Einer von euch

Die Sonne war draußen heut. Ein bisschen mehr Licht, ein bisschen mehr Wärme – und ich dachte, dass das den Menschen doch eine Freude sein könnte, aber nein, dit is Berlin. Ein Haufen Aggressionen, die überall spürbar nach draußen drängen, sich Luft machen wollen. Gebrüll am Bahnhof, Gezeter im Park; man weiß nicht, was die Leute haben.

Immerhin muss ich das nicht alles hören, die Kopfhörer schirmen ab. Den Typen in der S-Bahn leider nicht sonderlich gut. „Maske runter, du Hurensohn“, brüllt er. Er meint nicht mich, sondern den Anderen im voll besetzten Wagon. Ein Bier in der Hand und auf diese Art wankend, von der man nicht weiß, ist es der Zug oder der Rausch, brüllt er nochmal lauter: „Maske runter, du Hurensohn, wir wollen dein Gesicht sehen.“ Anders als deine Hackfresse. Aber das denke ich nur.

Ein netter Nebeneffekt der Eigenverantwortung ist ja, dass es sich so leicht im Gesicht jener lesen lässt, die alle Masken haben fallen lassen. „Hurensohn“ ist ihnen peinlich. Zu Recht, zu Recht. Denn das ist einer von euch. Aggressiv-aggressiv halt. Nicht so wie ihr – aber irgendwie eben doch. Und das seht ihr in diesem kurzen Moment auch. Ihr seht euch selbst. Ihr seht euch, wie ihr mit einer Flasche Bier in der Hand, dabei so ganz subtil wankend, einfach auf andre scheißt und alle hasst, die euch durch ihre maskierte Existenz daran erinnern.

Eine Bildstörung, nichts weiter.

Viele Barrieren und eine Farce

Die Linuxtage an der TU Chemnitz also. Mit dankbarem hat tip an Silke Meyer, deren dringende Empfehlung für die Veranstaltung ich mindestens an informierte Laien wie mich nur weitergeben kann. Ein insgesamt sehr spannendes Programm, besonders toll auch, dass es Beiträge für praktisch jedes Level an Vorkenntnis gab, von extrem hochspezialisierten technischen Sachen, bis zu allgemeineren und allgemeinverständlichen Einführungen in grundlegende Themenfelder.

Besonders anregend fand ich den Strang zu Barrierefreiheit, dessen zwei Vorträge, „Bewusst barrierefrei“ (Irmhild Rogalla, Institut für digitale Teilhabe, HS Bremen) und „Digitale Barrierefreiheit: Basics“ (Lars Kiesow) ganz praktisch deutlich machen, welche Möglichkeiten und Notwendigkeiten auf dem Gebiet der Barrierefreiheit beachtet werden können und sollen. Gerade die Bezüge zu eigener Arbeitserfahrung machten jeweils sehr anschaulich, welche „Kleinigkeiten“ Welten verschließen oder öffnen können.

Bestätigt fand ich hier die Überlegung, dass Barrierefreiheit bei Software und Hardware (wie auch sonst) prinzipiell schon in der Entwicklung voranzustellen, ganz generell die Usability massiv erhöht. Schließlich sind Beeinträchtigungen in den seltensten Fällen ein klarer An-Aus-Schalter, sondern fließende Bereiche von Normabweichungen, die sich spätestens in höherem Alter in den Lebensalltag einschleichen. Und das üblicherweise zunehmend nachteilig. Die häufiger werdenden Beschwerden meiner Großmutter über schlecht instandgesetzte Fußwege sind mir eine deutliche Vorwarnung.

Dem Themenblock zuschlagen würde ich noch den im Track „Eisenbahn“ untergebrachten Beitrag zur Erfassung von Barrieredaten im ÖPNV (Robin Thomas, TU Chemnitz). Hier wird mE ein Beispiel produktiver Verbindung von Forschung und Open-Source-Community gezeigt, das aber auch prinzipielle Fehler im System sichtbar macht. Kurz gesagt geht es bei dem Projekt darum, dass die Nutzer*innen von Open Streetmap, einer populären Google-Maps-Alternative, Informationen über den Stand der Barrierefreiheit von ÖPNV-Haltestellen in die Datenbank einpflegen. Auf dieser Grundlage können mobilitätseingeschränkte Menschen zum Beispiel Routen zuverlässiger planen oder Menschen mit beeinträchtigter Sehfähigkeit vorab mehr über mögliche Hindernisse und deren Umgehung in Erfahrung bringen.

