so alt war, wie die Protagonisten hier.

Ich fühlte mich damals als einer Art Zwischengeneration zugehörig. Die letzte, noch verbunden mit der Zeit von Bronski Beat in der Vergangenheit und die erste, die schon Teil haben durfte an einer Art goldenen, freien Zukunft.

Gewiss, zwischendurch hatte ich gar nicht so selten das Gefühl, dass das Eis recht dünn war. All die Toleranz fühlte sich nicht so hundertprozentig gefestigt an. Dazu war die Gefahr zu nah. Ein wichtiger Autor zur Sache war zum Beispiel Gudmund Vindland („Sternschnuppen“, „Der Irrläufer“), der die schwule Emanzipation in „Chlorwegen“ in den 1970ern zum Thema hatte. Dieses ganze bigotte Pack das er da beschrieb war ja nicht weg. Dort nicht und hier nicht. Aber bald in der absoluten Minderheit. So war zumindest die Hoffnung.

Aber nein. Smalltown ist immer noch genau das. Davon handelt der Film.

Was mir sehr gut gefallen hat, ist, dass er dabei noch mit mehreren Klischees bricht. Es gibt ja immer wieder so pseudolinke Argumentationsketten, wo behauptet wird, dass der Blick auf irgendwelche skurrilen Minderheiten vom Klassenkampf und dergleichen ablenke. Als gäbe es keine queeren Arbeiter*innen oder Prekäre. „Zečji nasip“ kickt Haupt- und Nebenwidersprüche ganz beiläufig vom Tisch und zeigt den Preis, den alle zahlen für die Performance ihrer Normalität. Die ist nämlich so fragil, dass sie jeder Abweichung, Irritation oder Störung nur mit Hass und Entfernung aus der Gemeinschaft begegnen kann.

Dieses Beharren auf einem Naturzustand, den es mit allen Mitteln zu verteidigen gilt, ist billiges politisches Pulver, das derzeit fassweise verschossen wird. Das vernebelt einerseits tatsächlich die Sicht auf beispielsweise den Klassenkampf. Andererseits werden Menschen dabei getroffen. Schutzlos ausgeliefert. Und deshalb ist so ein Film wie „Zečji nasip“ leider kein Blick in die traurige Vergangenheit, sondern hochaktuell.

oben im Bild: Den Film würde ich mir auch ansehen. Wenn ich nicht schon drin leben tät.

Maßgeblich

Bald acht Jahre hab ich’s vor mir hergeschoben, jetzt dann doch endlich gelesen. „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ von Manja Präkels. Viel gepriesen und bepreist, völlig zu Recht selbstverständlich. Ich hatte ja auch nicht so lange gewartet, weil ich mit einem schlechten Buch gerechnet hätte. Zumal ich bis hierher alles von ihr mit größtem Gewinn gelesen hatte. Oder genauer: Für mich ist Manja Präkels die maßgebliche Stimme aus meiner Generation Ostdeutschland. Von niemand sonst fühle ich mich so genau gesehen, beschrieben und verstanden.

Was mir beim Lesen von Schnapskirschen noch deutlicher als bei den kürzeren Texten von Präkels auffällt, ist das entschiedene Beobachten. Die einfach gehaltenen Satzkonstruktionen, die verständliche Sprache ist meinem Eindruck nach nicht einfach nur zielgruppengerecht (Genre „Jugendroman“). Die Form hilft außerdem, der Versuchung zur Interpretation zu widerstehen. Vielleicht ist das auch das Problem, das ich mit so vielen Texten zu den sogenannten Baseballschlagerjahren habe. Dass sie schon seit Jahren immerzu einordnen, bewerten, herleiten usw, während das konkrete Geschehen und Erleben jener Zeit noch nicht einmal im Ansatz erzählt ist. Es wird immer eine Gemeinsamkeit der Erfahrung vorausgesetzt, ohne eine Verständigung darüber in Gang gesetzt zu haben, was eigentlich passiert ist.

Das mag vielleicht etwas seltsam klingen, aber tatsächlich fehlt es an allen Ecken und Enden an einer Dokumentation jener Zeit voller Gewalt und Angst. Die bekannten (und tatsächlich von so vielen schon wieder vergessenen) Bilder aus Lichtenhagen, Hoyerswerda usw haben „wir“ in der Regel auch nur im Fernsehen gesehen. Die gaben aber nicht die Alltäglichkeit der Bedrohung wieder. So wie Präkels es beschreibt: „Dann heulten alle. Für uns war nichts mehr drin. Sie waren überall. Und nun sogar im Fernsehen.“

Das was jeden Tag geschehen ist – oder jeden Tag geschehen konnte – davon gibt es keine spektakulären Fernsehbilder. Das wollten schon damals viele lieber nicht sehen. Nochmal Schnapskirschen:

