Lichtenhagen und ich – Episode IV

Im Moment krieg ich jede Geschichte auf Fascho gedreht. Das liegt nicht nur daran, dass die halt auch überall sind, wenn man genauer hinschaut. Nein was mich umtreibt, ist etwas anderes. Jahrzehntelang habe ich es vermieden, über Nazis im allgemeinen und die sogenannten Baseballschlägerjahre im besonderen zu schreiben. Hie und da eher widerwillig was kleines, aber nach Möglichkeit nix. Dieser Tage jedoch kann ich kaum einen Gedanken formulieren, in dem es nicht irgendwo rumhitlert. Also, what’s up?

Schon immer bin ich fasziniert von Menschen, die sich an alles mögliche aus ihrer, auch frühen, Kindheit erinnern. Die kennen sogar noch die vollen Namen ihrer Spielgefährt*innen im Kindergarten. Völlig unklar. Ich bekomme aus dem Vorschulalter bis auf ein-zwei Fetzen gar nichts zusammen. Aber auch aus späterer Kindheit/früher Jugend ragen nur extrem wenige Inseln aus einem Nebelmeer des Vergessens.

Die Kindheit in jenem unmöglichen Land zugebracht zu haben, verdunkelt ja sowieso einiges. Erinnerung an die DDR ist recht häufig Klischee und Langeweile. Das ist es vielleicht, was mich an Mehlis, Hauswald oder auch Klöppel zunehmend interessiert. Wie über deren Bilder doch noch einmal eine andere Geschichte erzählt wird, als die von Stasi, Spreewaldgurken und FKK.

Meine Geschichte sehe ich da noch nicht unbedingt, aber immerhin. Neben dieser ganzen abgeschmackten Super-Illu-Sentimentalität die das DDR-Bild der Leute, die ja selber dabei gewesen waren, zu dominieren scheinen, steht aber noch etwas anderes schier unüberwindlich in der Sicht, zumindest in meiner: das brennende Sonnenblumenhaus.

Jede Erzählung der DDR (und damit meiner Kindheit) aus heutiger Sicht funktioniert nur in Kenntnis ihres unrühmlichen Endes und ihrer Nachspielzeit, der Pogrome der frühen 1990er. Die ostdeutschen Baseballschläger sind narrativ (you gotta love your vocabulary) untrennbar verwoben mit den vierzig Jahren davor. Wie sollte es auch anders sein. Neben den Verbrechen jener Zeit und der Zerstörung so vieler Leben, nicht nur der Ermordeten, haben die Faschos so aber noch etwas kaputt gemacht, die Erzählung vom Leben selber nämlich.

Die Ungeheuerlichkeit des damaligen Geschehens, die beiden Guerickeschen Halbkugeln aus Schmerzen und Angst haben den ganzen anderen Erinnerungen auf Jahrzehnte den Sauerstoff geraubt, sie vollständig in ihrem dunklen Vakuum erstickt. Vielleicht bin ich den Raritäten der DDR-dissidenten Literatur ja auch deshalb ein paar Jahre lang so nachgejagt, weil ich Botschaften aus einer Welt lesen wollte, in der eine andere Zukunft vorstellbar war als die mit der verwesungssüßen „Wir-hattens-doch-so-schön“-Klebrigkeit auf der einen und den Prügelnazis auf derselben Seite. Irgendwas wo ich glücklich sein könnte. Irgendwas ohne Brandgeruch.

Das machen Nazis, ob real oder metaphorisch: alles immerzu in Brand setzen. Wie banal werden die gewöhnlichen Erlebnisse einer gewöhnlichen Jugend vor dem Hintergrund der ständigen Bedrohung. An die Namen der Schläger erinnere ich mich übrigens noch recht gut (und nicht nur ich, wie ich beim 30-jährigen Klassentreffen in vergangenem Sommer feststellen durfte). Die haben den evolutionär geschulten Panikbutton aktiviert. Das Gesicht der Gefahr war anscheinend die wichtigste Information und die hat schon damals alles verdrängt. Die Namen und Gesichter der Sitznachbar*innen im Grundschulalter zum Beispiel.

Lichtenhagen ist nicht der Schlüssel zu meiner Erinnerung, Lichtenhagen ist das in schweren Ketten liegende Schloss davor. Schreiben ist eventuell ein Schlüssel. Einer, dem ich mich lange verweigert habe, weil es nicht sonderlich schön ist, sich einzugestehen, dass das eigene Leben, Fühlen und Denken so massiv beeinflusst ist von denen. Bloß kein Opfer sein.

Es ist ja schon unter normalen Umständen ein immer wieder empörender Zustand, welche Impulse aus tiefster Vergangenheit in ein erwachsenes Dasein hineinwirken. Wie schwer es ist, das erstens zu sehen und sich zweitens davon zumindest in Teilen frei zu machen, ist bekannt. Millionen an irgendwelchen blöden Eltern abgearbeitete Therapiestunden senden Urlaubsgrüße aus der Hölle. Kindheitsmuster, Ödipus und was nicht alles, ok, heilen sie mich, Frau Doktor. Aber Faschos? Echt jetzt? Ich will nicht drüber reden.