Das ist eine prima Idee, die mit hinreichender Beteiligung sicher eine willkommene Unterstützung ist im alltäglichen Ärger des Umgangs mit einer Welt, die dieses bescheuerte „normal“ zum Maß aller Dinge erhoben hat und auf den Rest keinen Gedanken verschwenden mag. Bedenkend aber, dass hier Daten gesammelt werden, die eigentlich der öffentlichen Hand bereits vorliegen müssten (schließlich gibt es gesetzliche Pflichten zu Barrierefreiheit, deren Einhaltung auch dokumentiert werden muss), ist ein wenig traurig.

Während ein Gesundheitsminister von allen Menschen einfach mal so sämtliche hochsensible Gesundheitsdaten zentralisiert sammeln, lagern und verarbeiten möchte (sry, aber die großspurige ePA-Ankündigung dieser Tage regt mich tierisch auf), schaffen die zuständigen Behörden in diesem Land es nicht einmal, die weit weniger sensiblen, dafür aber für viele Menschen sehr wichtigen Daten zum Ausbau eines barrierefreien Nahverkehrs zu sammeln und maschinenlesbar zur Verfügung zu stellen. Es ist alles so eine Farce. Der Datenschutz ist ja bekanntermaßen daran schuld, dass wir noch immer nicht in der Zukunft leben, für die Gegenwart aber will irgendwie niemand Verantwortung übernehmen. Naja.

Anyway, ich schau mir noch ein ein paar Talks zu anderen Themen an, die sind alle beim CCC-Streamdump abrufbar. (es geht immer so bei ca. 15-18 min los)

Im Bild oben: Buntes Chemnitz, Symbolbild.

Vor der Revolution

Die Berlinale ist aus familiären Gründen seit Jahren einerseits sehr präsent in meinem Leben, anderseits kann ich auch für dieses Festival meine völlig irrationale Abneigung gegen Kinos nur schwerlich überwinden. Der Besuch dreier Filme in diesem Jahr war somit ein neuer Rekord.

Zunächst „A Reinha Diaba“ (Forum Spezial), eine Art Gangsterklamotte aus dem Brasilien der Militärdiktatur. Wie der Film 1973 die Zensur passieren konnte, ist ein wenig unklar. Dass er seitdem zu so einer Art Kult geworden sein soll, ist aber sehr plausibel. In einer gut restaurierten Fassung fließt das Blut in Strömen, die Musik ist ganz ausgezeichnet. Das ganze kommt kurzweilig und spannend daher. Die dargestellten Geschlechterstereotype und auch das Bild homosexueller Männer würden so heute sicher anders präsentiert werden, als Zeugnis seiner Entstehungszeit ist der Film aber insgesamt recht gut gealtert.

Next up war „Prima della rivoluzione“ (Retrospektive) von Bernardo Bertolucci aus dem Jahr 1964. Auch hier sind die Geschlechterbilder erkennbar an ihre Zeit gebunden, ansonsten ist der Film aber ganz hinreißend. Ich habe ihn das erste Mal gesehen und fand die Darstellung des bürgerlichen Rebellen, der letztlich weder die Welt noch sich selber zu erkennen in der Lage ist und so ohne Ausweg an die Zeit „vor der Revolution“ gefesselt und nicht einmal zum privaten Glück in der Lage ist, sehr überzeugend.