„Sie haben Michael Müller zusammengeschlagen.“
„Schon wieder? Warum denn nur?“
„Ohne Grund.“
„Es gibt immer einen Grund.“
„Weil er lange Haare hat?“
„Das ist doch kein Grund.“
„Sag ich doch.“
„Jetzt hör aber auf!“
„Ich soll aufhören?“
„Na, ihr dürft nicht immer provozieren.“

Dieser Unglaube im Angesicht der rohen, im engeren Sinne „grundlosen“ Gewalt ist einer der wichtigen taktischen Vorteile der Faschos. Denn dieser Unglaube verlangsamt die dringend nötige Reaktion erheblich. Es ist dazu für jene, die die Gewalt erfahren, eine zusätzliche Demütigung, dass mindestens implizit ihr Erleben in Zweifel gezogen wird. Und das sogar noch, wenn die sichtbaren Spuren kaum zu leugnen sind.

Das Hinschauen zu lernen, die Wahrnehmung der Bedrohung zu schärfen, auch wenn die unmittelbare Betroffenheit noch nicht realisiert ist, dürfte angesichts der Konjunktur rechtsradikaler Menschenfeindlichkeit auf allen Ebenen, auch weiterhin sehr wichtig sein. Mit Manja Präkels lässt sich das im Blick auf die letzten gut 30 Jahre hervorragend einüben.

Apropos nicht realisierter unmittelbarer Betroffenheit sollte erwähnt werden, dass wer nichts sieht, trotzdem keineswegs entkommen wird: „Anfangs war es mir vorgekommen, als sei das Leben in der Kreisstadt trotz allem ein besseres. Langsam begriff ich, dass ich mich nur weniger auskannte und darum weniger sah.“ Wie gesagt, maßgebliche Stimme.

im Bild oben: Sonnenuntergang in Plötzensee.

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Lässig bleiben

In den letzten Monaten hab ich hier ja immer mal wieder ein paar Gedanken zu dem ganzen Lichtenhagen/Baseballschlägerjahre-Komplex, zu Erinnerung und Angst notiert. In der nachfolgenden Geschichte verlässt das ein bisschen die abstrakte Ebene und wird etwas konkreter. Das nur als Triggerwarnung vorneweg.

Die Plattenbauviertel des Rostocker Nordwestens liegen beidseitig der S-Bahntrasse aufgereiht wie Burgen, mit ihren Wällen und Türmen aus Beton. Von Süden geschaut zeigen sich links erst die Hochhäuser von Evershagen und Lütten-Klein. Danach kommt Lichtenhagen, bevor unattraktive Leere bis an den Badeort Warnemünde reicht. Rechts versetzt gegenüber liegen Schmarl und Groß-Klein. Die Haltepunkt der S-Bahn sind durchgängig auf links benannt. Das ist der früheren Fertigstellung jener Viertel geschuldet. Ortsfremde auf der Durchfahrt denken aber sowieso zumeist, dass das alles eins sei.

Die Straßen hier waren in den frühen 1990ern recht sicher. Im Vergleich mit Dierkow und Toitenwinkel jedenfalls. Die jüngsten Neubauviertel der DDR waren das, im Nordosten der Stadt gelegen, auf der anderen Seite der Warnow. Zumindest hielt sich westseitig hartnäckig das Gerücht, dass es da drüben besonders gefährlich sei. Aber vielleicht war das auch ein wenig so, dass die einen den Splitter im Auge der anderen lediglich eher als den Baseballschläger im eigenen bemerkten. Wer will das heute schon noch nachvollziehen.

Der Bewegungsradius war so oder so beschränkt. Lieber in der eigenen Gegend bleiben, wo die lokalen Schläger schon von Weitem ausgemacht und mögliche Fluchtwege bekannt und erprobt waren. Gelegenheiten, sich in unvertrauteren Betonburgen aufzuhalten, waren nie sonderlich willkommen. Besser die Hölle, die man kennt.

Nun kam es aber vor, nicht zuletzt nachdem dann endlich die Schultypen von POS auf westdeutsches Selektionspuzzle umgestellt waren, dass Bekannt- und Freundschaften sich bildeten über die engen Grenzen der geläufigen Hinterhöfe hinaus. Die Notwendigkeit einer gewissen Mobilität stellte sich ein. Öffentliche Verkehrsmittel waren dabei keine einladende Option: während der Fahrt abgeschlossene Räume ohne Ausgang. Das Fahrrad bot sich an. Das hier ist übrigens nicht die Geschichte, wie du auf dem alten Verbindungsweg wie ein Irrer in die Pedalen getreten bist. Kraftübertragung wie nie zuvor. Und wahrscheinlich nie danach. Du ahntest: Um dein Leben. Als ein paar Wochen später von einem berichtet wurde, der genau an der Stelle ins Koma … da wusstest du.

Hauptsache nicht Toitenwinkel.