… to be continued (ganz offensichtlich)

oben im Bild: Mecklenburger Allee 19 in Rostock-Lichtenhagen

Zeitreisen

Kein Vergeben, kein Vergessen? Jetzt sind es schon wieder zwei Jahre, seit ich das letzte Mal beruflich mit Lichtenhagen beschäftigt war. Die großen Aufschläge, Reden und Demonstrationen sind halt den runden Jubiläen vorbehalten. Alle fünf oder 10 Jahre wird gewogen und präsentiert. Dazwischen aber liegen die kleinen Stiche, die bewussten und unbewussten Verschiebungen der Einschätzung, die Änderung der Umstände, im besten Falle neue Erkenntnisse und Ideen, die in der Summe wieder neue Reden und Aufsätze ergeben.

Insofern sind die Ereignisse derer gedacht wird, nie vorbei. Sie werden durch die Beschäftigung Teil der jeweiligen Gegenwart, beeinflussen sie in die eine oder andere Richtung und verändern damit mögliche Zukünfte. Das täten sie aber auch dann, wenn man sich der Konfrontation verweigert. So hat das ganze Erinnern und Aufarbeiten bekanntermaßen noch einen weiteren Sinn: als Schlüssel zur vorgefundenen Gegenwart nämlich.

Es gibt diesen Satz bei Ursula K. Le Guin. In „The Dispossessed“ (eine Auswahl der deutschen Verleihtitel: „Planet der Habenichtse“, „Die Enteigneten“, „Freie Geister“) heißt es: „But when Shevek took her metaphor and recast it in his terms, explaining that, unless the past and the future were made part of the present by memory and intention, there was, in human terms, no road, nowhere to go, she nodded before he was half done.“*

Shevek, die Hauptfigur des Buches, beschäftigt sich mit einer Theorie der Zeit, die in der Geschichte des Hainish-Universums ein noch fehlendes Element hin zur Möglichkeit des Reisens in Überlichtgeschwindigkeit darstellt. Besonders wichtig ist dabei das Konzept der Simultaneity, der Gleichzeitigkeit (ungefähr). Le Guins Gedankenexperiment einer anarchistischen Gesellschaft erhält dadurch zusätzliche Tiefe in philosophischen (die missgünstigen Antagonisten Sheveks würden sagen: „esoterischen“) Betrachtungen zu Zeit, die wiederum auf den Sinn des Lebens und dessen Verlauf angewendet werden. Fragen von Schicksal und Selbstbestimmtheit, Ungewissheit und Kontrolle die sowieso immer wieder auftauchen im Hainish-Zyklus, werden ohne große Bemäntelung direkt verhandelt. Solche Science Fiction bedarf eventuell keiner weiterer Verschlüsselungen, vor allem dann nicht, wenn sie sich schon plausibel auf fremden Planeten bewegt und mit der Technologie zur Überbrückung des unendlichen Raumes zwischen den Welten befasst.

Dass die Gegenwart -jetzt- ist, erschließt sich dabei von selbst. Dass Vergangenheit und Zukunft aber gleichzeitig in dieser Gegenwart sind, als Bedingungen und Teil untrennbar mit ihr verbunden, ist eben keine esoterische Metaphorik, sondern von drängender politischer Aktualität. Das gilt für den Planeten der Habenichtse genauso wie für diesen. Antifaschismus ist die Verkörperung dieser Gedanken, da er wie kaum eine andere politische Idee, zwangsläufig Zeit transzendiert, sowohl in der Theorie, als auch in der Praxis. Antifaschismus ist der feste Punkt im Heute, an dem sich Vergangenheit und Zukunft als Warnung und Versprechen treffen.

Wer hingegen den Schlussstrich ziehen will, schneidet sich nicht nur von der Vergangenheit ab, sondern auch und vor allem vom Heute. Die Zukunft kann unter diesen Bedingungen nur als unabwendbare Apokalypse gedacht werden. Wenn du sagst: „Das ist doch alles lange her jetzt.“, weiß ich, wie unleugbar gegenwärtig es ist. Wenn du sagst: „Nach mir die Sintflut“, weiß ich, dass du längst ertrunken bist. Die Erinnerung, an die Verbrechen des Faschismus zum Beispiel, oder an Lichtenhagen, an Hanau, ist der Rettungsring. Wer den ausschlägt, stellt sich absichtlich auf die Seite derer, denen nie vergeben werden kann. Nicht gestern, nicht heute, nicht morgen.


*In der deutschen Übersetzung von Gisela Stege: „Als Shevek jedoch ihre Metapher nahm und sie ein wenig umformte, ihr erklärte, wenn man Vergangenheit und Zukunft nicht durch Erinnerung und Planung zum Bestandteil der Gegenwart mache, gebe es im menschlichen Sinne keinen Weg, kein Ziel, nickte sie, bevor er ausgesprochen hatte.“ [Ich würde „memory and intention“ an dieser Stelle statt mit „Erinnerung und Planung“ eher mit „Erinnerung und Absicht“ oder „Erinnerung und Streben“ übersetzen.]

oben im Bild: Das Dresdner Staatsschauspiel, ebenfalls mit einer Meditation über Zeit.