Eigenartigerweise fanden für mich die Thesen Bertoluccis ein sicher so nicht gewolltes Echo im dritten Film, „Notes from Eremozene“ (Forum), dem aktuelle Film der slowakischen Kunstfilmerin Viera Čákanyová. Mal abgesehen davon, dass mir die Bildsprache mit ihren Verzerrungen und dem Spiel mit Auflösungen und Rastern nicht sonderlich innovativ zu sein scheint, find ich das ganze auch inhaltlich recht schwachbrüstig. Die Idee, dass der Mensch von sich selbst entfremdet, mit all der Technologie auch noch seine physische Lebensgrundlage zerstört, ist nun doch schon so einige Male recht qualifiziert vorgetragen worden. Da leistet der Film jetzt keinen sonderlich berauschenden Beitrag zur Debatte. Aneinandergereihte Buzzwords, illustriert mit dieser technoiden Optik und verrauschtem Sound; hmm. Was am Ende bleibt, ist eine nicht näher betrachtete Depression – nicht als Beschreibung eines Zustands, sondern als Botschaft. Von Kritik, von Revolution gar, ist da nicht viel zu spüren, auch wenn die rebellische Pose durchzuscheinen versucht.

[Mir wurde versichert, dass Čákanyovás Erstling „Frem“ deutlich spannender sei.]

Nächstes Jahr dann vielleicht vier Filme.

Im Wald

Nun ist es schon deutlich länger als ein Jahr her, dass ich meine bislang letzte Zigarette geraucht hab. Der positive Impact auf meine Gesundheit durch den Umstand, dass ich ungefähr genauso lange keiner Lohnarbeit mehr nachgehe, scheint mir aber deutlich höher zu sein, als die Nikotin- und Teerentwöhnung. Nun ist es gewiss keine neue Erkenntnis, dass Arbeit (zumindest unter gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen) krank machen kann. Etwas zu wissen und es selber zu spüren bekommen sind jedoch zwei gänzlich unterschiedliche Angelegenheiten. Das kann eins dann schon ziemlich ratlos zurücklassen.

So viel kann ich aber mit Sicherheit sagen: Im Wald ist es schöner als am Schreibtisch. Und ich meine das gar nicht auf so eine romantisierend-zivilisationsfeindliche Art. Ich mag meinen Schreibtisch durchaus. Es ist aber zweifellos angenehmer, ohne Zeitdruck, ohne Fremdbestimmung auf der Suche nach Pilzen durchs Unterholz zu kriechen. Angenehmer jedenfalls, als beispielsweise ein penetrant klingelndes Telefon oder dieses hässliche Geräusch, mit dem sich neuer Emaileingang die Ehre gibt.

Fliegenpilz auf einer Wiese

In den letzten Tagen gab es so eine Bewegung hin zum Fediverse, oder um genau zu sein, fast ausschließlich zu Mastodon. Auslöser ist der Twitterkauf von Musk. Es wird eigenartigerweise richtig gestritten über die Migration hin zum dezentralen, selbstverwalteten Raum. Vielleicht verständlicherweise. Twitter ist für viele schließlich professionelles Netzwerktool. Da möchte man keine Störungen oder Abwanderungsbewegungen haben, die jene mühevoll aufgebauten Followerstrukturen zerbröseln lassen.

Mir ist das scheißegal, merke ich. Als vorgestern auch noch Instagram abkackte und mich nicht mehr einloggen ließ, fühlte ich kurz so etwas wie Glückseligkeit. Kein Nudging mehr, keine Likechecks und der ganze Kram. Da muss man gar nicht moralisch in die eine oder andere Richtung argumentieren (man kann natürlich, aber auch dann spricht wirklich alles gegen Twitter und für Mastodon).

Frédéric Valin merkte in einem, haha, Facebook-Post an, dass er sich bei Mastodon wohl fühle. Das ist doch zunächst das einzige valide Argument, überhaupt irgendwo rumzuhängen. Im Wald, am Schreibtisch, in der Kneipe, im Netz. Der Rest ist Zwang, oder zumindest nicht immer angenehme Notwendigkeit: Lohnarbeit, Reproduktionsarbeit, Faschismus bekämpfen. Was man halt so machen muss.

Pilz auf einer Wiese, im Hintergrund herbstbunte Bäume

Beschränkter Zugriff

Der Abstand zum Herkunftsort vergrößert sich von Jahr zu Jahr. Keine Ahnung wie lange es schon wieder her ist, dass ich das letzte Mal in Rostock war. Nun musste ich aber. Ein bisschen Recherche eben. Nicht großartig investigativ oder so, mehr Atmosphäre mitnehmen, Inspiration für ein Stück über Erinnerung finden (erschienen am 22.8. in der taz).