Die jugendlichen Kosmopoliten aus unterschiedlichen Ortsteilen trafen sich gerne auf neutralem Boden. Neutral nicht wegen eines übertriebenen Lokalpatriotismus, sie wussten schließlich ganz gut voneinander, was sie jeweils für einen Mist vor der Tür hatten. Neutral eher im Sinne der Distanz zu allem gewohnten, mit dem Wunsch nach einer gewissen Normalität. Tourismus zum Beispiel konnte ein ganz gutes Grundrauschen anbieten, worin einzutauchen prekären Schutz bot. So spielten sie Billard in einer Spielhalle neben dem Kurhaus im Schatten des Hotel Neptun in Warnemünde. Das kam zwar etwas teurer, aber mit dem Fahrrad war ja schon mal das Geld für die S-Bahn gespart. Eine der Aufseherinnen mochte außerdem die drei Jungs und sagte auch nichts, wenn die bei Treffern die Kugeln an den Taschen festhielten und beiseite legten. So reichten die 5 Mark für nominell drei Matches doch länger, als bei ihrem schlechten Spiel ohnehin zu erwarten war.

Diese Geschichte spielt übrigens gar nicht in Warnemünde. Tut mir leid. Das tut mir wirklich sehr leid. Vielleicht hilft es dir ja zu wissen, dass kein Blut fließen wird. Es geht nämlich nicht um die Male, wo sie dich gekriegt haben. Und auch da, seien wir ehrlich, war es keine fernsehtaugliche Splatter-Show. Geschlagen zu werden ist ziemlich unspektakulär. Paar blaue Flecken, bisschen dicke Lippe, verletzter Stolz vielleicht. Vor allem verletzter Stolz.

Nein, diese Geschichte trägt sich in Groß-Klein zu. Das war nie deine Homezone, nicht wahr. Lütten-Klein, Schmarl, mit Abstrichen Lichtenhagen. Deine beiden Freunde aber kamen aus Groß-Klein.

Vielleicht hundert Meter vor möglichen Zielen, des einen oder anderen zu Hause, in Sichtweite des S-Bahn-Haltepunktes Lichtenhagen, steht da dieser leicht angetrunkene Fascho. Den beiden bekannt, dir nicht. Sie grüßen, er will reden. Sie lassen sich drauf ein. Die Hölle, die sie kennen. Die sie jeden Tag navigieren müssen. Was willst du machen? Stehst daneben, während deine Freunde mit dem Nazi plaudern. Man hat dich höflich nuschelnd vorgestellt. Handschlag.

Deine Begleiter gelten als unpolitisch. Das wärst du auch gern gewesen, aber seit du gleich 1990 mit Pali-Tuch durch Schmarl stolziert bist (jaja, nicht sehr klug, auf so vielen Ebenen), ist dieser Zug abgefahren. Dein Ruf als Zecke ist jedoch nicht bis Groß-Klein vorgedrungen. Anderes Viertel halt. Du lenkst schon wieder ab. Worüber plaudern sie denn, deine Freunde und der Nazi?

Es redet vor allem er. Erzählt, wie er kürzlich erst einen Schwulen verprügelt habe. Vielleicht mit anderen zusammen, du registrierst die Details in dem Moment nicht so genau. Aber machen wir uns nichts vor: Ganz sicher mit anderen zusammen. Er ist unzufrieden mit der Prügelei, da der Schwule sich gar nicht gewehrt habe. Und gegrinst habe der die ganze Zeit. Auch als er schon am Boden lag. „Ich hab dem immer wieder in die Fresse getreten und das Drecksgrinsen ging da nicht raus.“ Achte auf deine Körperhaltung. „Immer und immer wieder. Die schwule Sau hat nicht aufgehört zu grinsen.“ Lässig bleiben. Unbeteiligt.

Was du in den Augen von diesem Bekannten deiner Freunde siehst, ist übrigens Mordlust. Nicht mal Hass, einfach nur Spaß an der Sache. Du hast gar keine Zeit, das genau so zu benennen und zu verarbeiten, so sehr bist du mit deiner Angst beschäftigt. Denn du fühlst die Bedrohung durch ihn sehr deutlich. Immerhin eins hast du ihm aber voraus. Anders als er weißt du in dem Moment, dass er dich meint.

Er darf nur die Angst nicht bemerken. Niemand durfte die Angst je bemerken.

Als ihr, deine beiden Freunde und du danach weitergegangen seid, spracht ihr nicht darüber. Worüber auch? Das war ja ein ganz gewöhnlicher, nachbarschaftlicher Plausch, 1992 in Groß-Klein. Die Angst ist dann aber doch eine sehr lange Zeit bei dir geblieben. Tief drinnen vergraben; unter der Angst vor der Angst.

oben im Bild: war nicht alles schlecht in Rostock.

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