Was fehlt

Ach, ich wollte mich so aufregen. Über einen früheren Arbeitgeber. Die Gründe sind gut genug, der Anlass aber nicht. Denn drauf gekommen bin ich, weil ich dreimal in ebenso vielen Wochen nah dran war (mehr als in den letzten drei Jahren zusammengenommen). Zwei Abschiedsfeiern dort, eine Reunion dazu.

Denn was soll das. Ich vermisse Menschen von da und habe mich gefreut, sie wiederzusehen. Was kümmert es mich also Jahre nach meinem Weggang, dass der Laden so ein Scheiß ist? Tja, eben.

***

Der verdiente Zitatgeber des Volkes, Frédéric Valin, schrieb mal irgendwo, dass es ihm gut tue, die Publikationen für die er schreibe nicht mehr zu lesen.

Viel besser lässt sich die Irrelevanz diverser linker oder pseudolinker Organe nicht zusammenfassen. So eine Art professional Facebook: Man schreibt was rein, bekommt immerhin 12,50 Euro dafür, liest den andern Kram aber besser nicht, sind eh alles Idioten.

Warum also überhaupt noch publizieren? Die Faschisten werden nicht mit der spitzen Feder aufgehalten. Außerdem ist die Zeit zu kurz, mit den andern 12,50-Nichtsnutzen darüber zu diskutieren, ab wie viel Punkten auf der Adolfskala man sich auch handgreiflich wehren darf. Aber irgendjemand muss natürlich die „Art und Weise“ anprangern, in der Widerständigkeit sich findet. Lina soll also Nazis weh getan haben. Hmm, ich bin sehr entschieden gegen Gewalt und genau deshalb hat diese mir ansonsten gänzlich unbekannte junge Frau meine Solidarität.

[jetzt bloß nicht schwach werden, keinen Unsinn verlinken]

***

Das ist das Internet, das angeblich nichts vergisst. Ich finde die besten Texte nicht mehr. Nicht von Freund*innen, nicht von Bekannten, nicht von verschämt Verehrten. Nicht den über die Emos von M. (der sich verpisst hat), nicht das Stück übers sich selber Wegschreiben von B. (den ich fragen kann, ob ers noch irgendwo hat).

Ich hatte keine so rechte Vorstellung, was das alles soll mit diesem Netz, aber ich mochte das, wollte Teil davon sein. Das war anstrengend.

Es geht mir viel besser heute, weil ich weiß was fehlt. Die Suche wird deshalb nicht leichter.

Beschränkter Zugriff

Der Abstand zum Herkunftsort vergrößert sich von Jahr zu Jahr. Keine Ahnung wie lange es schon wieder her ist, dass ich das letzte Mal in Rostock war. Nun musste ich aber. Ein bisschen Recherche eben. Nicht großartig investigativ oder so, mehr Atmosphäre mitnehmen, Inspiration für ein Stück über Erinnerung finden (erschienen am 22.8. in der taz).

Auffällig war, wie wenig mich das alles berührt. Es ist mir ziemlich präsent, wie angespannt das noch vor 10 Jahren war, den alten Schulweg zu gehen, die Ecken zu sehen, wo ich meine unangenehmen Begegnungen mit den Faschos hatte. Und jetzt ist das recht gelassen, sogar das S-Bahn-Fahren. Auch wenn die Vergangenheit noch lange nicht vergangen ist, so hat sie doch keinen unbeschränkten Zugriff mehr auf mich. Das ist OK.

Blick auf ein Hochhaus, im Vordergrund eine gut einen Meter hohe weiße Stele, die beschmiert ist
Sonnenblumenhaus, Lichtenhagen, August 2022

Statt dessen verhaltenes Interesse („Ach, so sieht das jetzt hier aus“). Hinreichend Distanz ist das, um die Seltsamkeit der Veränderungen zu würdigen. Wie Straßen gänzlich anders verlaufen oder gleich komplett verschwunden sind. Das Gestrüpp zwischen Groß Klein und Schmarl, wo früher Wildschweine verkehrten, ist jetzt dieses ordentliche IGA-Gelände. „Jetzt“. Seit Ewigkeiten ist das da schon, aber noch länger war ich halt nicht hier gewesen. Immerhin, das Traditionsschiff liegt an seinem Platz.

Ich war mir nicht mehr sicher, in welcher Hausnummer wir in der Eutiner Straße nach dem Umzug nach Lichtenhagen gewohnt haben. Die Telefonzelle vor der Tür ist weg. Weg ist auch die Schule, die ich gut acht Jahre besucht habe. Ein Sportplatz ist da an ihrer Stelle.

Blick auf einen Sportplatz im Hintergrund Plattenbauten
Schulen zu Sportplätzen

An meiner Lieblingsstrandstelle aus Kindheit und Jugend ist der Sonnenuntergang weiterhin postkartentauglich. Premiumcontent für eine Premiumgeneration.

Sonnenuntergang am Meer