Auffällig war, wie wenig mich das alles berührt. Es ist mir ziemlich präsent, wie angespannt das noch vor 10 Jahren war, den alten Schulweg zu gehen, die Ecken zu sehen, wo ich meine unangenehmen Begegnungen mit den Faschos hatte. Und jetzt ist das recht gelassen, sogar das S-Bahn-Fahren. Auch wenn die Vergangenheit noch lange nicht vergangen ist, so hat sie doch keinen unbeschränkten Zugriff mehr auf mich. Das ist OK.

Blick auf ein Hochhaus, im Vordergrund eine gut einen Meter hohe weiße Stele, die beschmiert ist
Sonnenblumenhaus, Lichtenhagen, August 2022

Statt dessen verhaltenes Interesse („Ach, so sieht das jetzt hier aus“). Hinreichend Distanz ist das, um die Seltsamkeit der Veränderungen zu würdigen. Wie Straßen gänzlich anders verlaufen oder gleich komplett verschwunden sind. Das Gestrüpp zwischen Groß Klein und Schmarl, wo früher Wildschweine verkehrten, ist jetzt dieses ordentliche IGA-Gelände. „Jetzt“. Seit Ewigkeiten ist das da schon, aber noch länger war ich halt nicht hier gewesen. Immerhin, das Traditionsschiff liegt an seinem Platz.

Ich war mir nicht mehr sicher, in welcher Hausnummer wir in der Eutiner Straße nach dem Umzug nach Lichtenhagen gewohnt haben. Die Telefonzelle vor der Tür ist weg. Weg ist auch die Schule, die ich gut acht Jahre besucht habe. Ein Sportplatz ist da an ihrer Stelle.

Blick auf einen Sportplatz im Hintergrund Plattenbauten
Schulen zu Sportplätzen

An meiner Lieblingsstrandstelle aus Kindheit und Jugend ist der Sonnenuntergang weiterhin postkartentauglich. Premiumcontent für eine Premiumgeneration.

Sonnenuntergang am Meer

Notiert, vor Langeweile bebend

Schreib, Junge, schreib. Messehallen voller Bücher, geschrieben von deinesgleichen. Alle erklären deine Herkunft, deine Zeit, deine Welt.

Statue einer weiblichen Figut, die sich in pathetischer Geste an den Kopf fasst
Ein Königreich für ein Aspirin

Die statistische Lebensmitte überschritten hast du schon ein Weilchen. Deine Generation ist am Drücker. Deine Generation ist wichtig. Vorbei die zwanzig ungehörten Jahre, in denen nur eine Handvoll Wunderkinder früh herausragten. Zwanzig Jahre, in denen die Alten, denen die Welt unterm Arsch weggerutscht war, sich noch fragend umsahen und dabei nichts mehr verstanden. Am wenigsten sich selber. Und uns überhaupt nicht.

Jetzt aber drücken wir alle andren weg. Die Eltern können sich kaum noch wehren. Mit letzter Tinte notieren sie den letzten Blödsinn. Wir lachen drüber, in verschworener Einigkeit mit den Jüngeren, die schon begierig auf das arrivierte Prekariat schauen. Auf uns. Na, Momentchen mal. WIR wischen jetzt mit Pizzabrot die uns hinterlassenen Töpfe aus. Später seid ihr dran. Geduld ist eine Tugend.

Schreib, Junge, schreib. Sonst fährt der Diskurszug ohne dich nach Shangrila.

Welche Ordnung?

Die Textproduktion kennt kein Ende. Grad in Kriegszeiten wird ständig geschrieben. Dafür, dagegen, darüber. Alles in größter Eile, gerne auch in Liveblogs und Tickern, dieser Pestbeulen des Nachrichtenjournalismus, wo regelmäßig Neuigkeiten präsentiert werden müssen, um das Publikum bei der Stange zu halten. Es lohnt sich, nicht nur zum Wohle der eigenen psychischen Gesundheit, sondern auch fürs Erkenntnisinteresse, durchzuatmen und einen Schritt zurückzutreten. Texte lassen sich dann finden, deren Thesen, Beobachtungen und Prognosen mitten im Krieg auch nach ein-zwei Tagen oder gar Wochen und Monaten noch Bestand haben, mindestens interessant, vielleicht sogar dramatisch augenöffnend und nicht einfach nur Buchstabenmüll sind.

Zunächst interessieren mich vor allem, im weitesten Sinne, linke Sichtweisen und Erklärungsansätze. Versuche, sich nicht zu verheddern in den verschiedenen Erzählsträngen der allseits eingesetzten Propaganda. Volodymyr Artiukh, ukrainischer Anthropologe, hilft beim Entwirren in einem Beitrag, der unter anderem bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht wurde. In Richtung der westlichen Linken weist er auf die analytische Schwäche des auf die Nato als einzig agierender Instanz gerichteten Blicks hin. „Daher frappiert mich die verkürzte Weise, in der ihr das dramatische Geschehen in unserem Erdteil öffentlich darstellt, das ihr lediglich als Antwort auf die Umtriebe eurer eigenen Regierungen und Wirtschaftseliten begreift. […] Um Russland herum erwächst eine Realität, die ihren eigenen Gesetzen folgt, eine zerstörerische Realität brutaler Unterdrückung, in der ein Atomkrieg nicht länger außerhalb des Denkbaren liegt.“

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Ein Text von Nelli Tügel befasst sich in der ak mit der nervig-naiven Fixierung einiger Linker auf Völkerrecht und Diplomatie als Allheilmittel (Auge, Gysi). In einem instruktiven Abriss historischer Entwicklungslinien seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird hier Rosa Luxemburg als Kronzeugin für eine politische Analyse und Handlungsfähigkeit jenseits imperialistisch geprägter Gepflogenheiten und Verträge ins Feld geführt. Find ich alles sehr informativ und unbedingt bedenkenswert.

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Was mir ansonsten oft fehlt, sind irgendwie plausible Einschätzungen, was überhaupt das strategische Interesse Putins/Russlands sein könnte. Die meisten Erkläransätze (wenn man sich die Mühe überhaupt macht) lassen sich salopp als „Der Typ ist durchgeknallt“ übersetzen. Das mag letztlich ja sogar stimmen, nur können wir uns dann jede weitere Diskussion sparen und besser eiligst schauen, ob wir nicht doch noch rechtzeitig die alten Atomschutzbunker reaktiviert kriegen.

Es will mir nicht in den Kopf, dass das Handeln einer Person, die sich so lange in so einer Position hält, und des sie tragenden Umfeldes nicht doch einer gewissen Rationalität folgt. Die sollen keine klare Vorstellung einer „win-Situation“ haben und zu Pragmatismus unfähig sein? Zwei Stücke, die sich der Frage aus entgegengesetzten Richtungen annähern und auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, sind bei der WOZ und The New Statesman zu lesen.

Während die russische Dichterin Maria Stepanova mit großer Empathie von der bedrohten, sich selbst behaupten müssenden Seite her spricht, denkt der portugiesische Politiker Bruno Maçães bereits im November letzten Jahres vom Zentrum der Macht her. Stepanova ist der Überzeugung, dass Putins strategisches Ziel die konkrete Unterwerfung der Peripherie unter seine heilsbringende Ordnung ist. Maçães hingegen kommt zu dem Ergebnis, dass Chaos das Ziel der ganzen Operation ist. Chaos zum Zwecke der Stabilisierung der eigenen Macht.

Auf der einen Seite also ein moralischer Kampf „Gut gegen Böse“ der auf ein definitives Finale zuläuft, auf der anderen ein pragmatischer zwischen „Chaos und Ordnung“, der quasi ununterbrochen fortgesetzt werden muss. Ich fände es gut, wenn es mehr Diskussionsbeiträge gäbe, die ebenso informiert und empathisch genau dieses Spannungsfeld beleuchten. Die aus solchen Gesprächen entstehenden Prognosen und Handlungsvorschläge ließen sich jedenfalls ernster nehmen, als diese ganzen Schnellschüsse der hyperventilierenden Liveticker-Westentaschenstrategen.